Krise, welche Krise?
Die heutige Situation Südkoreas lässt an die Anfangszeilen aus Charles Dickens’ Eine Geschichte von zwei Städten denken: »Es war der Frühling der Hoffnung und der Winter des Verzweifelns. Wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung […]«.[16] In Südkorea finden wir höchste Wirtschaftsleistung, gepaart mit der verrückten Intensität des Arbeitsrhythmus; den ungezügelten Himmel des Konsums, durchdrungen von der Hölle der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit; überfließenden materiellen Reichtum, aber die Verwüstung der Landschaft; die Imitation alter Tradition, aber mit der höchsten Selbstmordrate der Welt. Diese radikale Zweideutigkeit stört auch das Bild des heutigen Südkorea als einer vollendeten Erfolgsgeschichte – Erfolg ja, aber was für ein Erfolg?
Die Weihnachtsausgabe 2012 des Spectator eröffnete mit dem Editorial »Warum 2012 das beste Jahr aller Zeiten war«, das sich gegen die Wahrnehmung richtet, dass wir in »einer gefährlichen, grausamen Welt leben, in der die Dinge immer schlimmer werden«:
Es mag sich nicht so anfühlen, aber 2012 ist das beste Jahr in der Weltgeschichte gewesen. Wenn es zwar nach einer extravaganten Behauptung klingt, stützt sie sich doch auf klare Beweise. Nie hat es weniger Hunger gegeben, weniger Krankheit oder weniger Wohlstand. Der Westen steckt zwar weiterhin in einer ökonomischen Flaute, aber die meisten Schwellenländer stürmen weiter nach vorne, und die Menschen werden schneller denn je aus der Armut hinausbefördert. Die Todesraten aufgrund von Krieg und Naturkatastrophen sind denkbar niedrig. Wir leben in einem goldenen Zeitalter.[17]
Dieselbe Idee legt Matt Ridley detailliert dar – hier der englische Klappentext für sein Buch Wenn Ideen Sex haben [engl. Rational Optimist]:
Als Gegenschlag gegen den vorherrschenden Pessimismus unserer Zeit beweist das Buch, sosehr wir auch das Gegenteil glauben mögen, dass die Dinge besser werden. Vor 10000 Jahren lebten weniger als zehn Millionen Menschen auf der Erde. Heute sind es mehr als sechs Milliarden, von denen 99 Prozent besser ernährt, besser behaust, besser unterhalten und besser vor Krankheit geschützt sind als ihre Vorfahren aus der Steinzeit. Die Verfügbarkeit von fast allem, was eine Person wollen oder benötigen kann, ist in den letzten 10000 Jahren sprunghaft angestiegen und hat sich in den letzten 200 Jahren stark beschleunigt: Kalorien, Vitamine, Trinkwasser, Maschinen, Privatheit, die Möglichkeit, schneller zu reisen, als wir laufen können, die Fähigkeit, über weitere Entfernungen zu kommunizieren, als wir rufen können. Doch obwohl viele Dinge besser werden, als sie vorher waren, scheinen die Menschen groteskerweise zu glauben, dass die Zukunft eine einzige Katastrophe sein wird.[18]
Und in Steven Pinkers Gewalt [engl. The Better Angels of Our Nature] heißt es ähnlich – hier der englische Klappentext:
Ob Sie es glauben oder nicht, wir leben heutzutage im friedvollsten Moment in der Geschichte unserer Gattung. In seinem packenden und kontroversen neuen Buch zeigt New York Times-Bestseller-Autor Steven Pinker, dass trotz der nicht abreißenden Nachrichten von Krieg, Verbrechen und Terrorismus die Gewalt über weite Abschnitte der Geschichte auf dem Rückmarsch ist. Gegen die Mythen von der den Menschen eigenen Gewalt und gegen den Fluch der Moderne setzt dieses ehrgeizige Buch Steven Pinkers Forschung über die Essenz der menschlichen Natur fort und greift auf Psychologie und Geschichte zurück, um ein bemerkenswertes Bild einer zunehmend aufgeklärten Welt zu zeichnen.[19]
In den Massenmedien, speziell der nichteuropäischen Länder, hört man öfter einer bescheidenere Version dieses Optimismus, der sich auf die Wirtschaft konzentriert: Krise, welche Krise? Man betrachte die BRIC-Staaten oder Polen, Südkorea, Singapur, Peru, etliche subsaharische afrikanische Länder: Sie alle wachsen. Die Verlierer sind nur Westeuropa und, bis zu einem gewissen Grad, die USA; wir haben es also mit keiner globalen Krise zu tun, sondern befinden uns an einem Wendepunkt der Fortschrittsdynamik, die sich vom Westen entfernt. Ist ein mächtiges Symbol für diesen Wandel nicht die Tatsache, dass in jüngerer Zeit viele Menschen aus Portugal, einem Land in tiefer Krise, nach Mosambik und Angola, die Exkolonien Portugals, zurückkehren, aber diesmal als Wirtschaftsimmigranten und nicht als Kolonialherren? Unsere vielbeweinte Krise ist ihren Namen kaum wert, wenn sie lediglich eine lokale Krise innerhalb eines Gesamtrahmens des Fortschritts ist. Selbst in Bezug auf die Menschenrechte ließe sich fragen: Ist die Situation in China und Russland heute nicht viel besser als vor fünfzig Jahren? Die derzeitige Krise als globales Phänomen zu beweinen ist einer typisch eurozentristischen Sicht geschuldet und noch dazu einer Sicht der Linken, die sich für gewöhnlich für ihren Anti-Eurozentrismus auf die Schulter klopfen.
Mit vielen Einschränkungen kann man grob die Daten akzeptieren, auf die sich diese »Rationalisten« beziehen. In der Tat leben wir heute eindeutig besser als unsere Vorfahren vor 10000 Jahren, und selbst ein durchschnittlicher Häftling in Dachau (dem Nazi-Arbeitslager, nicht Auschwitz, dem Todeslager) lebte wenigstens etwas besser als wahrscheinlich ein Sklave der Mongolen. Die Vergleiche ließen sich fortsetzen – aber diese Erfolgsgeschichte verfehlt einen entscheidenden Punkt.
Zunächst einmal – wir sollten hier unsere antikolonialistische Freude dämpfen – stellt sich die Frage: Wenn Europa sich in allmählichem Verfall befindet, was ersetzt dann seine Hegemonie? Die Antwort lautet: »Der asiatische Kapitalismus« (der selbstverständlich nichts mit dem asiatischen Volk, dafür alles mit der gegenwärtigen klaren Tendenz des Kapitalismus zu tun hat, die Demokratie außer Kraft zu setzen). Seit Marx war die wahrhaft radikale Linke nie einfach »fortschrittlich«; sie war besessen von der Frage: Was ist der Preis des Fortschritts? Marx war vom Kapitalismus fasziniert, von der nie dagewesenen Produktivität, die er entfesselte; er bestand aber darauf, dass ebendieser Erfolg Antagonismen hervorbringt. Wir sollten dasselbe in Bezug auf den heutigen Kapitalismus tun: seine dunkle Kehrseite im Auge behalten, die Revolten schürt.
Das alles beinhaltet, dass die heutigen Konservativen in Wirklichkeit nicht konservativ sind. Während sie die permanente Selbstrevolutionierung des Kapitalismus vollständig billigen, wollen sie ihn letztlich nur effizienter gestalten, indem sie ihn mit einigen traditionellen Institutionen ausstatten (Religion beispielsweise), um seine zerstörerischen Folgen für das soziale Leben zu begrenzen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stützen. Ein wahrer Konservativer ist heutzutage jemand, der die Antagonismen und Sackgassen des Kapitalismus voll und ganz eingesteht, derjenige, der einfachen Fortschritt zurückweist und sich der dunklen Kehrseite des Fortschritts bewusst ist. In diesem Sinne kann nur ein radikaler Linker heute ein wahrer Konservativer sein.
Die Leute rebellieren nicht, wenn die »Dinge wirklich schlecht stehen«, sondern wenn ihre Erwartungen enttäuscht werden. Die Französische Revolution ereignete sich, nachdem der König und die Adligen allmählich über Jahrzehnte ihren Zugriff auf die Macht verloren hatten; die antikommunistische Revolte von 1956 in Ungarn brach aus, nachdem Imre Nagy bereits seit zwei Jahren Ministerpräsident gewesen war und es bereits (relativ) freie Debatten unter Intellektuellen gegeben hatte; 2011 rebellierte das Volk in Ägypten, weil es wirtschaftlichen Fortschritt unter Mubarak gegeben hatte. Dieser hatte eine ganze Schicht von gutausgebildeten jungen Menschen hervorgebracht, die sich an der globalen digitalen Kultur beteiligten. Aus diesem Grund tun die chinesischen Kommunisten recht daran, in Panik zu verfallen, weil die Chinesen im Durchschnitt heute besser leben als vor 40 Jahren, die sozialen Antagonismen (zwischen den Neureichen und dem Rest) sich aber verschärft haben und die Erwartungen der Menschen nun deutlich höher sind. Genau das ist das Problem an Entwicklung und Fortschritt: Sie sind immer ungleichmäßig, sie bringen neue Instabilität und neue Antagonismen hervor und wecken Erwartungen, die nicht erfüllt werden können. In Tunesien oder Ägypten kurz vor dem Arabischen Frühling lebte die Mehrheit der Bevölkerung wahrscheinlich etwas besser als einige Jahrzehnte zuvor, aber die Standards, in denen sie ihre (Un-)Zufriedenheit bemaßen, waren deutlich höher.
Also haben der Spectator, Ridley, Pinker und ihre Gleichgesinnten im Prinzip recht, aber genau die Tatsachen, die sie hervorheben, schaffen die Voraussetzungen für Revolten und Rebellionen. Der Fehler, den man vermeiden muss, lässt sich am besten am Beispiel einer (möglicherweise apokryphen) Geschichte über den linken keynesianischen Ökonomen John Galbraith zeigen. Vor einer Reise in die Sowjetunion in den späten 1950er Jahren schrieb er seinem antikommunistischen Freund Sidney Hook: »Keine Sorge, ich werde mich von den Sowjets nicht verführen lassen und bei meiner Rückkehr behaupten, sie hätten dort Sozialismus!« Hook...