Teil I: Prinzip des Führens
In einem ersten Anlauf geht es um Fragen wie die nach dem Sinn und der Aufgabe von Führung. Warum braucht es in dieser von Gott geschaffenen Welt Führung? Könnte nicht jedes Geschöpf selbstständig und ohne Hierarchie sein Leben leben und seine Arbeit tun? Würde die Führung Gottes nicht genügen – falls Gott mehr eingreifen und auf diese Weise führen würde? Wie erhält jemand eine Führungsaufgabe? Welche Weisen der Führung gibt es? Warum und wann soll jemand Führung ergreifen und aktiv ausüben? Welche biblischen Bilder helfen, Führung zu verstehen und christlich auszuüben? Manche dieser Fragen werden uns durch das ganze Buch begleiten.
1. Führen ist gut
Im Anfang hat Gott die Welt und den Menschen gut geschaffen. Sie gehen ihren Weg durch die Zeit auf Vollendung hin. In dieser Zeit ist die göttliche Schöpfung aber noch eigenartig unvollkommen, voller Mängel: Es gibt Hunger, Krankheit und Tod, es gibt Naturkatastrophen, es gibt kulturelle Differenzen und Konflikte, es gibt Armut und Not; aus Dummheit machen sich viele Menschen das Leben schwerer als nötig; es gibt Leiden aller Art. Außerdem wirkt Böses: Der Mensch missbraucht seine Freiheit, ist egoistisch und gierig, isoliert sich und vereinsamt, tut sich selbst oder anderen Gewalt an. Mit Dummheit und mit Bosheit schädigt sich der Mensch, und er schädigt vor allem die Gemeinschaft, derer er so dringend bedarf. Was ist schlimmer: Bosheit oder Dummheit? Besonders verheerend ist die Kombination beider.
Um zu leben und zu überleben, muss der Mensch auf Gutes hinarbeiten. Für die Arbeit braucht er Stütze und Orientierung, damit er seine Freiheit nicht missbraucht, sondern sie gut gebraucht. Er braucht Autorität und Führung: Diese lenken ihn auf gutes Handeln hin. Sie führen die Menschen zusammen und bewirken, dass sie gemeinsam am guten Werk arbeiten. Gute Führung gleicht nicht alle Mängel der Schöpfung aus, aber sie verhindert, dass Dummheit und Bosheit überhandnehmen und zu sehr schädigen. Selbstverständlich kann schon die Führung selbst von Dummheit oder von Bosheit oder von beidem verdorben sein und dann, mit den entsprechenden Machtmitteln, noch viel mehr Schaden wirken. Es braucht nicht nur Führung, sondern gute Führung. Um diese geht es in diesem Buch.
Führen muss der Führende nicht nur und nicht zuerst andere, sondern sich selbst – das vergisst die meiste Literatur zum Thema. Nur wer sich selbst, seine Leidenschaft und seine Triebhaftigkeit, seine Sehnsüchte und seine Energien, seine Mängel und seine Kompetenzen, sein alltägliches Tun und seine großen Lebenswahlen einigermaßen klug und zielorientiert steuert, wird andere gut leiten können. Die Arbeit an sich selbst – oder genauer: sich so zu disponieren, dass man vom Geist geformt wird – ist erstes Anliegen der ignatianischen Spiritualität. Aus dieser Formung entsteht die Kunst des Führens, für sich und für andere. Große Führungspersönlichkeiten sind in aller Regel auch geordnete und reife, reflektierte und selbstbestimmte, wertorientierte und beziehungsstarke Personen.
Hierzu gibt es eine starke Weisheit des Ignatius: »Es ist ein großer Fehler, andere nach sich selbst leiten zu wollen«1 – will sagen: Nicht für jeden Menschen gelten dieselben Rezepte, sondern der andere ist individuell zu behandeln und zu führen. Der Jesuit Albert Keller (1932–2010), Münchner Philosoph und Prediger, drückte dies direkter aus: »Erfahrung macht dumm« – will sagen, dass jemand, der nur von seiner eigenen, doch sehr partikularen Erfahrung ausgeht und aus ihr allzu simple Schlüsse zieht, die Menschen und die Welt in ihrer Vielfalt und Komplexität nicht genügend wahrnimmt. Es braucht weites Wissen und breite Reflexion, um andere gut zu führen. Öfters sollte, wer führt, von sich selbst wegsehen und den Anderen und das Andere genau und ehrlich betrachten.
Der gute Hirte
Das klassische Bild für gute Führung ist das des Hirten und der Schafherde. Nun gelten ja Schafe als dumme Tiere, und sie sind es. Also ist der Vergleich für geführte Menschen wenig schmeichelhaft, aber doch nicht ohne Realismus. Ein hoffentlich kluger Hirte hält die Schafe zusammen, dass sie nicht weglaufen, sich verirren, in Abgründe stürzen – vor Dummheit, aber vielleicht auch aus Habgier, um schnell für sich das Beste zu raffen. Manche Schafe werden gegeneinander aggressiv, allerdings – wen wundert’s? – meistens die Böcke: eine Analogie zur menschlichen Bosheit? Der Hirt ist Tag und Nacht auf der Hut, er beruhigt und ist fürsorglich, er schützt besonders die kleinen und die kranken Schafe, er kümmert sich ebenso um das einzelne Tier wie um die Herde als Ganze, und er sucht die besten Weiden für seine Schafe. Sein Helfer ist der Hund, der kläffend die Herde zusammenhält: Mit immerhin angedrohten Machtmitteln setzt er Führung durch – ein weiser Hirte macht das nicht selbst, sondern hat dafür seinen Büttel.
Biblisch hat das Bild im Johannesevangelium (Kap. 10) seinen prominenten Platz: Der Hirt geht durch den Haupteingang des Schafstalls, nicht wie der Räuber heimlich durch das Hintertürchen. Der Hirt kennt seine Schafe und ruft sie einzeln beim Namen; diese wiederum kennen seine Stimme und folgen ihm – »kennen« meint in der Sprache der Bibel immer auch »lieben«, drückt also Beziehung aus: personal, wertschätzend, fürsorglich. »Der Dieb kommt nur, um zu stehlen und zu schlachten und zu verderben«; hingegen kommt der gute Hirt, »damit sie Leben haben und es in Fülle haben«. Der »Lohnknecht« – ein nur gemieteter Hirt ohne rechte Beziehung zu den Schafen – flieht, wenn der Wolf kommt; der gute Hirt hingegen »gibt sein Leben für die Schafe« (Joh 10,10–12). Jesus, der das sagt, spricht über sich selbst: Er ist der gute Hirt, der seine Gemeinde fürsorglich schützt und rettet, bis zur Hingabe seines Lebens.
Ulrich Bröckling schreibt ein soziologisches Buch über »Menschenregierungskünste«, also über Führung, mit dem überraschenden, eher blumig klingenden Titel Gute Hirten führen sanft.2 Sein Augenmerk richtet sich damit »vor allem auf ›sanfte‹ Selbst- und Sozialtechnologien, die über freiwillige Mitwirkung, personale Bindungen, den zwanglosen Zwang des besseren Arguments oder ökonomische Anreize operieren«3. Das einleitende Kapitel geht über die pastorale Bildsprache – pastor (lat.) bedeutet Hirte –, die sich in der ganzen Geistesgeschichte findet, vom Pan-Mythos der griechischen Antike über frühchristliche Lehren, über Nietzsche und Foucault bis zu sozialökologischen Panarchie-Modellen. Etwa setzt der Hirtengott Pan Herden in Schrecken, sodass sie in Panik geraten und fliehen; Panik ist intensiver Angstaffekt, und Massenflucht ist Modell der Unregierbarkeit: Die Herde rennt ins Verderben – Urbild des Scheiterns von Führung. Nietzsche polemisiert gegen Priester, die eine Herde wollen, und gegen Herden, die sich einen Hirten schaffen und damit einer dumpfen Herdenmoral zum Sieg verhelfen. Foucault deutet das alte christliche Bild von Hirt und Herde positiv aus: Nomadisch, nicht an ein Territorium gebunden, versammelt der Hirt die Herde, mit personaler Präsenz, das einzelne Schaf individuell umsorgend. Der Hirt braucht für seine Arbeit Wissen über die Schafe – das Christentum hat die antike Kultur der Seelenführung noch verfeinert, und weitergeführt wird diese in modernen therapeutischen Psychotechniken. Das Pastorat ist eine subjektivierende Machtform: Die Geführten lassen sich freiwillig führen und akzeptieren paradoxerweise ihre Knechtschaft als höchste Form der Freiheit. Wegen des christlichen Ursprungs, so Bröckling, prägen pastorale Motive bis heute stark die westliche Kultur, mehr als etwa das nautische Bild, in dem der Steuermann sein Schiff über die Weltmeere lenkt. Im Pastorat findet gute und schlechte Führung ihre Bilder, und auch das Wissen, das Führende benötigen, und die Zonen der Unregierbarkeit erklären sich. Wichtig ist, dass in pastoralen Bildern immer ein hierarchisches Verhältnis von Hirt und Herde gezeigt wird: Es gibt Führende und Geführte – allerdings nicht im Verhältnis gewaltsamer Unterwerfung, sondern in dem der Sorge; deswegen gilt: »Gute Hirten führen sanft. Vielleicht liegt darin das Geheimnis der pastoralen Macht: Die Autorität der Führenden wächst mit der Sicherheit, die sie den Geführten garantieren.«4
Wovon sprechen wir?
Nun ist Zeit, einige Begriffe deutlicher zu umschreiben, wobei die Fachwissenschaften in ihren jeweiligen Zugängen unterschiedliche Definitionen vorlegen. Randscharfe Definitionsversuche wären für meine breitere Sicht zu eng, daher umschreibe ich lieber, wovon ich rede:
»Führen« hängt etymologisch mit »fahren machen« zusammen, meint also etwas wie »in Bewegung bringen«, »vorantreiben«. Führung sollte fürsorglich und zielorientiert sein und meint in der pastoralen und nautischen Bildsprache etwas wie »weiden« bzw. »steuern«. Von soziologischen Ansätzen her ist personale Führung zu bestimmen als »legitime Einflussnahme auf die Haltungen und Handlungen von Geführten in offenen Situationen auf Ziele hin«5. Mehr psychologisch wird von Menschenführung gesprochen als einer Maßnahme von Vorgesetzten, die auf Kommunikation, Koordination und Kooperation aller Mitglieder einer Organisation einwirken. Elemente dieser Umschreibungen sind: Legitimität und...