DER ANFANG
Weihnachten 2012. Wir blickten auf in den sternenklaren Himmel über uns. Hingegossen auf Milliarden Lichtpunkten zog sich das strahlende Band der Milchstraße bis über den Horizont, so schön, wie wir es selten vorher gesehen hatten. Die Sterne schienen zum Greifen nah. Unser Heiliger Abend war so eine Nacht, in der angeblich Wünsche wahr werden, mit vielen kleinen Sternschnuppen. So lautlos das Weltall, so klein wir Menschen. Für einen Moment erfasste uns eine tiefe, feierliche Stille. Wir saßen andächtig da und dachten an die Menschen, die wir lieben. Zu Hause würden sie jetzt für die Bescherung die Kerzen auf dem Weihnachtsbaum anzünden. Vielleicht würde Schnee fallen und alles in Weiß hüllen. Hier war es 40 Grad warm und sanfte Wellen umspülten unsere Füße am Strand. Wir waren siebentausend Kilometer weit weg von unseren Lieben, von zu Hause und von Weihnachten. Wir sind Weltreisende und waren seit über drei Monaten unterwegs auf der Suche nach den Orten unserer Sehnsucht. Eine Familie mit zwei Kindern. Wir fühlten uns nicht einsam. Wir waren nicht allein. Wir hatten uns. Wir, die Familie Lilienthal: Lars, Svenja und unsere Kinder Noah und Marlon. Wir fassten uns an den Händen und sangen »Stille Nacht, heilige Nacht«. 7000 Fernweh-Kilometer von zu Hause. Am Strand von Agonda, in Goa, West-Indien. Für diesen einen Moment, so dachten wir, sind wir bei uns angekommen (siehe Fotoblog).
»Jede Reise über tausend Meilen beginnt mit einem ersten Schritt.« Den ersten Schritt nach vorne in ein neues Leben taten wir drei Jahre zuvor. Es war der Entschluss, unser Leben einer Zäsur zu unterwerfen. Wir haben das getan, wovon viele Menschen träumen und was nur die wenigsten tun. Anfang 2009 beschlossen wir, eine Weltreise zu planen, alles stehen und liegen zu lassen, und zwar für ein ganzes Jahr. Wir haben unsere Wohnung untervermietet, unsere Firma zugesperrt, alles Überflüssige gekündigt, verkauft und verschenkt, haben lediglich unsere Siebensachen gepackt und sind von Leverkusen aus nach Indien und danach rund um die Welt gereist. Wir haben das Weite gesucht – um der Enge zu entfliehen. Nicht alleine, sondern mit unseren Söhnen Noah und Marlon. Die beiden sind damals acht und fünf Jahre alt und waren noch nie so weit und noch nie so lange weg von zu Hause. Ein ganzes Jahr lang, ganze zwölf Monate haben wir die schönsten Landschaften der Erde durchstreift. Waren unterwegs zu uns selbst. Wir haben unvergessliche Momente erhofft und wir wurden nicht enttäuscht. Wir haben so vieles erlebt, dass nicht einmal dieses Buch ausreicht, um alles aufzuzählen. Dieses Buch soll daher kein Reisebericht sein. Uns geht es um Grundsätzliches, um ein Lebensgefühl, das sich aus vielen kleinen Momenten und Begegnungen zusammensetzt – nicht aus Reisezielen, Postkartentourismus mit Sehenswürdigkeiten. Wir hatten gemerkt, dass wir anders leben wollen, nicht mehr im gleichen Alltagstrott stoisch weitertaumeln wie die zehn Jahre davor. Wir brauchten Veränderung, um wieder Luft zu holen und herauszufinden, wo wir angekommen sind im Leben und was wir noch vom Leben erwarten. Unsere Weltreise war keine Flucht, sondern ein ganz bewusst gesetzter Schritt. Eine Zäsur. Ein tiefer Schnitt mit allen bisherigen Gewohnheiten. Wir wollten wiederentdecken, was wir verloren glaubten, seit wir jung waren, und wir wollten unseren Kindern zeigen, was das war – und wo wir es zum ersten Mal empfunden haben, das unbändige Gefühl der Freiheit: auf einer Weltreise. Somit war diese Reise geplant als Reise zurück zu uns selbst – oder zu dem, was wir noch wiederfinden würden aus unserer Zeit der Jugend, dem Verliebtsein auf unserer Hochzeitsreise, die uns damals drei Monate nach Indien geführt hatte. Eine Reise zurück zu einem Lebensabschnitt, in dem wir uns so ungleich mehr lebendig gefühlt haben als in unserem Alltag in Leverkusen – dieses Geschenk anzunehmen, auszuleben und weiterzureichen. An unsere Kinder.
Was uns angetrieben hat, war unsere Sehnsucht, die irgendwann so stark wurde, dass wir gehandelt haben. Jeder Mensch sehnt sich nach einem unvergesslichen Moment, der seinem Leben Bedeutung gibt. Man will ihn packen, festhalten und nie mehr loslassen. Was würde man nicht alles tun, wenn man die Möglichkeit bekäme, ein ganzes Jahr lang nicht nur einen, sondern viele unvergessliche Momente zu sammeln, die einen so durchdringen, dass ein unmittelbares, starkes Lebensgefühl daraus wird? Wir haben das mehrfach in unserem Leben erfahren. Und meist war das auf unseren Reisen. Wir möchten möglichst vielen Menschen sagen: Diese unvergesslichen Augenblicke sind dort draußen. Ihr müsst nur los und beginnen, sie aufzusammeln. Holt sie euch!
Wir haben uns an einem Punkt in unserem Leben, als sich nichts mehr weiterzuentwickeln schien, entschlossen noch einmal auf die Reise gemacht, dieses Gefühl zu suchen. An einem Punkt, wo wir uns entscheiden mussten, uns dem Alltag zu ergeben oder noch einmal alles zu wagen und völlig neu anzufangen. Wir können noch nicht sicher sagen, ob das gelungen ist, der Neuanfang. Dafür ist es wenige Monate nach unserer Rückkehr noch zu früh. Aber wir haben die Gewissheit, dass wir alles wiedergefunden haben, was wir von unserer Weltreise ersehnt, erbeten und erträumt hatten. Wir haben so viel geschenkt bekommen in diesen zwölf Monaten, dass wir etwas davon weitergeben und teilen wollen mit anderen Menschen, die heute vielleicht in derselben Situation stehen wie wir damals.
Die stärkste und tiefste Weisheit einer Weltreise, die wir weiterschenken möchten, ist die Einsicht, dass die Reise an sich gar nicht so sehr das Bedeutungsvollste ist – sondern zunächst allein der Entschluss, sie zu tun, und dieses Ziel mit Spannung und Vorfreude konsequent umzusetzen. Im Entschluss liegt die Magie – denn er bedeutet, dass man sich trennt und alles abstreift, was einen blockiert und zu veröden droht. Es geht darum, diesen Schritt zu tun, sich nicht von allem Bequemen und Gewohnten ablenken zu lassen. Jede Reise über tausend Meilen beginnt daher mit dem Entschluss – den ersten Schritt zu tun. Ein guter Freund von uns äußerte mal den Verdacht, bei uns käme es gar nicht darauf an, dass wir tatsächlich losfahren – es würde völlig reichen, wenn wir jedes Jahr eine neue Reise planten und mit dem Finger auf der Landkarte abreisen würden. Da ist viel Gutes dran – aber so ganz und gar wichtig die Planung auch sein mag: die Reise ersetzt sie nicht. Denn mit der Reise kommt man vom Träumen in der Wirklichkeit an. Der Entschluss, es wirklich zu tun, ist der magische Moment, der das Leben aus der eingefahrenen Bahn wirft und neue Möglichkeiten aufzeigt. Unterwegssein geht nicht ohne den Mut zum Aufbruch. Den Mut zum Aufbruch nimmt man aus dem Willen zur Veränderung. Wer sich verändert, hat auch Kraft, sich Neuem zu stellen. Leben ist Bewegung und daraus folgt Veränderung, so wie bei einem Fluss, der von der Quelle bis zur Mündung fließt, an breiten Stellen langsamer wird, sowie an Stromschnellen und Wasserfällen vorbeirauscht, die Umgebung immer neu, teilweise ausgedörrt und bei Regen überschwemmt. Das Gegenteil ist ein unbeweglicher Stein, der regungslos verharrt, auch über Jahre sein Aussehen kaum verändert und wie eine Mumie konserviert ist. Der Entschluss zur Reise und sie dann auch zu tun, ist Bewegung und Leben pur.
Weil wir auf dieser Reise so unzählige traumhafte und überwältigende Augenblicke erlebt haben, wollen wir einige unserer Überlegungen festhalten, nicht nur in Gedanken oder in Fotorahmen, sondern geschrieben und auf Papier. Ein anderes Motiv für dieses Buch war, dass wir festgestellt haben, dass diese Momente noch schöner werden, wenn wir sie teilen. Untereinander als Familie, mit unseren Freunden und Verwandten und letztlich mit jedem, der sie hören möchte.
Wir spürten, dass wir Antworten gefunden hatten auf die Fragen, die uns wie viele andere junge Familien mit Kindern vor der Abreise bedrängt haben. Lustigerweise kommt die banalste dieser Fragen – weil sie vermutlich die naheliegendste ist – auch heute, Monate nach unserer Rückkehr, immer zuerst: »Wie kommt ihr bloß auf diese Idee, mit zwei Kindern (und davon auch noch ein schulpflichtiges Kind) um die Welt zu reisen? Ist das nicht zu gefährlich und zusätzlich anstrengend, wenn man Kinder dabei hat?« Die Antwort ist ganz einfach: wir sind nicht trotz der Kinder gefahren – sondern wegen unserer Kinder, weil wir eine Familie sind. Unsere beiden Söhne Noah und Marlon waren sogar der Hauptbeweggrund, diese Reise mit Kindern zu wagen. Weil wir ihnen etwas schenken und mitgeben wollten, was in unserem eigenen Leben große Bedeutung erlangt hat: das Gefühl der Freiheit.
Wir wollten eine Auszeit für unsere Familie. Zeit für unsere Kinder. Wir waren damals, 2009, als der Entschluss für unsere Weltreise fiel, an einem Punkt in unserem Leben angekommen, wo wir beide das Gefühl hatten, dass wir innehalten sollten, um wieder Luft zu bekommen. Durchzuatmen und auf die Wegstrecke zurückzublicken, die wir während der vergangenen neun Jahre seit unserer Hochzeit in einem rasenden Tempo durchgesprintet waren.
Wir fragten uns, wie die vergangenen Jahre so schnell vergangen waren. Was machte das Leben aus? Was würde noch vor uns liegen? Oder würde unser Leben wie bisher in diesem Tempo einfach wie steuerungslos weiterlaufen und sang- und klanglos zu Ende gehen? Würden wir uns am Ende unserer Tage, vorwerfen müssen, dass wir es versäumt hätten, innezuhalten und uns zu fragen, ob wir wirklich das Richtige anfangen, mit dem Geschenk »Leben«? Ob wir verantwortungsvoll damit umgegangen sind oder es einfach nur verprasst, sinnlos »verlebt« und...