Vorwort:
Von Big Data zu Big Brother
Bei gutem Wetter hat man von den höheren Lagen in meiner Heimatstadt Mainz einen fantastischen Blick auf die Skyline von Frankfurt. Man versteht, dass die Bankenmetropole am Main bisweilen als »Manhattan« bezeichnet wird. Jede Großbank hat sich dort in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ein architektonisches Highlight gegönnt – als Ausdruck ihrer vermeintlichen Stärke. »The Sky is the Limit«, in Frankfurt wurde dieser leicht größenwahnsinnige Spruch von den mächtigsten Geldhäusern städtebaulich umgesetzt. Doch letztlich ist alles nur Fassade, denn selbst die führenden Institute der deutschen Bankenbranche schauen inzwischen höchst nachdenklich in die Zukunft. Vor 20, 30 Jahren war alles noch ganz anders: Wer einen sicheren Job suchte, der machte eine Banklehre, verdiente anschließend gutes Geld und stieg bei entsprechenden Leistungen sehr schnell die Karriereleiter empor. In den großen deutschen Geldinstituten stand engagierten Mitarbeitern mit guten Fremdsprachenkenntnissen das Tor zur Welt offen. Und dass ein konservativer Anleger Aktien der Deutschen Bank in seinem Depot haben musste, war fast schon Ehrensache. Kurzum, gerade die Großbanken galten als stabil, gesund und eigentlich unzerstörbar. Auch die Mitarbeiter – vom Bankangestellten in der Filiale bis hinauf zum Vorstand – hatten diesen Status sozusagen verinnerlicht, woraus mitunter ein beklagenswertes Maß an Arroganz resultierte. In den großen Häusern waren Privatkunden nicht mehr gefragt (»Kleinvieh macht nur Mist«). Sie wurden – sofern es sich nicht um millionenschwere Private-Banking-Kunden handelte – in Tochtergesellschaften ausgelagert. Gefragt war fortan nur noch das margenstarke Investmentbanking. Seit der Finanzkrise indessen sind die Privatkunden plötzlich wieder en vogue, sie werden mit sentimentalen Werbeslogans umschmeichelt. Doch was man erst einmal verspielt hat, lässt sich nicht so einfach zurückgewinnen.
Wer heute einen Banker fragt, wie er die Zukunft seiner Branche im Allgemeinen und seines Instituts im Besonderen sieht, erhält als Antwort in der Regel nur nichts sagende Marketingplattitüden. Von »nachhaltigen Geschäftsmodellen« ist dann die Rede, von »kundenorientiertem Relationshipmanagement«, von »passgenauen Vorsorgelösungen für einen sorgenfreien Ruhestand« und von einer »Rückkehr zu ethischem Handeln«. Aha, so genau wollten wir es eigentlich gar nicht wissen! Und womit wollen die Banken von morgen Geld verdienen? Brauchen wir die Banken in 20 Jahren überhaupt noch in ihrer derzeitigen Form? Wer als Journalist im kleinen Kreis ohne Notizblock in der Hand und ohne eingeschaltetes Aufnahmegerät solche Fragen stellt, bekommt mitunter eine ehrliche Antwort: »Wir wissen es nicht. Wir wissen vielleicht noch, was in fünf oder zehn Jahren sein wird. Oder wir glauben es zu wissen. Aber wie unsere Branche in 20 oder 30 Jahren aussehen wird, davon hat keiner von uns eine Vorstellung. Wir ahnen nur dieses: Die Bankenbranche dürfte sich radikal verändern und mit derjenigen von heute nicht mehr allzu viel gemein haben.«
In der Tat: Im Zeichen anhaltend niedriger Zinsen funktioniert das bisherige Geschäftsmodell nicht mehr. Noch belassen viele Kunden ihre Ersparnisse auf ihren Sparkonten, allerdings nicht mit dem Ziel des Sparens, sondern eher unter dem Aspekt der Aufbewahrung. Wer möchte sein Geld angesichts dramatisch zunehmender Wohnungseinbrüche und der in diesem Zusammenhang weitgehend sichtbaren Hilflosigkeit der Polizei schon innerhalb der eigenen vier Wände aufbewahren? Sobald aber Negativzinsen auch für Privatkunden eingeführt werden – spätestens in der nächsten Rezessionsphase –, dürften sich die Sparer nach Alternativen umsehen. Denn sie sind nicht bereit, für ihre Spardisziplin Strafzinsen zu zahlen, die nichts anderes sind als eine zusätzliche Besteuerung ihres Vermögens. Überdies können künftig die Wertpapiergeschäfte und der Zahlungsverkehr erheblich einfacher und billiger abgewickelt werden als bisher. In der Konsequenz dürften die etablierten Banken auch in diesen Sektoren deutlich geringere Erträge erwirtschaften als bisher.
Darüber hinaus erwächst den klassischen Banken zunehmend Konkurrenz durch die sogenannten FinTechs. Dieses Wort setzt sich aus »Financial Services« und »Technology« zusammen. FinTech (Finanztechnologie) steht für moderne Lösungen zur Bereitstellung finanzieller Dienstleistungen durch Nichtbanken. In diesem Sektor kommt es seit einiger Zeit zu einer großen Zahl von Neugründungen (Start-ups), vor allem in den USA und in Großbritannien. Ziel der FinTechs ist es, den etablierten Banken Marktanteile abzujagen. Dies geschieht in aller Regel nicht mit Konkurrenzangeboten zu den bekannten Bankprodukten, sondern mit Alternativen, wie etwa E-Commerce, Crowd Investing (»Schwarm-Investments«) sowie Mobile Payment, das uns im vorliegenden Buch noch intensiver beschäftigen wird. Die FinTechs wollen sich somit in Nischen etablieren, in denen sie keine Banklizenzen brauchen, denn die Hürden der aufsichtsrechtlichen Bestimmungen könnten die meisten der Neugründungen wohl nicht überspringen. Offiziell geben sich die Banker noch gelassen. Wenn überhaupt, dann könnten die FinTechs eher zu Dienstleistern der klassischen Geldinstitute als zu Konkurrenten werden, so ist zu hören. Das Verhältnis von FinTechs zu Banken sei ein symbiotisches. Doch hinter den Kulissen ist Unruhe ausgebrochen. Manche Banker denken bereits über neue Geschäftsmodelle nach, die bislang keiner für möglich gehalten hätte.
Die meisten FinTechs werden nur in einer digitalisierten Gesellschaft Erfolg haben, das heißt in einer Welt von Big Data, von gläsernen Kunden und transparenten Konten. Da dämmert es manchen Bankern, dass ihre Institute inzwischen längst Technologieunternehmen sind. »Die Abwicklung und Analyse riesiger Datenmengen gehören zu ihren Kernausgaben«, schreibt Frank Wiebe, New-York-Korrespondent des Handelsblatts 1 . Bislang waren Technologie und Big Data dazu da, das klassische Bankgeschäft zu unterstützen. Bald schon könnten Banken Geschäfte mit Daten machen. Unvorstellbar? Keineswegs. Die US-Bank State Street versucht bereits, von einem Abwickler von Finanztransaktionen zu einem Anbieter von Kundendaten zu werden. 2 Die Bank als Daten- und Technikhändler, das mag derzeit noch etwas exotisch klingen, könnte aber bereits in zehn oder 15 Jahren Realität sein.
Jedenfalls überlegen manche Banker schon, in welchen Branchen konkrete Nachfrage nach ihren Daten bestehen könnte. Sie denken zurzeit nicht zuletzt an den Sektor der Elektromobilität. Künftig – so ihr Kalkül – werde nicht mehr jeder Mensch in seinem eigenen Fahrzeug unterwegs sein. Lösungen wie das selbst fahrende Elektro-Sammeltaxi und das E-Bike könnten an Bedeutung gewinnen. Alle diese Fortbewegungsmittel werden vernetzt sein. Damit die Menschen diese Verkehrsmittel optimal nutzen und aufeinander abstimmen können, braucht es eine personalisierte Software und eine sehr schnelle Verarbeitung gigantischer Datenmengen. Eine Aufgabe, die sich viele Großbanken durchaus zutrauen. Auf diese Weise könnten sie sich überdies das attraktive Geschäftsfeld der Infrastrukturfinanzierung sichern.
Aber auch auf ihren angestammten Geschäftsfeldern dürften die Banken Big Data gezielt nutzen, um – wie es heißt – »digitale, ganzheitliche Finanz-Lebensplaner« zu schaffen, wodurch Kunden zu absolut gläsernen »Konto- und Depotsklaven« werden. Stellen Sie sich vor: In 15 Jahren könnte es dank der »Segnungen« der Digitalisierung möglich sein, alle finanziellen Informationen über einen Kunden kontinuierlich zu erfassen und in Echtzeit zu bewerten. Und zwar nicht nur bestehende Bankkonten und Versicherungspolicen, sondern zudem sämtliche Einkommensquellen und Rentenansprüche sowie das Konsumverhalten und die steuerlichen Rahmenbedingungen. Die Banken würden mehr und mehr zu ausgelagerten Filialen von Finanzämtern und Marketingabteilungen. Um nicht missverstanden zu werden: Das sind keine verrückten Zukunftsperspektiven irgendwelcher Verschwörungstheoretiker, sondern Themen, die in den Vorstandsetagen der Banken ernsthaft diskutiert werden.
Nur eines stört in diesem Szenario, und zwar ganz gewaltig – das Bargeld. Denn wie soll ein solcher digitaler Lebensplaner funktionieren, wenn Big Brother in den Banken nicht weiß, wie viel Bargeld der Kunde irgendwo gehortet hat und wie viel Bargeld er wofür ausgibt? Vielleicht hat er bis zur Grenze für Tafelgeschäfte in Höhe von 14 999,99 Euro Goldbarren und – münzen gekauft. Und vielleicht hat seine Frau das ebenfalls getan. Möglicherweise sogar mehrfach. Kurzum: Solange es noch Bargeld gibt, weiß Big Brother viel – zu viel! –, aber längst nicht alles. Und das soll anders werden. Eine Abschaffung des Bargelds würde völlige Transparenz herstellen und dafür sorgen, dass die Banken mit ihrem neuen Geschäftsmodell als Datenhändler reüssieren könnten.
Vorteile hätten natürlich auch die Finanzbehörden. Nicht etwa, dass Geldwäsche oder Steuerbetrug durch die Mafia dauerhaft unterbunden würde. Denn diese obskuren Zeitgenossen fänden sehr schnell alternative Parallelwährungen, um ihre kriminellen Geschäfte abgewickelt. Wohl aber wäre nach einem Bargeldverbot jede Form von Schwarzarbeit unmöglich. Jeder Euro, den Sie als Trinkgeld geben, wäre erfasst. Nun mag man einwenden, dass schon ein Ende der illegalen Beschäftigung Grund genug sei, über Bargeldrestriktionen nachzudenken. Das mag sein, aber letztlich stellt sich immer die Frage der Verhältnismäßigkeit. Sind wir bereit, unsere Privatsphäre völlig aufzugeben und nachgerade zu »gläsernen Kontosklaven« zu...