1. EINLEITUNG
Er ist noch immer da. Der lange Schatten Adolf Hitlers lastet nach wie vor auf der deutschen und europäischen Geschichte. Mit seinem Namen verbindet sich bis heute die Erinnerung an Diktatur, Krieg und Völkermord. Er ist zum Inbegriff des Bösen und des Monströsen geworden. Zu den Bildern von Hitlers Macht, die sich in unsere Erinnerung eingegraben haben, gehören jedoch nicht nur Bilder von Marschkolonnen, Lagern und Leichenbergen, sondern auch von jubelnden «Volksgenossen», von Zeichen massenhafter Begeisterung und Zustimmungsbereitschaft zu ihrem «Führer». Hitler gab sich als nationaler Retter und ließ sich schließlich als politisches Genie feiern. Damit erfüllte er die Erwartungen einer krisengeschüttelten und erlösungsbereiten Gesellschaft, hinter deren Hoffnungen auf die vermeintliche Geschlossenheit einer «nationalen Volksgemeinschaft» sich die blutige Praxis der Ausgrenzung und Vernichtung von «Gemeinschaftsfremden» nur teilweise verbergen konnte. Hitlers Macht konnte sich auf die sozialen Erlösungs- und Aufstiegssehnsüchte stützen, die er zu mobilisieren verstand, wie auf Erfolge bei der Sicherung von Arbeit und Brot sowie der Wiedergewinnung von «nationaler Größe», die von seiner Propaganda ins Gigantische gesteigert wurden. Dass die Kehrseite dieser «Erfolge» in der permanenten Drohung mit Gewalt und Verfolgung sowie in der Vorbereitung eines Eroberungskrieges bestand, wollten nur wenige Zeitgenossen sehen.
Abb. 1 Dass der Nationalsozialismus Krieg und Zerstörung bedeuten würde, hatten nicht wenige kritische Zeitgenossen befürchtet, ohne eine Vorstellung von dem zu haben, was sie wirklich erwarten sollte. Erwin Blumenfeld hatte das schon 1933 in einer Collage eines Hitler-Porträts angedeutet; Marinus Kjeldgaard hat dieses Bild aufgegriffen und 1939/40, als die Vorahnung Wirklichkeit geworden war, in einer Fotomontage daraus einen Totenkopf mit Hitler-Tolle gemacht.
Abb. 2 Spätestens im Superwahljahr 1932 wurde, wie mit diesem Wahlplakat, Adolf Hitler von der Propaganda zur «Hoffnung von Millionen» stilisiert, und der Führermythos wurde zu einem Massenphänomen. Der «Führer» versprach nationale Erneuerung und soziale Rettung.
Faszination und Gewalt waren die tragenden Säulen von Hitlers Macht. Seine Diktatur war wie kaum eine andere im 20. Jahrhundert Ausdruck einer personalisierten Herrschaft.[1] Das suggerierten nicht nur die Bilder von Ordnung und Charisma, mit denen die Geschlossenheit des Regimes und die Identität von «Führer» und «Volk» behauptet wurden. Das entsprach, freilich in charakteristischer Abweichung, auch den politischen Strukturen des nationalsozialistischen Regimes, das ohne die Person Hitlers nicht denkbar und das zugleich Voraussetzung für eine beispiellose Entfaltung von Macht und Zerstörung war. Person und Herrschaft waren eng miteinander verschränkt: Ohne die persönliche Macht Hitlers hätte das Regime völlig anders ausgesehen, ohne seine Ämter und ohne Politik wäre Hitler umgekehrt nicht vorstellbar, auch wenn seine Lebensgeschichte darin nicht aufgeht. Doch blieb diese «private» Seite durch suggestive Bilder und Selbstinszenierungen weitgehend verborgen bzw. stilisiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass er eine «Unperson»[2] war, dessen persönliche Eigenschaften und Verhaltensformen völlig in seiner Politik aufgingen oder erst durch die Politik ausgeformt wurden. Auch eine politische Biographie Hitlers muss den persönlichen Elementen und Prägungen nachgehen, die sein politisches Handeln mit bestimmten.[3]
Wie kaum ein anderer hat Adolf Hitler die Politik des 20. Jahrhunderts geprägt und zugleich die dunklen Seiten der Moderne, ihre Mobilisierungs- und Zerstörungskräfte demonstriert. Die Konsequenz, mit der er zu dieser Machtentfaltung und zu dieser Explosion der Gewalt fähig war, überrascht immer wieder, wenn man bedenkt, dass zunächst nichts auf seine politische Karriere als umjubelter «Führer» der Nation und verbrecherischer Kriegsherr hingedeutet hat. Im Gegenteil, Adolf Hitler hat die ersten dreißig Jahre seines Lebens als Namenloser am Rande der Gesellschaft gelebt und ganz im Gegensatz zu seinen eigenen, autobiographischen Selbstverklärungen kaum ernsthafte Anstrengungen zu einer beruflichen Ausbildung und bürgerlichen Bildung unternommen. Er führte ein «zielloses Leben».[4] Auch gibt es für die ersten drei Jahrzehnte seines Lebens keine schlüssigen Hinweise auf ein politisches Engagement oder auf politische Vorstellungen, die ihn geleitet hätten. Mehr noch: Selten ist jemand, ohne eine wirkliche politische «Lehrzeit» durchlaufen zu haben, in so kurzer Zeit zum Partei- und Massenführer aufgestiegen; selten hat jemand so unvorbereitet das Amt des Reichskanzlers erobern und dieses in kürzester Zeit zu einer außerordentlichen persönlichen Machtfülle ausbauen können. Erst wird er, so hat Sebastian Haffner schon vor mehr als vierzig Jahren konstatiert, von der Geschichte gemacht, dann macht er Geschichte.[5]
Niemand wird heute diese außergewöhnliche Karriere allein mit Hitlers persönlichen «Qualitäten» erklären oder ihn gar zum politischen Genie erheben, wie das nicht wenige Zeitgenossen getan haben. Umso plausibler könnte es dann erscheinen, Hitlers Weg in die Politik und vor allem zur Macht allein mit den gesellschaftlichen Bedingungen oder den gesellschaftlichen Erwartungen zu erklären, die sein Handeln bestimmt und seine Karriere gefördert haben.[6] Dass sein Weg in die Politik nicht ohne willige Helfer und nicht ohne die revolutionäre Nachkriegskrise zu erklären ist, bleibt unbestritten. Doch was für seine politischen Anfänge und seinen Aufstieg zur Münchner Lokalgröße gilt, muss nicht für alle weiteren Etappen und Entscheidungen zutreffen. Denn Bierhallenagitatoren und faschistische Parteiführer, die auf vielfache Unterstützung zurückgreifen konnten, gab es in den unruhigen 1920er Jahren viele, aber kaum einer hat in kurzer Zeit, taktisch überaus flexibel und auf Eigenständigkeit bedacht, sich eine solche Machtfülle verschaffen und seine Macht schließlich in einem solchen Ausmaß zu Eroberung und Vernichtung missbrauchen können. Hitler war mehr als nur ein Rollenspieler oder die bloße Projektionsfläche von politischen und gesellschaftlichen Erwartungen oder Zuschreibungen. Er hat diese vielmehr für sich eingesetzt bzw. immer wieder verstärkt. Es ist hingegen die Kombination von persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des Politikers Adolf Hitler mit den politischen und mentalen Bedingungen und Erwartungen einer Gesellschaft, die in einer komplexen Wechselwirkung Hitlers Aufstieg zur diktatorischen Macht ermöglicht hat. Es war eine Welt, die durch Krieg und revolutionäre Nachkriegswirren aus den Fugen geraten war, die schließlich den Boden dafür bereitet hat, dass ein einziger Mann, der im Zentrum eines extrem personalistischen Herrschaftssystems und einer Zustimmungsdiktatur stand, einen Zivilisationsbruch von so ungeheurem Ausmaß herbeiführen konnte. Hitler war ein Kind der Krise, und er hat eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts herbeigeführt.
Es sind immer wieder dieselben Fragen, die schon mehrere Nachkriegsgenerationen beschäftigt haben:[7] Wie waren Hitlers Herrschaft und seine Vernichtungspolitik in einer hochzivilisierten Gesellschaft möglich? Wie war Hitler überhaupt möglich? Wie konnte es geschehen, dass ein sozialer und politischer Niemand, der dreißig Jahre ein Leben am Rande der Gesellschaft verbracht hat und ohne Schul- und Berufsabschluss geblieben war, so schnell zu diktatorischer Macht aufstieg, ohne zuvor eine klassische politische Karriere vom Schriftführer zum Führer einer Partei durchlaufen zu haben? Wie konnte er in kürzester Zeit eine Massenbewegung mobilisieren und zu unumschränkter Macht gelangen, was ihn in die Lage versetzte, politische Entscheidungen von welthistorischer Tragweite zu treffen, dramatische Entwicklungen einzuleiten und Massenverbrechen von bis dahin nie gekanntem Ausmaß zu begehen? Auch wenn über Hitler wie über kaum einen anderen Politiker des 20. Jahrhunderts unendlich viel geforscht und geschrieben wurde, gilt knapp ein Dreivierteljahrhundert nach dem Tod des Diktators: Mit Hitler sind wir noch lange nicht fertig.
Abb. 3 Auch der Film hat schon sehr früh die Auseinandersetzung mit Adolf Hitler gesucht – zunächst allerdings nur im Ausland. Charlie Chaplins Film «Der große Diktator» von 1940 war einer der ersten und bis heute wirkungsmächtigsten filmischen...