»Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen«: Einführung
Die deutsche Revolution lag kaum ein Jahr zurück, da schrieb ihr Kurt Tucholsky 1919 schon eine Grabrede:
Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen,
behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein (…)
Wir dachten schon: Jetzt gilts den Offizieren!
Wir dachten schon: Hier wird nun ernst gemacht.
Wir dachten schon: Man wird sich nicht genieren,
… das Feuer brennt einmal … es ist entfacht …
Wir dachten schon: Nun kommt der Eisenbesen …
Doch weicht der Deutsche sich die Hosen ein.
Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen,
behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein![1]
Behüt dich Gott: Tucholskys Text aus der Weltbühne rührt noch heute an, ein Jahrhundert später. Eine tiefe Trauer spricht daraus, Trauer um eine verlorene Möglichkeit, um eine einmalige, verpasste Chance. Dabei hatte die Revolution zu diesem Zeitpunkt eigentlich Gewaltiges erreicht: den Sturz des Kaiserreichs und seiner gestrigen Ordnung, eine Nationalversammlung, welche die erste deutsche Demokratie aus der Taufe hob; ein modernes Wahlrecht, die fortschrittlichste Verfassung und die tiefgreifendsten Sozialgesetze, die es in Deutschland je gab. Und doch. Der Schriftsteller spürte mit wachem Geist, wie labil diese neue Demokratie sein würde, wie mächtig die alten Gewalten noch waren. Wir dachten schon, es galt den Offizieren? Aber sie waren immer noch da, ebenso wie die Juristen und Verwaltungsbeamten des alten Obrigkeitsstaates, die Industrieführer und rechten Zeitungszaren und die vielen anderen, die der jungen Republik von Beginn an nach dem Leben trachteten. Nur wenige Jahre später, 1933, war die deutsche Freiheit tot.
»Was auf Weimar folgte, war so schrecklich, daß wir das Scheitern der ersten Republik zu den großen Katastrophen der Weltgeschichte rechnen müssen«, schrieb der Berliner Historiker Heinrich August Winkler 1991 in seinem glänzenden Buch Weimar 1918 – 1933. Geschichte der ersten deutschen Demokratie, und wer sich mit diesem Scheitern befasse, leiste »damit notwendigerweise immer auch Trauerarbeit«.[2] Die Revolution von 1918, die nach Weimar führte, blieb unvollendet, widersprüchlich, zwiespältig. Sie fegte das wilhelminische Kaiserreich beiseite, ließ seine Institutionen aber bestehen; sie stützte sich in ihren Anfängen auf Hunderttausende bewaffnete Soldaten und fand schon zwei Monate später kaum noch Freiwillige, welche die Regierung bewachen mochten; sie begann mit der Verheißung einer neuen Ära und Ordnung und endete mit den Massakern, verübt von rechtsradikalen Freikorps, in einem jahrelangen, zähen, immer wieder aufflackernden Bürgerkrieg.
Der Anfang der deutschen Republik liegt im Schatten ihres Untergangs. Inkonsequenz, Zögern und Schwäche scheinen für viele das Kennzeichen der Revolution wie der aus ihr hervorgegangenen Demokratie zu sein; und so hat diese Revolution vergleichsweise wenig Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, außer Momentaufnahmen wie der Ausrufung der deutschen Republik durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann am 9. November 1918 und das grässliche Ende der linken Revolutionäre Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wenige Wochen später.
In anderen demokratischen Staaten wäre der Sturz der alten Throne der Stoff, aus dem die Mythen der eigenen Gründungsgeschichte gewebt werden: Männer und Frauen, die sich der Ungerechtigkeit entgegenstellen, ihr Leben riskieren, um eine bessere Welt zu schaffen. Der Sturm auf die Bastille und die Französische Revolution 1789 sind ein Beispiel dafür, so wie der Unabhängigkeitskrieg der USA 1775 bis 1783, der Aufstand Simon Bolivars gegen die spanischen Kolonialherren in Südamerika ab 1810; der Sieg der Nordstaaten gegen die Sklavenhalter im amerikanischen Bürgerkrieg 1861 bis 1865. In der Überlieferung leben diese Geschehnisse fort, Denkmäler erinnern an sie; und selbst wer sich für Details der Geschichte wenig interessiert, kann mit den Namen der Helden von damals etwas anfangen und versteht, wofür sie standen und was sie mit der eigenen Gegenwart verbindet.
Aber es gibt keine vergleichbare Erzählung über den erstaunlichen Triumph der ersten Novembertage 1918, als die Freiheit plötzlich zu siegen schien in Deutschland. Bestenfalls erzeugt der Name des linken Sozialdemokraten und Kriegsgegners Hugo Haase, eine der ehrenhaftesten Gestalten des Umsturzes vom November 1918, noch ein fernes Echo. Kaum jemand erinnert sich noch an Richard Müller, der 1918 die Galionsfigur der revolutionären Industriearbeiter war; als 2008 eine erste Biografie, von Ralf Hoffrogge, über Richard Müller erschien, diesen »Sisyphos der Revolution«, schrieb der Extremismusforscher Wolfgang Wippermann voll Grimm im Vorwort: »Was ist das für ein Volk, das seine Revolutionäre nicht kennt!«[3]
Eigentlich ist die deutsche Geschichte an Freiheitsbewegungen nicht arm: Da sind die aufständischen Bauern 1525, die Kämpfe der Städte gegen feudale Mächte, die Erhebungen gegen Napoleon in den Freiheitskriegen, die Göttinger Sieben als Gegner erstickender Repression nach 1815; da ist der Hessische Landbote von 1834 mit seiner berühmten Parole »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« Und da ist natürlich die große Revolution von 1848 mit dem Rufen nach Einheit und Freiheit. Und als ihre letzte Bastion, die Festung Rastatt in Baden, gefallen war und ihre Kämpfer von Preußens Exekutionskommandos füsiliert oder auf der Flucht waren, da dichtete Ludwig Pfau das Badische Wiegenlied:
Schlaf, mein Kind, schlaf leis,
dort draußen geht der Preuß!
Der Preuß hat eine blutige Hand,
die streckt er übers badische Land,
und alle müssen wir stille sein,
so wie dein Vater unterm Stein.
…
Schlaf, mein Kind, schlaf leis,
dort draußen geht der Preuß!
Gott aber weiß, wie lang er geht,
bis dass die Freiheit aufersteht,
und wo dein Vater liegt, mein Schatz,
da hat noch mancher Preuße Platz!
Von da an freilich beginnt eine Entwicklung, die oft als der deutsche Sonderweg bezeichnet wird: Der Vater, der da unterm Stein liegt, Opfer preußischer Kugeln, hat im Zweifel für die nationale Einheit in Freiheit gekämpft. Doch die Freiheit erstand leider nicht mehr auf, und die Einheit der deutschen Lande war von nun an ein obrigkeitsstaatliches Projekt, das sich mit der Reichsgründung von 1871 vollzog. Die Revolution von 1918 war die historische Chance, diesen Webfehler des Deutschen Reiches zu korrigieren. Einmal, aber nur dieses eine Mal und in einem sich schnell schließenden Zeitfenster weniger Wochen, bot sich die Gelegenheit, die Geschichte zu wenden und zu vollenden, was die Barrikadenkämpfer von 1848 nicht vollbracht hatten: den Sturz des Obrigkeitsstaates, des Militarismus, des eifernden Nationalismus, die Errichtung der deutschen Demokratie. Sie wurde nicht stark genug, um nicht auch zu scheitern, so wie alle Versuche zuvor, die deutsche Freiheit zu erkämpfen. Deswegen sind die deutschen Freiheitsbewegungen noch heute ein Stiefkind der Geschichtswissenschaft und Publizistik, auch wenn sich das langsam ändert.
Die Hoffnungen und Möglichkeiten der deutschen Revolution 1918/19 sind Thema dieses Buchs, und damit naturgemäß auch die Gründe, warum die Hoffnungen enttäuscht und die Möglichkeiten verpasst wurden, eine stärkere Republik zu schaffen als jene von Weimar. Im Mittelpunkt stehen die entscheidenden Wochen zwischen dem 9. November 1918 und den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919, diesem Scheinsieg der Demokratie, es endet mit dem Untergang der zweiten Münchner Räterepublik im Mai 1919, dem utopischsten Experiment dieser Revolution. Was danach kommt, ist keine Revolution mehr, sondern ein langer, sich noch über Jahre ziehender Bürgerkrieg.
Es ist dies, vor allem, ein Buch über Soldaten – Soldaten, die sich für die Freiheit erheben, ihren Offizieren die Degen wegreißen und Schluss machen wollen mit der Herrschaft der Generäle. Es will daher versuchen, dem Leser diese Männer, ihre Lebenswege, ihre Motive und ihr Handeln, intensiver vor Augen zu führen, als das bisher in einer Gesamtdarstellung der Fall war. Und über ihre Gegenspieler, eben die hohen Offiziere, die Oberste Heeresleitung und mehr und mehr auch die revolutionäre Regierung der Volksbeauftragten selbst. Dominiert von der SPD, die damals MSPD hieß, verbündete sich diese von Friedrich Ebert geführte Regierung ausgerechnet mit dem alten Militär. Die Radikalisierung der Revolution bis zu den »Weihnachtskämpfen« um das Berliner Stadtschloss 1918 ist vor allem eine Folge des Bündnisses der MSPD mit den Generälen, ihren Erzfeinden von gestern, das aus Angst vor den Linksradikalen geschmiedet wurde; doch war diese Angst größer als die tatsächliche Bedrohung.
Das Buch versteht sich in aller Bescheidenheit als Beitrag zur Ehrenrettung der Revolutionäre und will diese daher genauer in Augenschein nehmen, etwa die »Volksmarinedivision«, die zum Schutz der Regierung gegründet wurde und auf die diese Regierung dann am Heiligabend mit schwerer Artillerie schießen ließ. Einer ihrer Unterhändler brachte seine Verwirrung darüber auf den Punkt, als er Regierungschef Friedrich Ebert, den Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, schlicht fragte: »Warum sind wir betrogen?«
Diese Revolutionäre waren überwiegend die eigenen Leute der Sozialdemokratie, sie hatten...