Die Geschichte vom gelben Stern
Somorja, 28. März 1944
Das Tönen des städtischen Ausrufers weckt mich. Bisher war ich von seinen Auftritten unendlich fasziniert. Immer stand ich in der ersten Reihe, wenn die Stadtbewohner sich bei seinem Trommelschlagen auf dem kleinen Hügel bei unserem Haus versammelten. Ich stand so nah wie möglich bei dem dicklichen Mann mit seiner grünen Uniform und Mütze, damit ich sein sonderbares Ritual genau beobachten konnte. Mit dem letzten Trommelschlag steckte er stets – in einer einzigen Bewegung – die Stöcke in seinen ledernen Schultergurt und zog dann ein Dokument hervor, während er gleichzeitig sein Gesicht zu einem Sprachinstrument verformte. Sein Mund bewegte sich auf eine Seite hin und öffnete sich rund wie eine Trompete, auf dass er seine Ansagen losschmettern konnte. Die Silben schossen aus ihm heraus wie Kugeln aus einer Pistole. Am Ende seines Vortrags verlief sich die Menge immer schnell, nur ich konnte einfach nicht anders als zusehen, wie er dann den ganzen Prozess rückwärts durchlief: sein Trompetenmund wieder zu einem aufgedunsenen Mondgesicht wurde, während er sein Papier unter den Gurt steckte, die Trommelstöcke herauszog und seine Trommel bearbeitete, dass es wie ein Sperrfeuer klang. Erst dann konnte ich zufrieden heimgehen.
Doch dieses Mal gehe ich nicht hin. Neuerdings bringt der Ausrufer schlechte Nachrichten für uns. Nachrichten, die viel zu demütigend sind, um sie im Beisein anderer Zuhörer zu empfangen. Ich öffne mein Fenster und lasse die Worte herein, gefiltert durch meine Musselinvorhänge.
»Leute hört! Leute hört! Wie um acht Uhr am heutigen Dienstag, dem achtundzwanzigsten Tag im Monat März, im ne unzehnhundertundvierundvierzigsten Jahr unseres Herrn Jesus Christus, bekanntgegeben wird, müssen alle Juden einen gelben Stern auf der linken Seite der Brust tragen. Der Stern muss aus kanariengelbem Material sein und sechs gleiche Zacken und acht Zentimeter Durchmesser haben. Jeder Jude – Mann, Frau oder Kind –, der auf der Straße ohne Stern gesehen wird, wird verhaftet! Desweiteren muss ein kanariengelber, sechszackiger Stern mit einem Meter Durchmesser auf die Außenwand links neben der Eingangstür jeden Hauses aufgemalt werden, in dem Juden wohnen. Wie um acht Uhr am heutigen Dienstag, dem achtundzwanzigsten Tag im Monat März, im neunzehnhundertundvieru ndvierzigsten Jahr unseres Herrn Jesus Christus, bekanntgegeben wird, werden die Bewohner jeden jüdischen Hauses, das nicht ordnungsgemäß mit dem soeben beschriebenen Stern gekennzeichnet ist, verhaftet! Diese Bekanntmachung tritt in Kraft …«
Ich schließe das Fenster. Mein Gott, was denn noch? Ein gelber Stern? Im nachmittäglichen Hebräisch-Unterricht habe ich schlimme Dinge gehört von Juden, die vor langer, langer Zeit, im Mittelalter, entwürdigende Zeichen auf ihren Kleidern tragen mussten. Das Judenabzeichen.
Dieser gelbe Stern ist nichts anderes als ein Judenabzeichen.
Ich weigere mich, das Haus zu verlassen. Mit dem Judenabzeichen wird man mich auf der Straße nicht antreffen. Unvorstellbar, dass man mich sieht mit diesem entsetzlichen, grauenhaften Ding. Ich würde sterben, wenn meine Schulkameradinnen mich damit sähen.
Mein Bruder macht sich einen verwegenen Spaß aus der ganzen Sache. Er tut so, als ob er einen Orden gekriegt hätte. Er schneidet einen Stern aus Pappe aus und überzieht ihn mit goldgelbem Seidenstoff. Das sieht wirklich aus wie ein goldener Militärorden. Er heftet ihn sich an die Brust und stolziert mit triumphierendem Lächeln herum.
Die Freunde meines Bruders werden neidisch auf diesen ›Orden‹. Schon bald tragen auch andere Jungen dekorative gelbe Sterne und tun so, als ob der Stern eine Auszeichnung wäre, und nicht eine Schande. Sie – und allen voran mein Bruder – betrachten ihn als ein Merkmal einer Besonderheit.
Mir war das unbegreiflich. Meinen hoch aufgeschossenen, gut aussehenden siebzehnjährigen Bruder zu sehen, wie er seinen ›Orden‹ spöttisch zur Schau trug, wie er heldenhaft versuchte, die Schmach in einen Triumph zu verwandeln, brachte mich nur zum Weinen. Es war ein sehr, sehr bitterer Scherz. In meinen Zorn mischte sich tiefe Trauer.
Fast eine Woche lang verlasse ich das Haus nicht. Mutter dringt in mich: »Elli, lass uns Gott danken, dass wir am Leben sind. Lass uns Gott danken, dass wir zusammen sind, in unserem eigenen Haus. Was ist schon ein gelber Stern an der Jacke? Weder bringt er uns um, noch bedeutet er, dass wir verdammt sind. Er ist harmlos. Er bedeutet nur, dass wir Juden sind. Das ist nichts, wofür man sich schämen muss. Wir sind damit nicht als Kriminelle gebrandmarkt. Nur eben als Juden. Bist du nicht stolz, eine Jüdin zu sein?«
Ich weiß nicht, ob ich stolz bin, eine Jüdin zu sein. Ich habe darüber noch nie nachgedacht. Aber ich möchte einfach nicht gekennzeichnet sein, weder als Jüdin, noch als irgendetwas anderes. Ich bin tief verletzt und empört darüber, dass man mich zwingt, ein grell leuchtendes Etikett zu tragen, ein Ding, das mich absondern und demütigen soll. Ein Krimineller oder ein Jude – wo ist da bei denen der Unterschied? Was macht das für einen Unterschied für mein Schamgefühl? So oder so erreichen sie, was sie wollen: dass ich kein menschliches Wesen mehr bin, sondern ausgemustert wie ein Gegenstand.
Für Vati scheint der Stern gar nicht zu existieren. Mami muss ihn immer daran erinnern, dass er seine Jacke mit dem Stern anzieht, wenn er das Haus verlässt. Man kann nicht einfach einen Stern an das Kleidungsstück heften, das man gerade anhat. Das Gesetz schreibt vor, dass ein Stern an jedem Gewand angenäht sein muss. Mit kleinen Stichen, um ganz genau zu sein. Mami löst das Problem, indem sie Sterne an verschiedene unserer Kleidungsstücke näht, die wir außer Haus anziehen, und wir dann unter diesen eines aussuchen, das wir draußen tragen.
Der kanariengelbe Stern mindert Vatis Eleganz keineswegs. Er war immer tadellos angezogen und hatte ein stolzes Auftreten, und sogar mit diesem Mal der Schande strahlt er immer noch eine gesetzte Würde aus. Sein nicht vorhandenes Bewusstsein für das degradierende Emblem irritiert mich. Wie kann er den Stern so vollständig ignorieren?
Die schneidend hohen Klänge der Litanei des Ausrufers überbringen eine neue Nachricht. Die Abschlusszeugnisse werden an den Schulen ausgegeben. Da aber keine der staatlichen Schulen wieder geöffnet wird, müssen alle Kinder – von den Erstklässlern bis zu den Abiturienten – persönlich in ihrer jeweiligen Schule erscheinen und ihre Urkunden, Diplome, Zertifikate abholen. Jeder Absolvent der Städtischen Mittelschule hat an diesem Vormittag um zehn Uhr persönlich in seinem ehemaligen Klassenzimmer zu erscheinen, um sein oder ihr Diplom zu erhalten.
Das bin ich! Das sind wir! Unsere Zeugnisse werden ausgegeben. Die ganze Klasse wird da sein. Es wird eine Art Abschlussfeier sein und ein Klassentreffen! Ich bin begeistert!
Dann fällt mir der Stern ein. Mein Herz rutscht in die Hose. Ich gehe zum Schrank, und da, an der blauen Frühjahrsjacke, links neben dem Reißverschluss, ist das entsetzliche Ding. Ich ziehe die Jacke an, und es wirkt nun sogar noch größer.
Was ist, wenn ich auf die Bande treffe, die mich bedroht hat und mir »Heil Hitler« ins Gesicht geschrien hat vor neun Tagen, als ganz plötzlich die Schule geschlossen wurde?
Noch schlimmer: Was ist, wenn ich Jansci Novák treffe? Was würde er zu mir sagen? Wäre es ihm peinlich, nun, da wir so offensichtlich verschieden sind?
Ich hänge die Jacke zurück in den Schrank.
»Feigling.«
Es ist mein Bruder.
»Bin ich nicht. Ich bin kein Feigling.«
»Was dann? Warum hast du das Haus seit fast einer Woche nicht verlassen? Und jetzt dein Zeugnis. Und sogar dein Abschlussdiplom. Ich weiß, was sie dir bedeuten. Aber du hast Angst, den Stern zu tragen. Ist das nicht Feigheit?«
Niemand nennt mich einen Feigling. Ich schnappe mir die Jacke und renne aus dem Haus, ohne mich von meinem Bruder zu verabschieden.
Draußen springt mir heller Sonnenschein ins Gesicht. Die Akazie vor unserem Haus steht im schönsten Grün, das ich jemals gesehen habe. Aber mein Entzücken über die Außenwelt wird komplett zerstört durch den Anblick des grellgelben Sterns neben der Eingangstür. Das klobige Zeichen ist größer und noch abschreckender, als ich es mir ausgemalt habe.
Schnell laufe ich los. Sobald ich das Schulhaus erreicht habe, ziehe ich die Jacke aus und trage sie mit der Innenseite nach außen gefaltet, um den Stern zu verbergen. Die Korridore sind leer. Die Ausgabe der Zeugnisse ist in jedem der Zimmer bereits im Gange.
In meinem Klassenzimmer spricht Frau Kertész zu uns Schülerinnen. Sie verabschiedet sich. Mit Tränen in den Augen wünscht sie uns...