|21|Kapitel 2
Ein integrierter systematisierter ACT-Ansatz für Angststörungen – ein Überblick
In diesem Kapitel geben wir einen Überblick über das gesamte im vorliegenden Manual vorgestellte Behandlungsprogramm. Das Ziel des hier dargestellten manualisierten Ansatzes ist es, Patienten dazu zu verhelfen, ein Leben zu führen, welches sich an den von den Patienten ausgewählten Lebenswerten orientiert. Die eigentlichen Behandlungsstrategien zielen direkt auf Veränderungen der in Abbildung 1 dargestellten sechs zentralen ACT-Prozesse ab. Diese werden daher im Folgenden dargestellt. Obwohl in den späteren Sitzungsbeschreibungen diese Therapieprozesse noch einmal kurz erklärt werden, liefern die nachfolgenden Beschreibungen der Therapieprozesse wichtige und hoffentlich hilfreiche weitere Informationen, die Sie in die jeweilige Sitzung mit einbauen können.
Es ist vorab auch wichtig darauf hinzuweisen, dass sich diese sechs Prozesse überschneiden und alle miteinander verbunden sind. Konsequenterweise bewegen sich Therapeuten oft zwischen ihnen hin und her und behandeln in jeder Sitzung zumeist mehr als nur einen der beschriebenen Prozesse. Obwohl wir das Vorgehen bei der Behandlung in den einzelnen Sitzungen in Form von Richtlinien skizzieren, lässt sich die tatsächliche Anwendung von ACT eher mit einem kontinuierlichen Tänzeln um die verschiedenen zentralen Prozesse vergleichen als mit einem linearen Fortschreiten. So werden insbesondere Werte aufgrund ihres zentralen Platzes innerhalb der ACT nicht erst im späteren Verlauf der Therapie ausführlich besprochen, sondern werden bereits in der ersten Sitzung kurz angesprochen und in Gang gesetzt (Gloster et al., in Begutachtung). Dennoch mag die nachfolgend beschriebene Abfolge von Strategien als Anhaltspunkt für eine mögliche Strukturierung und einen möglichen Ablauf der Therapie dienen.
Das vorliegende Manual gibt den Therapeuten nicht nur ACT-spezifische Richtlinien an die Hand, sondern auch praktische Hinweise dafür, wie sie die ACT-Prinzipien und -Techniken mit den erfolgreichsten und effektivsten Aspekten von kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen vereinen können – insbesondere der Exposition und der Verhaltensaktivierung, aber auch mit einem Training der sozialen Fertigkeiten, um die Defizite bei einigen Personen mit sozialen Angstproblemen auszugleichen.
2.1 Die zentralen Therapieprozesse
Die ACT ist ein funktioneller Ansatz, nicht lediglich eine Therapie oder Ansammlung von Behandlungsverfahren. Sie baut auf einem Modell mit mehreren miteinander zusammenhängenden Behandlungszielen auf, die im Laufe der Therapie ständig und immer wieder neu aufgegriffen werden. Auf einem praktischen Niveau bedeutet dies, dass Therapeuten zu relevant erscheinenden Zeitpunkten erneut auf Konzepte, Metaphern und Übungen zurückkommen, die früher bereits besprochen wurden.
Obwohl wir für jede Sitzung konkrete Vorschläge für Übungen und andere therapeutische Aktivitäten machen, sollten die Therapeuten Übungen und Metaphern auf eine flexible und kreative Weise aufeinander folgen lassen und anwenden. Das bedeutet auch, dass sie die Techniken den spezifischen Umständen und Reaktionen jedes einzelnen Patienten anpassen sollten. Eine solche Individualisierung sollte jedoch immer von einem Verständnis der zentralen Prozesse geleitet sein, deren Veränderung Ziel der ACT sind und die gerade im Moment im Fokus sind. Insofern warnen wir auch vor allzu viel Individualisierung und empfehlen Therapeuten, sich so eng wie möglich an das Manual zu halten. Schulte und Eifert (2002) kamen nach jahrelanger Forschung zu diesem Thema zu der Schlussfolgerung, dass Therapeuten viel zu oft und zu schnell vom Manual abweichen und dass Therapeuten, die dieser Versuchung widerstehen (von einigen eng umschriebenen Situationen abgesehen), oft erheblich bessere Therapieergebnisse erzielen.
Obwohl die nachstehend beschriebenen sechs Therapieprozesse nicht sukzessiv nacheinander bearbeitet werden, so kommen sie dennoch zumindest in einer gewissen zeitlichen Aufeinanderfolge zum Tragen.
|22|2.1.1 Akzeptieren statt Kontrolle – Therapiemotivation schaffen durch „kreative Hoffnungslosigkeit“
In der ersten Sitzung vermitteln die Therapeuten den Patienten ein Verständnis der Eigenart und des Zwecks der Angst und verdeutlichen ihnen, weshalb Angst zu einem bedeutsamen Problem im Leben werden kann. Die Therapeuten beschreiben Angst und Furcht zunächst als adaptive Emotionen, die zu einem Problem werden können, wenn die Patienten auf ihre ängstlichen Gedanken, Gefühle und Erinnerungen in rigider und unflexibler Weise reagieren, um diese zu beseitigen oder zu reduzieren. Die Therapeuten helfen dem Patienten auf der Erlebensebene zu der Einsicht zu gelangen, dass der Kampf und die Kontrolle seine Funktionstüchtigkeit im Alltag beeinträchtigen und ihn daran hindern, Lebensziele zu erreichen. Anschließend erkunden sie diese Auffassung kurz im Hinblick auf die Lebenserfahrungen des Patienten in verschiedenen Lebensbereichen.
Die Therapie wird als eine Möglichkeit begriffen, neue und flexiblere Reaktionsweisen auf Angst zu erlernen und zu üben. Das Ziel für die Patientinnen und Patienten besteht darin, Fertigkeiten und Methoden zu lernen, wie man die Angst nicht länger zu einem Hindernis dafür werden lässt, das zu machen, was man will, damit man ein erfülltes und sinnvolles Leben führen kann. Die Therapeuten nutzen die erste Sitzung auch dafür, die aktive, erfahrungsgeleitete und partizipative Eigenart der ACT zu betonen. Ebenso konzentrieren sie sich darauf, eine harmonische Beziehung zueinander zu entwickeln und verbreitete Fehlvorstellungen über Furcht und Angst abzubauen (etwa: „Angst ist schlecht und ein Problem, das gelöst werden muss“).
Der erste Schritt in eine neue Richtung besteht darin, die bisherigen nutzlosen Strategien aufzugeben und Raum für neue, radikal andere Lösungen zu schaffen. Durch verschiedene Übungen in den ersten zwei Sitzungen erleben die Patienten hautnah, dass die vielen Strategien und Versuche, Angst zu kontrollieren oder gar zu beseitigen, langfristig nicht funktioniert und ihre Lebenssituation letztendlich nur verschlechtert haben. Sie erleben dabei, was sie eher nicht kontrollieren (z. B. was das „Angstmonster“ tut) und was sie eher kontrollieren können – nämlich all das, was sie selbst mit ihren Händen und Füßen machen. Derartige Übungen und andere Metaphern werden während dieser Behandlungsphase verwendet, um eine „kreative Hoffnungslosigkeit“ (Eifert, 2011) auszulösen. Dies geschieht, indem man die Patienten erfahren lässt, dass frühere Lösungen nicht funktioniert haben (hoffnungslos sind) und dass die Therapie ihnen die Möglichkeit gibt, neue Ergebnisse mit einem radikal anderen Ansatz zustande zu bringen (akzeptieren statt kämpfen). Um dorthin zu gelangen, müssen die Patienten von den alten Strategien, die nicht funktioniert haben, ablassen.
Viele Patienten haben Schwierigkeiten, zu begreifen, was „Loslassen“ im praktischen Sinne bedeutet und wie ein Verhalten des „Loslassens von etwas“ aussieht. Ein praktischer Aspekt des Loslassens besteht darin, zu lernen, angstbezogene Erfahrungen eher achtsam zu beobachten, als mit ihnen zu kämpfen, oder zu versuchen, derartige Erfahrungen unmöglich zu machen. Dieses Thema wird mit einer formalen, zwölfminütigen Achtsamkeitsübung mit geschlossenen Augen eingeführt („Gedanken und Gefühle achtsam beobachten“), die für die Zwecke dieses Programms zur Angstbehandlung aus allgemeineren Übungen oder aus Varianten für andere Störungen adaptiert wurde (Eifert, McKay & Forsyth, 2009; Forsyth & Eifert, 2010; Segal et al., 2008).
Für die Patienten besteht das Ziel darin, zu üben, die Aufmerksamkeit auf ihre Atmung zu richten und zu lernen, wie man andere innere Ereignisse, etwa Gedanken, Gefühle und Empfindungen, beobachtet und sie einfach kommen und gehen lassen kann, ohne an ihnen zu arbeiten. Wenn sie die Aufmerksamkeit auf ihre Empfindungen richten, werden sie erkennen, wie sie sich von einem Augenblick zum anderen ändert, wie sie von selbst kommt und geht – ohne irgendeine Anstrengung ihrerseits. Die Patienten werden gebeten, diese Übungen mindestens einmal am Tag zu Hause zu machen.
2.1.2 Identifizierung von Werten und Zielen
Die ACT ist ein konstruktiver Ansatz zur Verhaltensänderung mit dem eindeutigen Fokus und der Absicht, die Lebensqualität des Patienten zu verbessern. Genau deswegen ist das vielleicht wichtigste Ziel unseres Programms, die Patienten dazu zu ermutigen, sich immer mehr auf ein Verhalten |23|einlassen, das auf ihre Lebensziele ausgerichtet ist. Die...