Einführung
Was ist das Anliegen dieses Buches? Es will Ihnen als Leserin und Leser einen praxisorientierten Leitfaden dafür bieten, wie Sie das bewährte Repertoire psychotherapeutischer Methoden in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen um achtsamkeitsbasierte Interventionen ergänzen können.
Dass Achtsamkeits-Training bei vielen psychischen Störungen eine heilsame Wirkung hat, gilt mittlerweile als gesichert. So postulieren etwa Husmann und Nass (2015) in einem aktuellen Übersichtsartikel: „Spannungsregulation und Achtsamkeitsförderung sind zentrale psychotherapeutische Kompetenzen“. Beides sind „key skills“, deren hohe salutogene Potenz „in Therapie, Prävention und Rehabilitation überzeugend nachgewiesen ist“ (ebd.).
Als wichtige Effekte von entspannungs- und achtsamkeitsbasierten Verfahren nennen die Autoren die Förderung von
sowie
Die Forschungsaktivität im Bereich der Effekte achtsamkeitsbasierter Verfahren ist hoch, die Ergebnisse hinsichtlich der klinischen Wirksamkeit sind sehr vielversprechend. Husmann et al. (2015) bilanzieren demgemäß: „Spannungsregulation und Achtsamkeitsförderung sind zentrale und komplexe, bei sehr vielen Indikationsgebieten hochwirksame und empirisch gut erforschte psychotherapeutische Kompetenzen, die sich wechselseitig bedingen und durchdringen.“
Dass dies zutrifft, haben wir als Autorinnen dieses Buches in jahrelanger therapeutischer Praxis selbst feststellen können. Dennoch – viele Fachkolleg/inn/en wenden kaum Interventionen aus dem Bereich der Achtsamkeitsförderung an, wie wir in Qualitätszirkeln, Intervision und bei Fortbildungen immer wieder feststellen. Die Frage von Husmann et al. (2015) scheint also durchaus berechtigt zu sein: „Hohe Bekanntheit, gute Wirksamkeit und trotzdem Schattendasein?“
Damit die therapeutische Anwendung der vielfältigen achtsamkeitsbasierten Interventionen noch einen weiteren Schritt aus diesem Schatten heraustritt, haben wir dieses Buch geschrieben. Es ist schulenübergreifend, ebenso wie wir als Autorinnen-Team (eine Verhaltens- und eine analytische Psychotherapeutin) unsere tägliche Arbeit verstehen.
Um Ihnen als Praktiker/innen eine rasche Orientierung zu ermöglichen, haben wir eine alters- und störungsspezifische Struktur gewählt. Wir sind uns jedoch bewusst, dass diese Gliederung eine artifizielle ist. Die Grenzen sind gerade bei altersbezogenen Angaben fließend und auch die Basis-Übungen der Achtsamkeit (wie etwa der Body-Scan) sind bei vielen Störungsbildern hilfreich. Die in diesem Buch vorgestellten Übungen sind zum einen Teil bekannte und bewährte Interventionen aus vielfältigen, jeweils genannten Quellen, zum anderen Teil wurden sie von den Autorinnen selbst kreiert oder auch modifiziert.
In der Therapie von Erwachsenen haben Achtsamkeitsübungen seit den MBSR-/MBCT-Programmen guten Eingang gefunden, in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ging dieser Prozess langsamer vonstatten. Dass jedoch bereits Kinder ab ca. drei bis fünf Jahren von achtsamkeitsbasierten Interventionen profitieren können, ist bei Hoppe (1995, S. 19 ff.) und Snel (2013, S. 20 ff.) überzeugend begründet und durch zahlreiche heilsame Wirkungen in der therapeutischen Praxis belegt. Auch Hayes und Greco (2011) postulieren: „Akzeptanz und Achtsamkeit für Jugendliche: Die Zeit ist reif“ und beschreiben in ihrem Überblicksartikel den besonderen Nutzen, aber auch die spezifischen Herausforderungen bei der altersgerecht angepassten Anwendung von Achtsamkeitsübungen in der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (ebd. S. 16 ff.).
Zur Arbeitsweise mit diesem Buch
Der theoretische Teil dieses Buches umfasst eine Beschreibung des Konstrukts „Achtsamkeit“ (Kapitel 1) sowie einen Überblick, wie dieses Konzept Eingang in die psychotherapeutische Praxis gefunden hat (Kapitel 2). Schließlich werden die Besonderheiten bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen benannt (Kapitel 3).
Wir empfehlen, diesen Theorieteil vor der Anwendung einzelner Übungen zu lesen.
Im Praxis-Teil werden zunächst allgemein wirksame, unspezifische Achtsamkeitsübungen für Kinder von ca. sechs bis zwölf Jahren vorgestellt (Kapitel 4), danach folgen Übungen für Jugendliche von ca. zwölf bis 18 Jahren (Kapitel 5). Viele dieser Übungen unterscheiden sich kaum von den gängigen Achtsamkeits-Interventionen in der Therapie Erwachsener – der Kern ist derselbe, nur die Instruktion muss altersgerecht gewählt werden. Im darauf Folgenden werden die Achtsamkeitsübungen störungsspezifisch gegliedert. Sie können so gezielt Interventionen zu Angststörungen, Zwangsstörungen, Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen, PTBS, Essstörungen, Borderline-Störungen oder Problemen bei chronischen Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen suchen, was Ihnen den Einsatz in der therapeutischen Praxis hoffentlich erleichtert. Basierend auf den jeweiligen Störungsmodellen werden hierzu jeweils die Ansatzpunkte und spezifischen Wirkfaktoren der Achtsamkeitsübungen beschrieben (Kapitel 6).
Es ist nicht erforderlich, den Praxisteil von Beginn bis zum Schluss durchzuarbeiten, sondern auch das Auswählen einzelner gezielter Übungen ist möglich. Da viele der Übungen bei mehreren Störungsbildern hilfreich sind, können Sie als Therapeut/in die störungsspezifischen Interventionen durch die Übungen für die jeweilige Altersgruppe (Kapitel 4 bzw. 5) ergänzen.
In Kapitel 7 geht es um Ihre Haltung als Therapeutin und Therapeut und die Ressourcen, die sich daraus ergeben. Für Ihren therapeutischen Alltag finden Sie Übungen zur eigenen Stabilisierung.
Das Kapitel 8 gibt Anregungen zur Elternarbeit (mit Übungen) und lädt Sie ein, die Eltern auf den achtsamen Pfad der elterlichen Erziehungsverantwortung zu begleiten.
Im Anhang des Buches findet sich eine Auflistung der Übungen als praktische Orientierungshilfe. Sie können so bequem die passenden Übungen zu den jeweiligen Symptomen und Störungsbildern finden.
Was Sie beachten sollten, wenn Sie mit Achtsamkeitsübungen arbeiten
Generell sollten Achtsamkeitsübungen erst in der Therapie eingesetzt werden, wenn sich Therapeutin und Kind / Jugendlicher bereits vertraut geworden sind. Außerdem soll man das Kind immer „dort abholen, wo es gerade steht“: Manchmal braucht es zuerst ein Bewegungsspiel, damit nicht zu viel motorische Unruhe der Achtsamkeit im Wege steht. Und in manchen Therapiestunden passt vielleicht eine Achtsamkeitsübung gerade nicht, obwohl man sie geplant hatte, da das Kind ganz aktuell mit einem anderen Problem beschäftigt ist.
Wichtig ist immer auch die eigene Befindlichkeit als Therapeut, denn: Die Achtsamkeit des Kindes beginnt mit der Achtsamkeit des Therapeuten. Kinder sind sehr empfänglich dafür und spiegeln oft das wider, was sie spüren. Sind Sie gerade selbst unruhig, unkonzentriert oder reden Sie vielleicht zu schnell, werden Sie auch das Kind kaum zu achtsamer Wahrnehmung führen können. Selbst kleine Zeichen werden vom Kind sofort aufgenommen: Ist die Stimme des Therapeuten ruhig? Sprechen wir klar und in sparsamen Worten? Sprechen auch unsere Augen mit dem Kind? Nehmen wir gerade sowohl uns selbst als auch das Kind achtsam wahr? Bewegen wir uns ohne Hast durch den Raum und sind wir ganz Ohr, wenn das Kind etwas sagt?
Es ist auch darauf zu achten, dass die räumlichen Gegebenheiten passend sind. Ist der Raum hell, gut gelüftet, ausreichend warm? Für manche Übungen sollten für das Kind eine Decke und / oder ein Kissen verfügbar sein. Der Raum sollte so gestaltet sein, dass das Kind sich darin wohlfühlt, sollte nicht zu viele ablenkende Angebote enthalten, aber auch nicht kahl wirken. Günstig ist eine ruhige Umgebung – wenngleich es eine vollständige Ruhe nie geben kann. Für viele Übungen ist es günstig, sie mit dem Klang einer Meditationsglocke oder einer Klangschale einzuleiten. Sehr bald ist dies für Kinder dann ein vertrautes Signal und erleichtert das ruhige Ankommen bei sich selbst. Bei den meisten Übungen empfiehlt sich eine Nachbesprechung, in der das Kind oder der Jugendliche beschreiben kann, wie es / er die Übung empfunden hat. Wenn ein Kind eine bestimmte Übung nicht (mehr) machen möchte, ist dies unbedingt zu akzeptieren, denn der Charakter der Freiwilligkeit ist hier eine conditio...