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AD(H)S

Symptome - Psychodynamik - Fallbeispiele - psychoanalytische Theorie und Therapie

AutorEvelyn Heinemann, Hans Hopf
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl196 Seiten
ISBN9783170295032
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit und ohne Hyperaktivität AD(H)S zählt heute zu den häufigsten Diagnosen im Kindes- und Jugendalter. Gegen den inflationären Gebrauch der Diagnose und die Tendenz, ausschließlich organische Ursachen in Betracht zu ziehen und demzufolge überwiegend medikamentös zu behandeln, lenkt das Buch die Aufmerksamkeit auf die soziokulturellen Hindergründe, die sich nicht zuletzt in veränderten Erziehungsformen niederschlagen. Die Lebensgeschichten der Kinder und Jugendlichen sowie ihre psychischen Konflikte werden beschrieben und geschlechtsspezifisch interpretiert. Anhand von Fallbeispielen werden Familiendynamiken szenisch verstanden und der analytische Prozess in Therapie und Pädagogik aufgezeigt. Die Frage des Ritalinkonsums wird ethnopsychoanalytisch und an Fällen kritisch hinterfragt. Das Buch besticht durch seine zahlreichen Fallbeispiele, die Theorie und Praxis miteinander verbinden.

Prof. Dr. Evelyn Heinemann lehrt Allgemeine Sonderpädagogik an der Universität Mainz. Dr. Hans Hopf ist Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut.

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Leseprobe

1 Symptome und Internationale Klassifikation


Die AD(H)S (Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit und ohne Hyperaktivität) gehört heute zu den häufigsten Diagnosen im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich. Nach einer repräsentativen Umfrage unter Eltern sind nach deren Meinung 3–10 % aller Kinder betroffen, im Jugendalter nimmt die Symptomatik ab (Döpfner/Frölich/Lehmkuhl 2000, 4). Das Verhältnis Jungen : Mädchen wird in den verschiedenen Studien mit 3–9 : 1 angegeben (Knölker 2001, 16; Döpfner/Frölich/Lehmkuhl 2000, 6).

Seit dem Buch „Struwwelpeter“ des Frankfurter Nervenarztes Dr. Heinrich Hoffmann (1845) werden bewegungsfreudige „Zappelphilippe“ als Störenfriede im familiären und sozialen Raum betrachtet (Laehr 1875; Schüle 1877; Pick et al. 1904, zit. in Nissen 2005). In seinem Buch „Die Charakterfehler des Kindes“, 1891 erschienen, entwarf Jean Paul Friedrich Schulz in dem Kapitel „Das unruhige Kind“ bereits eine sorgfältig ausgearbeitete Psychopathologie des hyperkinetischen Syndroms und beschrieb eine gelegentliche Komorbidität mit ticartigen Erscheinungen (Nissen 2005, 356). Der Heidelberger Kinderpsychiater August Homburger rechnete die psychomotorisch unruhigen Kinder zu den „psychopathischen Konstitutionen“ und entwarf 1926 modellhaft ein komplettes Erscheinungsbild der ADHS-Störung gemäß F90.0 ICD-10 (zit. in Nissen 2005). 1932 beschrieben Kramer und Pollnow das Hyperkinetische Syndrom mit der folgenden Anamnese: In den ersten Lebensjahren habe sich das Kind noch ruhig verhalten, dann seien nach einem fieberhaften Infekt oder im Anschluss an epileptische Anfälle starke Unruhezustände aufgetreten, die immer heftiger wurden. Meist habe die Unruhe im dritten oder vierten Lebensjahr eingesetzt und ihren Höhepunkt im sechsten Lebensjahr erreicht. In der Pubertät habe sich die Bewegungsunruhe schließlich wieder zurückgebildet (zit. in Nissen 2005, 475). Die in der alten psychiatrischen Literatur beschriebenen Kinder mit einem hyperkinetischen Syndrom wiesen so gut wie immer feststellbare organische Defizite auf, zumeist nach Krankheiten des Zentralnervensystems.

1947 schufen Strauß und Lethinen mit der „minimal brain damage“ ein Konzept, nach dem hypostasierte, jedoch morphologisch nicht verifizierbare Hirnschädigungen als Ursachen für motorische Unruhe und kindliche Neurosen vermutet wurden. Aufgrund des fehlenden Nachweises einer mit der Symptomatik korrelierenden Hirnschädigung vollzog man schließlich einen Begriffswechsel (Mattner 2002, S. 10): Der Begriff „damage“ wurde 1966 in „dysfunction“ umgewandelt, und die gesamte Bezeichnung lautete fortan „Minimal cerebral dysfunction“ oder kurz „MCD“. Der Begriff MCD wurde später meist synonym zum Hyperkinetischen Syndrom gebraucht.

Lempp sprach in diesem Zusammenhang von einem „frühkindlich exogenen Psychosyndrom“ (Nissen 2005, 444f.). Übrig geblieben ist davon der Begriff der so genannten Teilleistungsstörung als ein „hirnorganisches Psychosyndrom“, obwohl ein kausaler Zusammenhang nie nachgewiesen werden konnte. Über das Ende der Diagnose MCD schreibt Nissen, dass die leichte frühkindliche Hirnschädigung, „diese unzulässig überdehnte, ubiquitäre Diagnose“ darum schließlich überfällig wurde, „weil sie mit Prävalenzraten von 10 bis 30 Prozent in einen definitorischen Gegensatz zum Begriff Normalität geriet“ (ebd., 445). Derselbe Autor geht gemäß Einschätzung neuerer Untersuchungen von einer hirnorganischen Kerngruppe von höchstens 1 bis 2 Prozent aus. Wir können diesen Prozess der unzulässigen Überdehnung einer Diagnose wiederum bei der ADHS beobachten, wenn inzwischen von Prävalenzraten bis zu 10 % gesprochen wird (Knölker 2001).

Die heute gängigen diagnostischen Kriterien für AD(H)S werden nach dem DSM IV und der ICD-10 erstellt. Nach dem DSM IV sind diese wie folgt (Knölker 2001, 15):

A.1 Unaufmerksamkeit

(sechs oder mehr der folgenden Symptome)

  1. beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten
  2. hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder bei Spielen aufrechtzuerhalten
  3. scheint häufig bei Ansprache nicht zuzuhören
  4. führt immer wieder Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens- oder Verständnisschwierigkeiten)
  5. hat oftmals Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren
  6. vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich oft nur widerwillig mit Aufgaben, die längerdauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben)
  7. verliert immer wieder Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (Spielsachen,Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug)
  8. lässt sich durch äußere Reize leicht ablenken
  9. ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich

A.2 Hyperaktivität und Impulsivität

(sechs oder mehr der folgenden Symptome)

Hyperaktivität

  1. zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum
  2. steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzen bleiben erwartet wird, immer wieder auf
  3. läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben)
  4. hat oft Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen
  5. ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre er/sie „getrieben“
  6. redet übermäßig viel

    Impulsivität

  7. platzt häufig mit Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist
  8. kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist
  9. unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder in Spiele anderer hinein)

B   Symptomatik tritt vor dem 7. Lebensjahr auf

C   Beeinträchtigungen durch diese Symptome in zwei und mehr Bereichen (Schule, Arbeitsplatz, zu Hause)

D   Deutliche Hinweise für klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen

E   Ausschluss

  • tief greifende Entwicklungsstörungen
  • Schizophrenie
  • andere psychotische Störungen
  • affektive, dissoziative Störungen
  • Angststörungen
  • Persönlichkeitsstörungen

Die AD(H)S setzt sich nach dem DSM IV aus den drei Komponenten Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität zusammen.

Nach der ICD-10 (Dilling u. a. 1993, 293ff.) wird eine Gruppe hyperkinetischer Störungen beschrieben, die charakterisiert sind durch einen frühen Beginn und überaktives, wenig moduliertes Verhalten mit deutlicher Unaufmerksamkeit und Mangel an Ausdauer bei Aufgabenstellungen. Das Verhalten ist situationsunabhängig und zeitstabil. Die Diagnose einer reinen Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität ist im Rahmen der Hyperkinetischen Störung der ICD-10 (Kategorie F 90.0) nicht möglich. Für sie sieht die ICD-10 eine Restkategorie F 90.8 vor, die jedoch völlig unspezifisch ist.

Verschiedene andere Störungen können laut ICD-10 (ebd., 293f.) hinzukommen: „hyperkinetische Kinder sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und – eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich – zu Regelverletzungen, worauf sie mit den disziplinarischen Folgen konfrontiert sind. Ihre Beziehungen zu Erwachsenen sind oft von Distanzlosigkeit und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt; bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert werden. Eine kognitive Beeinträchtigung ist üblich, spezifische Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung sind überproportional häufig.“

Weiterhin wird von sekundären Komplikationen wie dissozialem Verhalten und niedrigem Selbstwertgefühl gesprochen. Begleitende Leseschwierigkeiten und andere schulische Probleme sind verbreitet.

Die Hauptsymptome sollten in mehr als einer Situation (zu Hause, Schule etc.) vorkommen. Die Überaktivität kann sich neben Herumlaufen und Aufstehen auch in ausgeprägter Redseligkeit und Lärmen oder im Wackeln, Zappeln u. Ä. äußern.

Neben der Distanzlosigkeit in sozialen Beziehungen kommt es gelegentlich zu Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen und impulsiver Missachtung sozialer Regeln. Schwierigkeiten, zu warten bis man an der Reihe ist, Lernstörungen und motorische Ungeschicklichkeiten treten gehäuft auf.

Neben den Hauptsymptomen werden von Döpfner/Schürmann/Frölich (1998, 2ff.) zusätzlich andere Auffälligkeiten beschrieben:

a) Soziale Probleme im Kontakt mit anderen Kindern

Viele hyperaktive Kinder verhalten sich anderen Kindern gegenüber zudringlich, unterbrechen deren Aktivitäten oder versuchen, diese zu dominieren und zu kontrollieren. Ein großer Teil zeigt zusätzlich Aggressivität gegenüber Gleichaltrigen. Auch in Gleichaltrigengruppen verletzen sie die Grenzen und entziehen sich den Regeln. Sie sind oft unbeliebt oder werden abgelehnt.

b) Oppositionelle Verhaltensstörungen

Die Kinder mit Hyperaktivität neigen zu einer deutlich verminderten Frustrationstoleranz mit...

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