1945: Der junge Mann, der mein Vater war
An einem strahlenden Sommermorgen kurz nach dem Krieg stieg ein junger Mann in den Harz hinauf, fast noch ein Kind mit seinen siebzehn Jahren und doch ein deutscher Soldat. Von der Schule geholt, an die Front geschickt, besiegt, entwaffnet, in die Gefangenschaft geführt. Dort hatte er die drei Monate zugebracht, die seit dem Ende des Kriegs vergangen waren, in einem britischen Kriegsgefangenenlager bei Emden, unter anderen entwaffneten deutschen Soldaten.
Ab und zu hielt er inne, wischte sich den Schweiß ab, schaute sich um, sog die würzige Waldluft ein. Manchmal, wenn der Tannenwald sich öffnete, konnte er weit ins Tal schauen und auf blaue Höhen. In Goslar war er losgegangen in der Frühe, in seiner blauen Marineuniform und mit seinem Seesack, hatte sich durchgefragt zur Station, von der ein Omnibus in den Hochharz fuhr, aber er kam wenige Augenblicke zu spät und sah den Bus nur noch von ferne. Er war nicht böse darum, dann ging er eben zu Fuß hinauf, fünfzehn Kilometer waren es bis zu seinem Ziel, na und, es war Sommer, der Krieg vorüber, er war siebzehn und endlich kein Gefangener mehr; keine Wachen, kein Stacheldraht, keine Befehle – herrliche siebzehn und frei auf eine Art, die man atmen konnte. Er ging seines Weges, und niemand hielt ihn an und fragte, wer und wohin.
An der Kaiserpfalz ging er vorüber, aus Goslar hinaus, erst übers Land, dann die Serpentinen hinauf in die Harzwälder. Einmal wollte er eine Haarnadelkurve abschneiden, schlug sich ins Grüne, den steilen Hang hinauf, verlief sich, kehrte zurück auf die Straße. Hätte er geahnt, dass sein Weg ihn fortführen würde von allem, was er gekannt und geliebt hatte, er wäre erschrocken. Später, wenn er an diesen Sommer zurückdachte, war es ihm, als habe er hinter sich eine Tür schwer und nachhallend ins Schloss fallen hören. Nur ein Traumgesicht. Jetzt hörte er nichts dergleichen, nur das Knirschen der eigenen Schritte auf dem Asphalt und einen Specht ins Holz hacken ab und an.
«Wir fahren nach Hahnenklee», hatte ihm die Mutter geschrieben, «hier in Leipzig sind zu viele Bombenangriffe, wir sind dort im Hotel ‹Goldener Löwe›.» Diese letzte Nachricht aus den letzten Kriegswochen trieb ihn hinauf. Er kannte weder den Ort noch das Hotel, das ihm die Mutter als Zuflucht der Familie genannt hatte, irgendein kleiner Kurort hoch im Harz, mehr wusste er nicht. Sonderbarer Name, Hahnenklee, klang nach Bergwiese, wäre nur der Hahn nicht gewesen, der Hahn war ein zwielichtiger Vogel. Er krähte dreimal, und das Unheil nahm seinen Lauf. Er dachte an den Vater. Ihn würde er nicht wiedersehen dort oben im Harz. In Russland gefallen, bei Tula, mehr wusste man nicht. Aber heute noch würde er, wenn alles gutging, die Mutter sehen.
Solche wie er waren viele unterwegs in diesem Sommer nach dem Krieg. Millionen zogen umher, aus Armeen entlassen, aus Lagern befreit, aus besetzten Gebieten verjagt, auf der Flucht vor alten Rechnungen oder neuen Todesgefahren. Die Ruinen verbrannter deutscher Städte hingen voller Zettel, angeschlagen von Frauen, die ihre Männer suchten, von Familien, die nach Angehörigen forschten, von Kindern, die irgendein Zeichen ihrer Eltern zu finden hofften. Nein, er fiel gar nicht auf, der blutjunge Soldat, wie er da die Straße hinaufging in die Wälder.
Aus Leipzig hatte ihm die Mutter die Hahnenkleepost geschrieben, da war sie schon nicht mehr daheim gewesen in Breslau. Leipzig war nur eine Station auf ihrer Flucht, ihre Schwester lebte dort, seine Tante Else. Else war mit einem Ehepaar befreundet, dem mehrere Hotels gehörten, auch der «Goldene Löwe» im Harz, so war die Idee entstanden: nach dem Krieg in Hahnenklee.
Seine Stimmungen wechselten. Mal weitete sich seine Seele, und er sog in vollen Zügen die betörend harzige Freiheit ein, in der er ging. Wer ihn beobachtet hätte, hätte ein paarmal ein kurzes, verwundertes Auflachen gesehen, Bilder des Krieges und der Gefangenschaft flackerten auf, und er konnte sein Glück kaum fassen. Vor Tagen noch war es ganz unwahrscheinlich gewesen, dass er heute hier wandern würde, ein freier Mann. Dann wieder drängte sich Bangigkeit in seine Gedanken. Wird sie dort sein, wird sie mich erwarten? Es wird der Mutter doch nichts passiert sein? Nein, es gelang ihm nicht, sich seinem wiedergewonnenen Jungsein, seinen herrlichen siebzehn Jahren, und diesem geschenkten Hochsommertag ganz und gar hinzugeben. Er ging in den Harz hinauf voll angespannter Erwartung.
Einmal, als er verschnaufte und zu Tal schaute, schob sich ein anderes Bild vor den Sommertag – das Elternhaus auf der Breslauer Dominsel, sein Leben dort eben noch. Und es waren keine Schwarzweißbildchen mit Zackenrand wie später, als er die geretteten Fotos der Kindheit in einer kleinen Kiste verwahrte, die er immer seltener öffnen würde, je weiter das alles in ein unbegreiflich fernes Vorleben entrückte. Nein, die Bilder, die ihm jetzt in der Serpentine vor Augen standen, hatten nichts düster Umflortes, sie waren noch hell – die Kreuzstraße, in der er gespielt hatte, seine alte Schule schräg gegenüber dem Elternhaus, der Botanische Garten, nur ein paar Schritte entfernt, die steile Treppe der Heiligkreuzkirche, von der seine Straße den Namen hatte. Sommernachmittage an der Oder, ihr Ufer fast vor der Haustür, ein Ausflug ins Riesengebirge, an all das dachte er, wie ein Junge auf Klassenfahrt an daheim denkt. Nicht dringlich, erst recht nicht traurig. Diese Bilder, man musste sie nicht ängstlich festhalten oder beschwören, das alles gab es doch wirklich, und bald wäre er wieder daheim. Nur stiller als sonst war es am Ende in seiner Straße gewesen. Seine Freunde fehlten – fort, irgendwo eingesetzt, irgendwohin evakuiert. Bis auch er an der Reihe gewesen war.
Das Soldatische hatte ihn nicht sehr angezogen, er hatte es übergestreift mit der Uniform. Er entstammte einer Familie von Ingenieuren. Der Großvater war zu einigem Wohlstand gekommen mit seiner Tiefbaufirma. Sein Hauptgeschäft war es, Ländereien im nördlichen Niederschlesien trockenzulegen. Die Flüsse dort traten häufig über die Ufer und überschwemmten die Äcker, was dem Großvater viele Aufträge eintrug, Drainagerohre zu verlegen. In seiner besten Zeit beschäftigte er über dreißig Leute, ein Chauffeur lenkte seinen Wagen. Der Junge sollte einmal das Geschäft übernehmen, er sollte studieren und seinen Bauingenieur machen, aber je totaler der Krieg sich aufführte und je näher er Breslau rückte, desto bescheidener fielen die Rationen des Wünschbaren aus, desto notgedrungener geriet das Leben.
Jemand hatte ihm von einer kriegsmäßig improvisierten Ingenieurschule in einem katholischen Stift berichtet, und da war er untergebracht worden, ein Junge von sechzehn Jahren, unter lauter kriegsversehrten Soldaten. Dem einen fehlte der Arm, dem andern das Bein, dem dritten das Auge. Männer mit Splittern im Körper, Männer, die alles gesehen hatten. An der Front nicht mehr zu gebrauchen, sollten sie zu Ingenieuren umgeschult werden für die Zeit nach dem Krieg. Frontfüchse, die die Pausen zwischen den Schulstunden nutzten, um dem unerfahrenen Burschen eine Vorstellung von dem zu geben, was das ist: Krieg. Er wird’s bald selber sehen, nickten sie einander zu, wird ja bald siebzehn, dann ist er dran.
Seine letzten Weihnachtsferien daheim endeten am 3. Januar 1945, aber die wunderliche Invalidenklasse besuchte er nur noch wenige Tage. Am 12. Januar, einem Freitag, wurde er eingezogen, das hieß, seine Mutter packte ihm warme Sachen und Proviant ein, dann ging er zum Bahnhof und nahm den Zug in den Krieg. Es traf sich, dass dieser Zwölfte zugleich der Tag war, an dem die längst erwartete Großoffensive der Roten Armee an der gesamten Ostfront begann, die Stalins Truppen bis nach Berlin führen würde, zum Sieg. Eine Woche später wäre der Krieg zu ihm gekommen. Am 20. Januar, einem Samstag, schlossen alle Breslauer Schulen – die großen Endkampfferien begannen. Als sie endeten, nach vielen Monaten, war er weit weg und die Welt eine andere.
Wäre er nicht eingezogen worden, hätte sich das Schicksal des Siebzehnjährigen ganz mit dem seiner Heimatstadt verwoben. Ganz sicher wäre er zum Volkssturm befohlen worden, jener Truppe, ausgehoben aus alten Männern und halben Kindern ab sechzehn, die verteidigen sollte, was nicht mehr zu verteidigen war. Am 20. Januar schlossen nicht nur die Schulen, es schloss sich die ganze Stadt ein und erwartete den Angriff. An jenem Tag erging in Breslau der «Auflockerungsbefehl». Aufgelockert wurde die Bevölkerung – wer irgendwie kriegstauglich war, hatte zu bleiben, alle anderen störten und mussten raus aus der Stadt, sofort. «Achtung, Achtung!», schnarrte es aus Lautsprechern, «Frauen und Kinder verlassen die Stadt zu Fuß in Richtung Opperau-Kanth!» Nur kleines Handgepäck war erlaubt.
Am Tag darauf, dem Sonntag, lasen die Dagebliebenen und nunmehrigen Festungsbewohner das Plakat, das der Gauleiter und unumschränkte Herrscher über Breslau überall hatte aufhängen lassen. Was aber war das, eine Festung? Es war eine vom Feind eingeschlossene, aber koste es, was es wolle, zu haltende Stadt. «Männer von Breslau!» So hob der Plakattext an und verkündete, jeder sei nun kriegsverpflichtet. «Keiner verlässt seinen Posten!» Jede Tätigkeit, die für die militärische Verteidigung der Stadt nicht unbedingt nötig sei, sei sofort einzustellen. Der totale Krieg, er war da.
Die viel zu späte und viel zu überstürzte Evakuierung Breslaus mitten im strengen Winter setzte einen Zug in Marsch, bei dem das Grauen und der Tod...