EINLEITUNG ODER:
EIN AMERIKANER IN KARTHAGO
Es war eine Zeit, als unendlich viele Völker der Menschen über die Erde sich hin und her bewegten.
(Kypria Frg. 1)
In Karthago lebte einst ein geheimnisvoller Fremder, der sich für verborgene Schriften interessierte. Er stamme – so seine Geschichte – von einem riesigen Festland jenseits des Atlantiks. Viele Menschen lebten dort, an einer großen Bucht siedelten Griechen, die Herakles über das Wasser geführt hatte. Zwischen dem Festland und Spanien gebe es vier Inseln, unter ihnen Ogygia, das Eiland der Nymphe Kalypso. Zu ihnen könnten nur Ruderschiffe gelangen, weil das Meer sehr träge sei. Eine Insel sei heilig, von mildem Klima und voller Wohlgerüche. Denn auf ihr schlafe der Gott Kronos in einer Höhle aus goldenem Gestein. Alle 30 Jahre entsenden die Griechen des großen Westlandes eine Opfergesandtschaft, die nach 30 Jahren durch eine neue abgelöst werde. Der Fremde – so schließt die Erzählung – habe selbst zu einer solchen Gesandtschaft gehört, sei aber nicht auf das Festland zurückgekehrt, sondern habe »vieler Menschen Länder durchreist«, bis er sich in Karthago niederließ auf der Suche nach Weisheit und Wissen.
»A strange story«, würde der Engländer sagen. Für antike Hörer war sie gar nicht abwegig. Geheimnisvolle Inseln, ferne Kontinente und Seefahrer, welche die Weiten des Ozeans überwinden auf der Suche nach Abenteuern und Weisheit – das waren beliebte Themen selbst der seriösesten Gelehrten. Zu ihnen gehörte Plutarch, der die Geschichte im 1. Jahrhundert n. Chr. aufzeichnete.1 Doch was hat es auf sich mit den Inseln im Atlantik und dem Land im fernen Westen? Ist es Amerika, wie der große Astronom Johannes Kepler und andere glaubten? Und wenn der Fremde von dort stammte und Griechen auf ihm lebten, kann man daraus schließen, dass die Antike 1500 Jahre vor Kolumbus von Amerika wusste? Oder ist alles nur Seemannsgarn, von dem die Welt des Mittelmeers so unendlich viel gesponnen hat.
Niemand weiß bis heute eine befriedigende Antwort. Doch eines ist sicher: Plutarch verfasste seine Geschichte in einer Zeit, als die geographische Weltkenntnis der Antike auf ihrem Höhepunkt stand und sich von dem Wissen der Westeuropäer vor den Fahrten des Kolumbus nur unwesentlich unterschied: Binnen eines Jahrtausends hatten Griechen und Römer ihren geographischen Horizont bis nach Java und zum Chinesischen Meer im Osten, zum Ural und in die sibirischen Steppen im Norden, in das innere Afrika bis zum Niger und Tschadsee, im Nordwesten nach Skandinavien und wahrscheinlich Island ausgedehnt.
Nur wenige zweifelten an der Kugelgestalt der Erde, und so gehörte auch die Möglichkeit einer Fahrt von Spanien über den Atlantik nach Indien, ja sogar die Annahme unbekannter Kontinente im Okeanos für die Intellektuellen und geographisch Interessierten zum Allgemeingut. Dieses Buch möchte erklären, wie es dazu kam, was die Alten dazu trieb, die Grenzen des Vertrauten zu durchbrechen, wie weit sie kamen und welche Konsequenzen die stete Erweiterung des Welthorizontes für die Entwicklung von Politik, Gesellschaft und Kultur hatte.
Warum es eine solche, die gesamte Antike umfassende Darstellung bisher nicht gibt – das letzte Werk aus dem Jahre 1963 ist konzeptionell veraltet,2 neuere Arbeiten konzentrieren sich auf bestimmte Epochen, Zielgebiete und Einzelunternehmungen3 –, hat mehrere Gründe. Antike Entdeckungsgeschichte war und ist aufgrund der schwierigen Quellenlage – wir haben keinen einzigen vollständig erhaltenen Expeditionsbericht im Original – und ihrer Deutungsvielfalt ein delikates Arbeitsfeld. Gewagte Thesen stehen neben Hyperkritik, die jedem Rekonstruktionsversuch den Boden entzieht. Hinzu kommt die Magie spektakulärer Themen wie Atlantis, Thule oder die Hyperboreer, die nicht nur versierte »Außenseiter« anziehen, sondern Tummelplatz esoterischer Phantasten sind, kurzum: Der antiken Entdeckungsgeschichte haftet immer ein wenig der Geruch des Unseriösen an. Das mag wohl ein Grund dafür sein, warum sie die zünftigen Heroen der Althistorie lange Zeit ignorierten. Sie suchten das Wesen der Antike durch die Analyse ihrer kulturellen, politischen, rechtlichen, militärischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu ergründen und konzentrierten sich meist auf klassische Akteure wie Sparta, Athen und Rom im Zentrum der mediterranen Welt. Wohl richtete sich der Blick auch auf deren »Ränder«, doch in der Regel nur dann, wenn es sich um militärische Großereignisse wie die Perserkriege, den Alexanderzug, die Punischen Kriege oder das Ausgreifen Roms in die europäischen Binnenräume handelte. Diese Vorgänge wurden auch in ihrer entdeckungsgeschichtlichen Dimension gewürdigt, doch hieraus ein zentrales Arbeitsfeld zu entwickeln, kam den wenigsten Gelehrten in den Sinn.
So blieb die antike Entdeckungsgeschichte lange ein Randthema, das hierzulande nur von einigen prominenten Einzelforschern bearbeitet wurde, wie Richard Hennig, Albrecht Dihle oder Dieter Timpe. Hennigs Arbeiten sind jedoch vielfach veraltet, Dihles und Timpes Studien widmen sich bestimmten Räumen (Osten bzw. Nordeuropa) und Spezialproblemen (vornehmlich der Ethnographie). Dagegen standen und stehen Gelehrte aus Ländern mit einer eigenen langen entdeckungsgeschichtlichen Tradition (wie Spanien oder England) dem Thema offener gegenüber, doch auch hier überwiegt die Spezialforschung zu territorialen und maritimen Großräumen (Indischer Ozean, Nordsee etc). Einen neuen Impuls brachte die mit dem Zerfall des Sowjetimperiums und dem Internetzeitalter einsetzende Globalisierung. Die von ihr angestoßenen »turns« der Geschichtswissenschaft suchten sich von alten Begrenzungen zu lösen, ringen aber bis heute um das methodische Profil einer modernen Welt- und Globalgeschichte. Auch die Antike wurde in diesen Trend eingefügt; manche sprachen von Globalisierungsvorgängen, die um 3000 v. Chr. einsetzten;4 im Zuge des »spatial turn« entdeckte man die antike Geographie wieder als Untersuchungsobjekt, dem sich inzwischen eine Reihe jüngerer Gelehrter widmet,5 und auch die Ethnographie, lange ein Orchideenfach spezialisierter Philologen, gewinnt international an Interesse.6 Gut erschlossen ist ebenfalls die disparate Quellenlage. An Kommentaren und Fragmentsammlungen mangelt es nicht.7
Allerdings ist es bis heute nicht gelungen, klare methodische und inhaltliche Kriterien zu entwickeln, mit denen man all diese Initiativen in ein Gesamtbild antiker Entdeckungen einfließen lassen und deren welthistorische Bedeutung bestimmen könnte, obwohl die Analyse der Anfänge historischer Globalisierungs- und Vernetzungsvorgänge eine Fülle von Erkenntnissen verspricht. Antike Fernexpeditionen waren Voraussetzungen transregionaler Kulturkontakte, kolonialer Siedlungsbewegungen, militärischer und machtpolitischer Expansion sowie wirtschaftlicher Verflechtungen. »Heiße« Phasen der Öffnung wechselten ab mit Perioden des Innehaltens, der Selbstvergewisserung, der Sammlung und Neujustierung von Kräften, die dann wieder der Ferne entgegenstrebten.
All das führte regelmäßig zu einer Neubewertung (»reevaluation«) der Welt, indem man Vertrautes an Neuem maß und Unbekanntes dem Bekannten einfügte. Dieser Prozess schlug sich in einer pulsierenden literarischen Produktion auf verschiedenen Gebieten nieder.8 Exploration und Expansion dynamisierten das Denken und setzten Erkenntnisschübe im Bereich geographischer, ethnographischer und philosophischer Weltkenntnis in Gang, die zu den klassischen Traditionskernen europäischer Wissenskultur gehören. Doch bis heute fehlt eine moderne Synthese, die Fernerkundungen über einen längeren Zeitraum nicht isoliert und für sich genommen würdigt, sondern in den Gesamtzusammenhang der antiken Geschichte einordnet. Das Buch wagt den Versuch einer integrierten Entdeckungsgeschichte: einer Gesamtdarstellung von Expansion und Fernerkundung im Rahmen der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen.
Um die Komplexität der Vorgänge zu verstehen, bedarf es tragfähiger Analysemodelle. Man benötigt ein Grundmuster von Faktoren, das den Weg weist durch die verwirrende Vielfalt raumgreifender Mobilität und erklärt, warum manche Gesellschaften die Grenzen des Vertrauten hinter sich ließen und andere nicht, weshalb sie das in bestimmten Zeiten und von bestimmten Orten aus häufiger...