Vorwort
Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist nicht eine Geschichte von vor vierzig Jahren, sondern eine Geschichte von vierzig Jahren: Erst im Laufe dieser Zeit stellte sich heraus, was 1977 tatsächlich passierte. Die juristische Aufarbeitung des komplexen Tatgeschehens beschäftigt seit vier Jahrzehnten die Justiz. Allein zwischen 2012 und dem Abschluss des Manuskripts im August 2016 liefen ein Dutzend Ermittlungs- und Gerichtsverfahren wegen des RAF-Geschehens 1977 – das letzte Gerichtsverfahren ist noch immer nicht abgeschlossen (28. und 91. Kapitel).
Aber warum gerade jetzt ein Werk über dieses große deutsche Thema »1977«? Ausgerechnet jetzt? Weil die Quellenlage noch nie so gut war wie heute – und sie in der Zukunft nicht besser sein wird, falls nicht alle Anzeichen trügen. Also der optimale Zeitpunkt für eine Betrachtung des komplexen Geschehens.
Zehn Jahre nach der »Offensive 77« lag vieles noch völlig im Dunkeln. Beispielsweise, wer zu dem Kommando gehörte, das die vier Begleiter von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer in Köln erschoss. So ging das Oberlandesgericht Stuttgart 1985 in seinem für das RAF-Jahr 1977 grundlegenden Urteil gegen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar davon aus, dass es sich um »mindestens fünf ›RAF‹-Mitglieder« gehandelt hätte, »darunter möglicherweise eine Frau«. Heute wissen wir, dass es vier Attentäter waren – und wie sie heißen (79. Kapitel). Ähnliches gilt für den Mord an Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto. Das Oberlandesgericht Stuttgart urteilte 1985, dass dem Entführungskommando Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt, Willy Peter Stoll und ein weiteres, namentlich unbekanntes, männliches RAF-Mitglied angehörten. Heute wissen wir, dass es insgesamt fünf Täter waren, Christian Klar und Peter-Jürgen Boock gehörten dazu, ebenso, was die RAF im Einzelnen mit Ponto vorhatte und warum die »Türöffnerin« Susanne Albrecht für die gesamte RAF anschließend zu einem erheblichen Sicherheitsrisiko wurde (45.–47. Kapitel).
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Zwanzig Jahre später, 1997, waren Erkenntnisse über das Terrorjahr schon wesentlich konturreicher: Fast alle RAF-Aussteiger, die 1990 in der DDR gefasst worden waren, hatten umfassend ausgepackt – vor Augen einen erheblichen Strafrabatt durch die Kronzeugenregelung. Erst ein Jahr zuvor war sie in Kraft getreten. Und schließlich bestätigte erst im Dezember 2000 das Bundesverfassungsgericht die Schlüsselentscheidung zu der Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut« vom Oberlandesgericht Frankfurt aus dem Jahr 1998. Die Entführung der Boeing mit Mallorca-Urlaubern durch ein Palästinenserkommando, beauftragt von der RAF, brachte den dramatischen Höhepunkt des Deutschen Herbstes. Einundzwanzig Jahre nach der Tat bereiteten die Frankfurter Richter in einem 220-Seiten-Urteil den Sachverhalt akribisch auf.
Dreißig Jahre nach 1977, 2007, fehlte noch immer eine präzise Ausleuchtung der »Vorgeschichte« der »Offensive 77«. Die lieferte 2012 das Oberlandesgericht Stuttgart; 2013 bestätigte der Bundesgerichtshof die Entscheidung: Die Vorgeschichte des Blutjahrs 1977 beginnt Anfang 1976 am Rande der jemenitischen Wüste, zwei Autostunden von Aden entfernt, in einem früheren britischen Militärcamp. Die filigrane Betrachtung der Kausalitäten reicht weiter: Sie ergibt, dass die Dinge ihren Lauf exakt zwei Tage vor Ende der Lorenz-Entführung in Berlin 1975 nahmen: An diesem Montag ließ die Bundesregierung den Untersuchungshäftling Verena Becker in den Südjemen ausfliegen: Dort bildete sie einige Monate später mit Baaders Ex-Anwalt Siegfried Haag den Nukleus der Gruppe, die die »Offensive 77« konzipierte – fünftausend Kilometer von Deutschland entfernt (16. Kapitel).
Der Betrachtungszeitpunkt für das Gesamtgeschehen ist jetzt aber auch deswegen ideal, weil es mittlerweile nicht mehr sehr wahrscheinlich ist, dass die Bundesanwaltschaft wegen 1977 noch ein neues Ermittlungsverfahren einleitet. Hinzu kommt, dass die Dreißig-Jahres-Verschlussfrist der Archivgesetze verstrichen ist. So sind nun auch Akten zugänglich, die nach 1977 zu dem Geschehen seinerzeit gefertigt wurden. Beispielsweise aus einem jahrelangen Rechtsstreit zwischen RAF-Anwalt Klaus Croissant und dem Land Baden-Württemberg, nachdem 1977 Lauschangriffe in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim bekannt geworden waren. So lässt sich nun – pars pro toto – im Hauptstaatsarchiv Stuttgart anhand der freigegebenen Akten des Landeskriminalamtes, des Innen- und Justizministeriums in Baden-Württemberg nachvollziehen, in welchem Umfang Häftlinge in Stammheim abgehört wurden (37. Kapitel).
Auch tendiert mittlerweile die Wahrscheinlichkeit gegen null, dass durch menschliche Quellen die derzeitige Erkenntnislage noch nennenswert verbessert wird. Für die einstigen RAF-Mitglieder gilt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach wie vor das Motto: »Von uns keine Aussagen« (25. Kapitel). Viele der Akteure des Jahres 1977 sind mittlerweile verstorben. So Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, BKA-Abteilungsleiter Gerhard Boeden, Herold-Berater Willy Terstiege und der RAF-Analytiker Alfred Klaus – mit allen führte ich Interviews in den 80er-, teilweise 90er-Jahren. Und dass das menschliche Gedächtnis nicht dafür geschaffen wurde, Einzelheiten über mehr als drei Jahrzehnte verlässlich zu speichern, zeigten Ermittlungs- und Gerichtsverfahren ebenso wie Interviews in jüngerer Zeit (29. Kapitel).
Sehr erhellend für das Gesamtbild der Konfrontation RAF–Bundesrepublik sind natürlich auch wissenschaftliche Aufarbeitungen aus den vergangenen Jahren. Beispielsweise die 62 primär monothematischen Analysen in dem 1400-Seiten-Monumentalwerk Die RAF und der linke Terrorismus, herausgegeben vom Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar 2006. Ein Meilenstein, der exemplarisch zeigt, welche Konsequenzen das Handeln eines RAF-Täters für die Familie des Opfers und auch seine eigene Familie hat, ist der 2011 veröffentlichte Dialog zwischen Julia Albrecht, der Schwester der Ponto-Mörderin Susanne Albrecht, und der Ponto-Tochter Corinna. Patentöchter – ein nachdenklich machender Gedankenaustausch, der zeigt, dass auch die Familien von RAF-Mördern zu den Opfern der RAF gehören können (50. Kapitel).
Wenn man das Jahr 1977 heute Revue passieren lässt, erscheint als – nur eine Facette – verrückt an ihm: Fortlaufend passierten Dinge, die kaum jemand für möglich gehalten hatte und deren Dimension schlicht das Vorstellungsvermögen der Bundesbürger damals sprengte. Am Gründonnerstag erschoss ein RAF-Kommando Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei Begleiter, als sie in seinem Dienst-Mercedes vor einer roten Ampel in Karlsruhe warteten. Ende Juli führt Susanne Albrecht, Tochter aus hanseatisch-großbürgerlichem Elternhaus, dem Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto die beiden RAF-Köpfe Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar in seine Villa in Oberursel. Weil Ponto nicht bereit ist, sich entführen zu lassen, erschießen sie ihn. Im August versucht die RAF mit einer Stalinorgel das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Schutt und Asche zu legen. Und dann beginnt der Deutsche Herbst, Anfang September: Ein RAF-Mordkommando erschießt in Köln drei Leibwächter und den Fahrer von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und verschleppt ihn. Die größte Polizeiaktion der Bundesrepublik läuft an. Aber der Arbeitgeberpräsident bleibt verschwunden. Vierundvierzig Tage lang. Um den Druck auf die Bonner Regierung zu erhöhen, entführen Palästinenser das Flugzeug mit den Mallorca-Touristen. In Mogadischu befreit die GSG 9 die Geiseln zehn Minuten nach Mitternacht. Am Morgen sind die drei RAF-Köpfe im Hochsicherheitstrakt in Stammheim tot: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Unfassbar für die Republik, weil für diese Häftlinge, so hatten es Politiker verkündet, seit über sechs Wochen eine absolute Kontaktsperre bestand. Die RAF ermordet Schleyer. Seine Leiche steckt eingepfercht im Kofferraum eines Audi 100 im Elsass.
Insgesamt orten die Strafverfolger 20 Akteure des Deutschen Herbstes. Am Jahresende 1977 ist nur ein einziger von ihnen gefasst – nicht von der deutschen Polizei, sondern von ihren Kollegen in den Niederlanden. Die RAF, die die Republik in Furcht und Schrecken versetzte, ist wie vom Erdboden verschwunden. Nicht zu fassen! Die Republik ist sprachlos.
Die Auseinandersetzung RAF – Bundesrepublik 1977 ist eine komplexe Geschichte – mit den Komponenten »revolutionäres« Bewusstsein gekreuzt mit krimineller Energie auf hohem Niveau sowie extremer Brutalität auf der einen Seite, und auf der anderen: Schockstarre, kriminalistische Strategien und staatspolitische Räson. Entscheidend geht es um die Machtfrage. Die RAF hatte sie gestellt, weil sie glaubte, dass es ihr gelingen wird, dem Staat elf ihrer Mitglieder aus den Gefängnissen abzupressen.
Woher stammt all das, was Sie auf den nächsten 561 Seiten lesen werden? Grundlage sind Gespräche mit Zeitzeugen und Dokumente – Gerichtsurteile, Erklärungen von RAF-Mitgliedern und Aussteigern, Vernehmungsprotokolle, polizeiliche Ermittlungsberichte, Anklageschriften, Erklärungen in Prozessen von Angeklagten und Zeugen. Aber auch Informationen von RAF-Mitgliedern gehören dazu, die nicht bekannt werden sollten, wie von der Polizei entdeckte Kassiber oder von ihr mitgeschnittene Telefonate. Erkenntnisquellen sind schließlich auch Publikationen, wie beispielsweise Interviews mit ehemaligen RAF-Mitgliedern im Spiegel, Stern, in der ARD oder im ZDF.
Nicht als Erkenntnisquelle zur Verfügung standen mir Gespräche mit...