Vorwort
Die Debatte über die Fakten ist in vollem Gange. Zu Recht empört man sich über die Lügen und die Verbreitung von Fake News oder »Alternative Facts«, deren sich der Populismus bedient, indem er Wirklichkeiten erfindet, für die es keine Belege gibt. Der vorliegende Essay wendet sich entschieden gegen dieses aufkeimende schwache Denken. Er ist ein flammendes Plädoyer für das Projekt der Aufklärung, welches das mythische Denken ablöste und für Tatsachenprüfung und Vernunftgebrauch sowie wertschätzenden Dialog warb. Dadurch wurden in der Menschheitsgeschichte behauptete Geltungsansprüche hinterfragbar, und auch gesellschaftliche Macht wurde endlich vernünftig regelbar, indem ihre Legitimation an konsensfähige Kriterien und universale Maßstäbe des Argumentierens und Interessenausgleichs rückgebunden wurde – eine Praxis, die sich noch keineswegs überall durchgesetzt hat und der ständigen Bedrohung durch autoritäre Führung (nicht bloß im Ausland) ausgesetzt bleibt.
Die Bezugnahme auf evidente Gegebenheiten wurde durch das Projekt der Aufklärung in den Fragen zum verbindlichen Charakteristikum vernünftiger Einigung, zu denen unstrittige Fakten ermittelbar und verfügbar sind. Freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit und die Freiheit von Forschung und Lehre sowie die Demokratie garantieren seitdem die Diskurs- und Resonanzräume, in denen über die Evidenz der Fakten gestritten werden kann – getragen von dem Glauben an die Überzeugungskraft des besser belegten Arguments.
Nun wissen wir, dass solche harten und unausweichlichen Fakten keineswegs zu allen relevanten Themen und Zukunftsfragen unserer Gesellschaft mit der gleichen Überzeugungskraft des Augenscheines und der nüchternen Beurteilung zu haben sind. So sind die Wahrheiten der deskriptiven Statistik (z. B. zu Lebenserwartung, Einwohnerzahl etc.) meist unmittelbarer verpflichtend, während kausale Wirkungszusammenhänge sich wesentlich schwieriger evidenzbasiert eindeutig bestimmen lassen. Während wir uns z. B. kaum darüber streiten, wie viele Schüler in europäischen Universitäten ihr Studium frühzeitig abbrechen, konfrontiert uns die Frage, weshalb sie dies tun, mit einer schier unüberschaubaren Vielzahl von unterschiedlichen Variablen, die nur schwer zu faktenähnlichen Befunden verdichtet werden können. Liegt dieser Studienabbruch an der Fremdheit des akademischen Milieus im Unterschied zu den im jeweiligen Herkunftsmilieu der Studierenden verbreiteten Einstellungen, Selbsteinschätzungen und Haltungen? Oder hat er etwas mit der finanziellen Situation dieser Studierenden oder gar mit ihrem unterentwickelten Selbstwirksamkeitsvertrauen zu tun? Oder intervenieren beim Studienabbruch gar Variablen, die wir noch überhaupt nicht in den Blick gerückt haben und die vielleicht von skandinavischen, chilenischen oder indischen Sozialforschern in den Vordergrund ihrer Betrachtungen gerückt werden?
Überhaupt bleibt die Frage nach dem persönlichen – biografischemotionalen – Subtext der wissenschaftlichen Beobachtung bei der Debatte über die Fakten weitgehend ausgeblendet. Dies ist erstaunlich, sind doch auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lediglich Beobachterinnen und Beobachter, die die Welt kaum anders in den Blick zu nehmen vermögen als in der Weise, in der sie gelernt haben, die Welt zu betrachten, sich in ihr zu entwickeln und zu profilieren – eng geführt und bisweilen gar genötigt von der erdrückenden Macht der erwartbaren und als zulässig angesehenen Formen des Denkens, Fühlens und Publizierens. Es ist diese interne Plausibilität, die uns sehen lässt, was wir sehen können, und auch die von unseren Forschungen zutage geförderten »Fakten« liegen keineswegs objektiv zutage, sondern sind Ergebnis unseres zwar methodisch disziplinierbaren, aber gleichwohl persönlichen Blicks auf das Geschehen. Unser Umgang mit den Fakten sagt deshalb – ob uns das gefällt oder nicht – meist auch mehr über uns selbst und unser Sehen aus als über das, was den Gegenstand unseres Interesses bewirkt. Deshalb braucht die Bemühung um Fakten die Erweiterung um einen Blick hinter die Fakten – die metafaktische Reflexion. Sie kann uns helfen, die wissenschaftliche Beobachtung der Gegebenheiten um eine Beobachtung zweiter Ordnung zu erweitern: um die Frage, wie wir beobachten, und um die Einsicht, dass die Befunde, zu denen wir neigen, auch nicht allein deshalb evidenzbasiert erwiesen sind, weil wir sie hervorgebracht haben und für »gewiss« zu halten geneigt sind.
Wer diese metafaktische Wende beim Umgang mit Fakten versäumt, ist nicht bloß in der Gefahr, alles, was ihm der Fall zu sein scheint, bereits für faktisch gegeben zu halten, er reproduziert vielmehr auch unaufhörlich seine bisherige Sicht der Dinge, weil er den eigenen blinden Fleck (»Blind Spot«) der Wahrnehmung nicht bei sich selbst (höchstens bei anderen) erkennt und seine eigene Form des Umgangs mit den Gegebenheiten auch für andere für faktisch unbestreitbar hält. Seine Faktenorientierung ist dann seine ganz spezifische Form, sich treu zu bleiben. Er ist dabei gar nicht immer an den Fakten selbst orientiert, sondern dementiert diese Fakten in bisweilen ganz ähnlicher Art, wie er dies bei den Populisten zu Recht kritisiert – wenn auch in subtilerer Aufbereitung und meist elaborierterer Kommentierung. Gleichwohl bleibt dies dem aufmerksamen Leser dieser Kommentierungen meist nicht verborgen. Er erkennt, dass er es – wieder einmal – mit einer sich selbst erfüllenden Form der Wirklichkeitskonstruktion zu tun hat, deren Annahmen bereits in die Art der selektiven Beobachtung eingeflossen sind.
»Wir können nicht hinter die Fakten zurück – dort, wo wir sie haben und mit anderen im Konsens teilen können!« Dort, wo die Wirkungszusammenhänge hingegen nicht offen zutage liegen, benötigen wir den erkenntnis- und beobachtungstheoretischen sowie selbstreflexiven Blick auf unseren eigenen Subtext des Erkennens, um nicht im Brustton der Gewissheit als Faktum auszugeben, was uns immer schon der Fall gewesen zu sein schien. Faktenorientierung benötigt deshalb eine metafaktische Reflexion, damit wir das, was wirkt, erkennen und durch wirksame Weisen der Gestaltung und Intervention verändern können. Denn letztlich zeigt sich die »Wahrheit« einer Interpretation nicht in der Übereinstimmung der Beurteilung durch die zufällig am Diskurs Beteiligten, sondern in der Wirksamkeit und Akzeptanz der aus der Interpretation ableitbaren Handlungen.
Es ist also viel komplizierter, als es auf den ersten Blick zu sein scheint: Wer sich bloß für Faktenorientierung starkmacht, ohne zugleich zwischen augenscheinlicher Evidenz und interpretativ erschließbarer Emergenz zu differenzieren, der hantiert mit einem unterkomplexen Faktenbegriff. Schlimmer noch: Auch er tendiert dazu, letztlich faktische Wirkungszusammenhänge für entdeckbar zu halten, wo nur ein Nachvollzug der Bedeutungsverleihung der Akteure sowie spürende Vernunft uns näher an das heranzuführen vermögen, was tatsächlich im Gegenübersystem am Wirken ist. Vertreter einer einheitswissenschaftlichen Empirie der Berechenbarkeit neigen, indem sie die Beobachtertheorie bewusst ausblenden und sich meist den Gesetzen der Mathematik unterwerfen, ebenso wie die Vertreter einer materialistischen Erkenntnistheorie zu solchen Vereinfachungen. Beide tendieren dazu, Faktisches zu behaupten, wo bloß Perspektivisches zu haben ist – eine Reduktion von Komplexität, die durchaus Parallelen zu den Vereinfachungen der im Populismus zu Recht kritisierten Behauptungswahrheiten aufweist. Beiden Tendenzen zugrunde liegt ein geschlossenes Weltbild – nicht frei von der Gefahr, einem freiheitsbedrohenden Totalitarismus zuzuarbeiten (vgl. Popper 1992). Während der rechte Populismus die schuldzuweisende Vereinfachung der schlichten Parole bevorzugt, wählt der kritische Populismus gerne die Form eines dogmatisch-anmaßenden Intellektualismus. Beide halten die Erkennbarkeit der Welt – ihrer Welt – für unstrittig. Sie verbindet auch ein mehr oder weniger deutliches Feindbild und ein ausgrenzender Gestus, welcher dem Andersdenken seine Berechtigung vollständig abspricht (vgl. Peglau 2017), ihn abwertet und bekämpft, häufig offen beschimpft und als minderwertig, bisweilen als »unnötig« und »widersinnig« (vgl. Pongratz 2014) – man beachte die Rechthaberei, die aus solchen Bewertungen spricht! – charakterisiert. Im einen Fall bietet dafür die ethnische Fremdheit den Anlass, im anderen Fall der mehr oder weniger deutlich artikulierte Vorwurf eines von dunklen Mächten ausgelösten und genutzten – »falschen« – Bewusstseins.
Der vorliegende Essay greift an einigen wenigen Stellen auf bereits publizierte Arbeiten des Autors zurück. Diese Arbeiten wurden gründlich überarbeitet, ergänzt und aktualisiert sowie mit der Ursprungsquelle ausgewiesen. Gleichwohl wurde auch hier und da großzügig mit der Frage des Selbstplagiats umgegangen, damit der Text insgesamt nicht mit Verweisen überfrachtet wird. Mein Dank...