African Dream
Der kenianische Kioskbesitzer, der an der Main Road in Seapoint jeden Tag einzelne Klopapierrollen, chinesische Sneaker und geröstete Maiskörner an die Vorbeieilenden verkaufte, sagte mir, wenn ich auf dem Nachhauseweg in seinem Laden vorbeisah, immer schon gleich bei der Begrüßung, er werde Kapstadt bald verlassen. Diesen Plan wiederholte er bei jeder Begegnung. »Home is Home.« Dabei wiegte er seinen Kopf und ich verstand, dass er keinen Widerspruch duldete.
»Asante sana«, Danke, rief er mir gern zur Verabschiedung auf seiner Muttersprache Swahili hinterher, einer von den meisten Ostafrikanern gesprochenen Bantu-Sprache. Während eines viermonatigen Aufenthaltes im Herbst und Winter 2014 in Kenia hatte ich mir ein paar einfache Wörter gemerkt und es freute mich, dass er sich freute, wenn ich ihn mit »Jambo« begrüßte und mit »Kwaheri« verabschiedete. Er grinste dann breit und ich wusste, dass er in Gedanken bereits wieder durch die wuseligen Straßen Nairobis lief.
Sein kleiner Laden hatte auf einen ersten flüchtigen Blick nichts Außergewöhnliches an sich. Im hinteren Teil lagerten in einem Kühlregal ein wenig Joghurt und Sahne, daneben stapelten sich Packungen mit gekochtem Schinken oder Salami, im Regal rechts die Snacks, Chips und Erdnüsse, vorne links standen die eckigen Behälter mit Süßigkeiten, Lakritzschnecken und -stangen, und ein Glas mit mundgerechten Biltong-Stücken, die er mit einer Greifzange herausfischte. Das Besondere aber war, dass es hier fast alles gab, nicht nur die Leckereien, die auch in den Regalen der anderen Mini Supermarkets, Superretten oder Corner Shops standen, sondern auch das, was die Kunden eben auf die Schnelle für den Fernsehabend am Samstagabend oder den Morgen danach brauchten. Ich habe nie erlebt, dass er mir einen Wunsch nicht hatte erfüllen können. Wurde man in den vollgestopften Regalen im vorderen Teil des Geschäfts nicht fündig, kramte er in einer der unter der Theke gestapelten Kisten – und wenn er das Gesuchte auch dort nicht fand, verschwand er hinter einem schmuddeligen, beigefarbenen Vorhang und tauchte nach kurzer Zeit triumphierend mit Schuhcreme, Rohrreiniger oder einer Packung Kopfschmerztabletten wieder auf.
Ich hatte bei unserer ersten Begegnung sein Alter schwer schätzen können. Irgendwie war er alterslos, wie er da in seinem immer etwas zu großen, flatterigen Hemd hinter der Theke stand. Ein kleiner vitaler Mann mit Schnurrbart und kurzem krausen Haar. Ich vermutete, er sei um die 40, vielleicht auch 45. Und je öfter ich ihn traf, umso sicherer war ich, er müsse in der Mitte des Lebens stehen. Eine Zeit, in der man sein Leben Revue passieren lässt und sich der Frage stellt, ob man es dorthin gebracht hat, wohin man ursprünglich gewollt hatte, und wie es nun um die Träume steht, die man in den 20-ern, in der vollen Überzeugung, alles sei möglich, gehabt hatte. Vor 15 Jahren hatte er sich mit Ende 20 aus der völlig unkontrolliert wachsenden Hauptstadt Kenias aufgemacht nach Kapstadt, der Stadt am Meer, über die man sich in den Kneipen und Bars seinem Geburtsort Kibera, Nairobis größter Township, so viel Wundersames erzählte. Kapstadt war sein Traum, eine Stadt, die er sich, obwohl er noch nie in Europa oder Amerika gewesen war, irgendwie europäisch oder amerikanisch vorstellte. Kapstadt, dachte er, müsse sein wie London oder New York, nur eben in Südafrika.
Es war nicht viel, was der Kioskverkäufer im Herbst des Jahres 2003 – oder war es 2004 gewesen, so genau wusste er es nicht mehr – mitnahm: einen Beutel, ein paar Hemden und sein Rasiermesser. So erinnerte er das jedenfalls, und als er mir im Oktober 2016 hinter seiner Theke stehend die Geschichte seines Aufbruchs erzählte, glaubte ich ihm.
Interessanterweise ließ sich ausgerechnet im Jahr 1652 eine nennenswerte Anzahl niederländischer Siedler am Kap nieder – mehr oder weniger zu demselben Zeitpunkt, an dem eine andere Gruppe Niederländer »New Amsterdam« gründete, das spätere New York – eine weitere Parallele der beiden Städte außer der, dass sie seit ihrer Gründung Träumer aus der ganzen Welt anziehen.
Dass Kapstadt überhaupt zu einer weltbekannten Größe aufstieg und schon Menschen von überallher anzog, lange bevor der Kenianer sich aufmachte, verdankt es seiner Lage: Am äußersten südlichen Zipfel des afrikanischen Kontinents legten hier erschöpfte Seeleute – vermutlich Portugiesen im späten 15. Jahrhundert – auf der Suche nach einem alternativen Seeweg nach Indien eine Pause ein. Die arabische Halbinsel und das Mittelmeer waren durch die Entstehung des Osmanischen Reiches in diesen Jahren blockiert und so suchte man nach einer neuen Passage. Wenn auch die Portugiesen kein Bedürfnis verspürten, die Gegend zu kolonialisieren, so erhielt sie doch immerhin ihren Namen vom portugiesischen König Johann II.: Cabo da Boa Esperança, Kap der Guten Hoffnung, nannte er diesen äußersten Punkt der Kap-Halbinsel, voller Hoffnung, den Seeweg nach Indien entdeckt zu haben.
Ein anderer, wegen der ihm gestellten Aufgabe nicht unbedingt beneidenswerter, niederländischer Seemann, Johan Anthoniszoon »Jan« van Riebeeck, wurde 1652 damit beauftragt, in der rauen und stürmischen Region ein hölzernes Fort zu errichten, den Vorgänger des späteren Castle of Good Hope, dessen dicke Mauern noch heute von den Touristen bestaunt werden. Ich bin auf meinem Weg zur Stevenson Gallery – einer meiner liebsten Galerien in der Sir Lowry Road in Woodstock, die Arbeiten von südafrikanischen Fotografen und Fotografinnen wie Pieter Hugo und Zanele Muholi oder Künstlern wie Wim Botha zeigt – ein paarmal am Castle of Good Hope vorbeigelaufen. Es wurde während der Monate meines Aufenthaltes aufwendig restauriert, und immer wenn ich einen Blick in den Innenhof und die Gebäude werfen wollte, war er von Bauzäunen verstellt. So konnte ich nur von außen einen Eindruck von der Festung gewinnen, die vor allem vermittelte, wie stark das Bedürfnis der weißen Siedler gewesen sein muss, sich vor den Einheimischen zu schützen.
Die Festung war als Stützpunkt für die Versorgung der weiter gen Indien fahrenden Schiffe mit Lebensmitteln gedacht, besonders für die Seeleute des niederländischen Handelsunternehmens VOC, die Vereenigde Oost-Indische Compagnie. Die VOC war 1602 als Konkurrenz zur zwei Jahre zuvor entstandenen englischen East India Company gegründet worden. Die Niederländer hatten den Engländern den damals aufblühenden Welthandel nicht allein überlassen wollen.
Ein kleiner, akkurat angelegter Garten hinter dem Company’s Garden vor dem Iziko South African Museum erinnert daran, dass im 16. Jahrhundert dieser Ort die lange Überfahrt nach Indien oder andere asiatische Länder zu überstehen ermöglichte. Heute schlendern hier die Besucher zwischen den Beeten entlang, bewundern die Früchte und Stauden und können sich vorstellen, dass die Ernte einigen ausgehungerten Seemännern in früheren Zeiten den Magen füllte. Heute gehört der Garten zu dem angrenzenden Café und Restaurant der Company’s Gardens. Die Inhaber kümmern sich um die Beete und die Verarbeitung der Früchte für die Zubereitung der Gerichte. Ein Wächter, der die Pflanzen umkreist, um hungrige Obdachlose fernzuhalten, gab mir gewissenhaft Auskunft über alle hier angelegten Gemüsesorten: Es seien vor allem Kohl, verschiedene Salate oder Kräuter wie Petersilie und Minze, und auch Weinreben rankten an hölzernen Stäben. Die Trauben sehen mickrig aus, aber wie mir der kundige Sicherheitsmann verrät, sollen diese heute eher symbolisch darauf verweisen, dass in Zeiten der VOC eben auch Wein angebaut wurde, um die Stimmung der Seemänner mit Selbstgekeltertem etwas zu heben und ihr Heimweh zu lindern.
Ich stieß hier auf interessante, exotische Gewächse wie den Porkbush, Portulacaria afra, dessen kleine grüne Blätter essbar sind, wie ich auf dem Schild neben der Pflanze erfuhr. Die Blätter haben, las ich, einen säuerlichen Geschmack, und helfen klein gehackt bei Muskelverhärtungen und Entzündungen im Mund.
Die VOC kann man sich als eines der ersten weltweit agierenden Unternehmen vorstellen, das verschiedenste Waren von Kontinent zu Kontinent brachte. Der südafrikanische Historiker Herman Giliomee vergleicht den Einfluss der VOC in der damaligen Zeit mit dem eines Bill Gates oder Henry Ford. Und bedenkt man, dass allein zwischen 1602 und 1699 an die 1755 Schiffe von den Niederlanden aus nach Jakarta in Java segelten, scheint dieser Vergleich nicht weit hergeholt.
An Bord befanden sich viele Niederländer aus den untersten sozialen Schichten, die aus größter materieller Not bei der VOC angeheuert hatten. An Deck und auch nachdem sie an Land gegangen waren, wurden sie wie Sklaven behandelt und am Kap dazu abgestellt, das Land in der Nähe des Hafens zu beackern, um...