Ahnungslos am Kliff – Wie die Finanzkrise verschlafen wurde
Satiriker und Blogger haben Hochkonjunktur. Die Satiriker, weil ihnen die Politik mit Korruption, Dämlichkeit, Verlogenheit und Volksferne so viele Steilvorlagen und Munition liefert, dass sie aus dem Vollen schöpfen können. Die Blogger, weil die tonangebenden Medien so viel auslassen, verdrehen und verbiegen, dass sich eine Heerschar kritischer Leser, die selbst gerne schreibt, darüber jeden Tag endlos und köstlich amüsieren und die Finger wundschreiben kann. Nehmen wir Jenny´s Blog am 18. Januar 2015. 5 Ein willkürliches Beispiel, ja. Aber eines von Hunderten, die sich nach der Recherche für dieses Buch meterhoch auf meinem Schreibtisch stapeln. Jenny machte sich im Januar 2015 »über die Journaille und den Öl-Preis« lustig:
»Die Journaille ist schon ein komisches Volk. Anders als beispielsweise Blogs müssen sie Themen verkaufen und Quote machen. Außerdem müssen sie dem elitären Lügenpack in den Bobbo schlupfen, damit sie Aufmerksamkeit und Ruhm erhalten.«
Hooops, »Bobbo«! Das sind ja starke Worte. Jenny, bist du etwa auch so ein Troll, den Herr Putin auf den Westen losgelassen hat, um das Navigationssystem des rundum informierten Publikums in Europa und Amerika zu zerstören und all die akribisch recherchierenden Mainstream-Journalisten in den Dreck zu ziehen? Vielleicht. Aber deine Frage ist trotzdem gut. Also weiter, Jenny. Denn deine Frage trifft den Mainstream-Blätterwald ins Mark. Und sie lautet so:
»Genau diese Lügenpackpresse, Leitmedien oder auch ›neudeutsch‹ Mainstream, hat uns jahrzehntelang wegen eines scheinbar hohen Öl-Preises in Panik versetzt. Jetzt ist der Öl-Preis gefallen [50 Prozent in sieben Monaten zu diesem Zeitpunkt, Anm. des Autors] und sie verbreiten wieder Panik! Sagt mal, was denn nun?«
Jennys unangenehme Frage an diesem grauen Januartag 2015 legt den Finger in eine der tiefen Wunden der Traditionspresse: Gestern hü, morgen hott. 2007 beschreibt der Spiegel (»Im Zweifel links«) mit dem Titelblatt »Mekka Deutschland« die »schleichende Islamisierung« in unserem Land. 6 Ende 2014 und Anfang 2015 drischt das Magazin gemeinsam mit der kollektiv entrüsteten Massenpresse auf PEGIDA-Demonstranten ein, die zu genau demselben Befund kommen wie der Spiegel selbst, halt nur ein paar Jahre später. Noch ein Beispiel: Einmal ist der Euro gut, als der Mainstream ihn in den 90er-Jahren als alternativlos begrüßt, dann ist er der Spaltpilz in Europa. Das ist im Frühjahr und Sommer 2015, als die Griechen-Krise sich dem Höhepunkt nähert wie eine Oper, bei der die dicke Sängerin gleich zum rauschenden Schlussgesang auf die Bühne tritt.
Zurück zu Jenny mit ihrer ketzerischen Frage, einer jener Fragen, die Mainstream-Journalisten gerne ins Reich erboster, wütender und von Moskau gelenkter Trolle verweisen, weil sie ihr Deutungsprivileg missachten:
»Jahrelang galt, ein hoher Öl-Preis würde die Wirtschaft belasten. Nun ist der Öl-Preis niedrig. Und auf einmal schreibt die Journaille, dass der Preisrückgang die Wirtschaft belasten würde.«
Völlig richtig, liebe Jenny. Du hast es erfasst. Das ist ein Widerspruch, wie er größer kaum sein könnte. Aber einer, den es so zahlreich gibt wie Sonderangebote zum Sommerschluss. Hier haben wir einen der eklatanten Widersprüche, über die Qualitätsmedien gerne mit flinker Tastatur hinweggleiten, wenn der Geist der Zeit oder das aktuelle Koordinatensystem aus bestehenden Tabus und alternativlosen politischen Großprojekten es gebieten. Einmal sind wir ein Einwanderungsland, dann sind wir keines. Einmal ist der Euro der Heilsbringer, dann ist er der Fluch. Einmal sind unsere abgebrannten Nachbarn im Süden Europas die stinkfaulen »Pleite-Griechen«, 7 dann wieder arme Schweine, die von der Troika gnadenlos ausgequetscht werden.
Ja, was nun? – Die Frage ist so naheliegend und berechtigt, dass sie die aufmerksame Jenny zu Recht so stark in den Vordergrund rückt. Denn wir alle fragen uns tagein, tagaus, wie wir in dieser unruhigen, von Finanzkrisen und geopolitischen Konfliktzonen durchwucherten Welt navigieren sollen, wenn die Leitmedien wichtige Entwicklungen einseitig darstellen (Ukraine-Konflikt), 8 verdrehen oder völlig unterschlagen, wie die Folgen der Fukushima-Katastrophe. Erinnert sich jemand, wann er das letzte Mal einen ausführlichen Bericht oder ein simples Update zu dem atomaren Desaster in Japan gelesen hat? Ich auch nicht. Doch unsere Probleme werden in einer Welt mit grassierenden Schulden, geldüberschwemmten Kapitalmärkten und einer Inflation an Krisengebieten größer und drängender, während die großen Medien um das nackte Überleben kämpfen und sich dem Wandel im Nachrichten-Universum (Teil II) äußerst zögerlich oder gar nicht stellen. Wir brauchen wachsame Medien mehr denn je. Doch was wir bekommen, ist ständiges Versagen.
Nehmen wir die Finanzkrise 2008 und das Jahr 2015, in dem sich die nächste Krise, die unsere Ersparnisse verschlingen wird, bereits anbahnt. Schon im Herbst 2014 schrieben sich US-Journalisten und ihre europäischen Kollegen die Finger darüber wund, dass die USA die neue Lokomotive der Weltwirtschaft würden. Die Lage: China bremst ab, Europa dümpelt und zittert wieder einmal vor Griechenland, Japan ist schlicht hoffnungslos. Das war der Befund in den Medien zu Jahresbeginn 2015. Jetzt sollten also die USA für die Weltwirtschaft den Karren aus dem Dreck ziehen. Tatsächlich: Der Index der wirtschaftlichen Zuversicht in den USA kletterte Ende 2014 auf den höchsten Stand in 17 Monaten. Eineinhalb Jahre sind eine halbe Ewigkeit in dieser gnadenlos schnelllebigen Welt. In der lässt sich, wenn man so kurzfristige Vergleiche auf Monats- oder Wochenbasis anstellt, bei wirtschaftlichen Kennziffern wie aus dem Maschinengewehr immer die ein oder andere finden, die positiv ist, die Investoren und Werbekunden bei Laune hält, wenn man sie nur stark genug hervorhebt.
Die Berichtsorgie der Jubelzahlen bekam Ende 2014 eine solche Wucht, dass es selbst den Analysten bei der Citigroup mulmig wurde. Die Wirtschaftsblätter hatten ihre wichtigsten Zitatgeber an der Wall Street in puncto Optimismus und Gute-Laune-Berichte gerade überholt, was die US-Wirtschaft angeht. »Wir hoffen fast, dass diese Vorhersagen nicht stimmen«, zitierte der führende Finanz-Blog in den USA – Zero Hedge – die Citibanker. 9 Und die schrieben weiter: »Die Vorhersagen sind Zeichen einer wachsenden Lücke zwischen den Börsenkursen und den fundamentalen, traditionellen Wirtschaftsdaten.« Autsch! Das hieß nämlich auf Deutsch: Jubelberichte und Realität wichen immer stärker voneinander ab.
Und dann kam die dritte und vierte Woche des Jahres 2015. Weihnachten war vorbei. Und die Beschaulichkeit gleich mit. Das schöne Konjunkturgemälde fiel krachend von der Wand. Der Internationale Währungsfonds reduzierte deutlich seine Wachstumsprognose für die Weltwirtschaft. Die Börsen bekamen einen Hexenschuss. Die Zeitungen hatten sich mit den Jubelmeldungen monatelang so an die Decke gestreckt, dass sie wieder einmal von der Realität bitter »überrascht« 10 wurden. Die eigene Konjunktur-Propaganda hatte sie – und ihr Publikum – in trügerischer Sicherheit gewiegt. Die Schweiz gab aber plötzlich und für alle unfassbar die Bindung des Franken an den Euro auf. Es war ein Offenbarungseid einer der führenden Notenbanken in Europa. Sie wollte nicht noch mehr schwindsüchtige Euro kaufen, um den nach oben strebenden Franken zu zügeln. Die eidgenössische Nationalbank bekam Muffensausen, dass sie am Ende auf zu vielen wertlosen oder stark entwerteten Euro sitzen bleiben und den Eidgenossen untragbare Verluste aufbrummen könnte.
Das schockte nicht nur die Schweizer Notenbanker selbst. Es schockierte auch die Devisenmärkte. In den USA signalisierten – vom Mainstream noch nicht wahrgenommen – die ersten Wirtschaftsdaten, dass die Konjunktur eine Vollbremsung hinlegte. Das haben die Leser der großen Publikationen erst drei Monate später mitbekommen. Da wurde offiziell gemeldet, dass die Wirtschaftsleistung der USA im ersten Quartal um 0,7 Prozent geschrumpft war. Das Märchen von der spürbaren Erholung war für die Insider an den Börsen jedoch schon im Januar krachend in sich zusammengebrochen, Wochen bevor die hinters Licht geführte Öffentlichkeit davon erfuhr. Der Goldpreis zog an. Der Euro ging in die Knie. Der Dow-Jones – Index schlug Kapriolen. Zeitungsleser rieben sich verwundert die Augen. Denn sie lasen in ihren Blättern immer noch, dass die US-Wirtschaft Anlauf zu besseren Zeiten nahm. Und schließlich war ja die Europäische Zentralbank kurz davor, die größte Geldflut in der Geschichte des Kontinents zu entfesseln. Was könnte da schon schiefgehen?
Auf der Webseite Morningstar ärgerte sich der Wall-Street-Analyst Robert Johnson am 17. Januar, dass er nicht – wie alle anderen Ökonomen – wegen der Erholung am Arbeitsmarkt und der gefallenen Ölpreise seine Wachstumsprognose angehoben hatte. Alle hätten gedacht, dass er auch so einen guten Riecher hätte wie die führenden Analysten. Doch im Verlauf seines Kommentars kniff er sich schon wieder in den Hintern: Eigentlich waren ja in dieser dritten Januarwoche, die den Ausblick für die Weltwirtschaft zu verdüstern begann, enttäuschende Zahlen für den Einzelhandel gekommen. Dazu die Einsicht – Jenny lässt grüßen –, dass implodierte Ölpreise nicht nur Konsumenten entlasteten, sondern dass sie gleichzeitig eine florierende Energiewirtschaft, die...