Gegen den Strom
Jedes weitertreibende Nachdenken über den afrikanischen Kontinent muss dem Anspruch einer absoluten intellektuellen Souveränität genügen. Es geht darum, dieses in Bewegung befindliche Afrika ohne die gängigen Worthülsen wie »Entwicklung«, »wirtschaftlicher Durchbruch«, »Milleniums-Entwicklungsziele«, »nachhaltige Entwicklung« … zu denken, die bisher dazu gedient haben, Afrika zu beschreiben, vor allem aber, die Mythen des Westens auf die Entwicklungsverläufe afrikanischer Gesellschaften zu projizieren. Diese Vokabeln haben es nicht vermocht, den Dynamiken des afrikanischen Kontinents gerecht zu werden oder die tiefgreifenden Veränderungen zu fassen, die sich dort abspielen. Dazu bleiben sie zu sehr einem westlichen Begriffskosmos verhaftet, der ihre Deutung der Wirklichkeit bestimmt. Indem sie die Entwicklung der afrikanischen Gesellschaften in eine Teleologie mit universellem Anspruch einschreiben, haben diese Kategorien, die in ihrer Prätention einer Bewertung und Beschreibung gesellschaftlicher Dynamiken Hegemonie beanspruchen können, die besondere Kreativität Afrikas ebenso verleugnet wie dessen Fähigkeit, Metaphern des eigenen Zukunftspotenzials zu formulieren. Diese Begriffe kollidierten mit der kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Komplexität der afrikanischen Gesellschaften und haben fremden mythologischen Universen ihr Interpretationsraster aufoktroyiert.
Eines der grundlegendsten Defizite dieser Begriffe rührt von dem her, was man ihre quantophrenische Schieflage nennen könnte, also vom Zwang, alles zu zählen, zu bewerten, zu quantifizieren und in Gleichungen einzufügen. Ein Bestreben, gesellschaftliche Dynamiken anhand von Indikatoren zu fassen, in denen sich die soziale Entwicklung abbilden soll. Quantifizierung ist nützlich, wenn es darum geht, etwas zu prognostizieren oder zu verwalten, zu antizipieren, das bereits Erreichte mit dem noch zu Erreichenden zu vergleichen oder auch die Verteilung einer bestimmten Art von Gütern zu organisieren. Dennoch besteht bei einer solchen mathematischen Reduktion der Realität die Gefahr, dass unvollkommene Maßeinheiten und Bezugspunkte unter der Hand in Zwecke des gesellschaftlichen Abenteuers umgedeutet werden.
Daraus ergibt sich die Frage nach der Bewertung des gesellschaftlichen Lebens und seiner Entwicklung anhand der gewohnten Kategorien, also der sozioökonomischen und soziopolitischen Indikatoren. Eines der Kriterien, von denen häufig Gebrauch gemacht wird, ist das des nationalen Wohlstands, ermittelt durch das Bruttosozialprodukt eines Landes oder auch anhand des »Index der menschlichen Entwicklung«. Solch addierte Indikatoren begnügen sich allerdings nicht damit, einen Schwellenwert des »Wohlstands« oder der »Verwirklichungschancen« anzugeben,6 den zu erreichen im Hinblick auf das Wohlergehen der Individuen und der Bevölkerungen wünschenswert sei, sondern sie klassifizieren auch die Nationen und erstellen eine Rangordnung, mit Klassenbesten und Klassenschlechtesten. Abgesehen von ihren statistischen Schwächen7 sagen diese Indikatoren, die auf die Lebensbedingungen der Menschen abzielen, nichts über das Leben selbst aus, also über die Qualität der gesellschaftlichen Beziehungen, ihre Intensität und Fruchtbarkeit, den Grad der sozialen Entfremdung, den Charakter des Beziehungslebens, des kulturellen und spirituellen Lebens usw. Alles, was unsere Existenz ausmacht, worin ihr Inhalt, ihr Sinn besteht, kurzum die Gründe, weshalb es sich überhaupt lohnt zu leben: All das fällt durch das grobmaschige Netz der Wohlstandsindikatoren hindurch.
Aktuell gibt es Bestrebungen, die Bandbreite und Komplexität der Indikatoren zu steigern. So soll jenen Aspekten besser Rechnung getragen werden, die jenseits des Mehrwerts liegen: Bildung, Gesundheit, Lebensqualität, der Zustand der Umwelt. Dabei stößt man immer wieder auf das Problem, wie die immateriellen, nur schwer quantifizierbaren Aspekte des Wohlergehens als solche zu greifen sind.8 Auf einer grundlegenderen Ebene wäre es jedoch wichtig, mit der falschen Bewertung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens überhaupt zu brechen. Das Leben lässt sich nicht im Messbecher erfassen, es ist eine Erfahrung und keine Leistung.
Durch eine afrikanische Stadt wie Lagos, Abidjan, Kairo oder Dakar zu gehen, ist in erster Linie ein sinnliches und kognitives Erlebnis. Der Rhythmus der Stadt erfasst einen augenblicklich. Vitalität, Kreativität und Energie tosen durch die Straßen, Chaos und Ordnung machen einander den Raum streitig; Vergangenheit, Gegenwart und die Umrisse der Zukunft existieren nebeneinander. Man spürt instinktiv, wie nutzlos, abstrakt und begrenzt die auf der jährlich erzeugten Wertschöpfung (dem Bruttosozialprodukt) beruhenden Indikatoren und Wohlstandsrankings sind. Das Leben, der Puls der Gesellschaft, die Intensität des sozialen Austausches, die Beziehung zum eigenen Umfeld, Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, das Gefühl der Ganzheit, nichts davon lässt sich in solchen Statistiken fassen. Das Leben in diesen Räumen, die dortige Anwesenheit lässt einen jede Vorstellung von vergleichender Bewertung verlieren: Was sagt es schon aus, dass es in New York mehr Brücken oder Schnellstraßen gibt als in Abidjan? Der Bauer aus der Sine-Region9 fragt sich, wenn er von der Arbeit heimkehrt, nicht, ob er »entwickelt« oder erst noch »in Entwicklung begriffen« ist, ob er in einem mehr oder weniger fortgeschrittenen Land lebt. Es hat dieses Jahr reichlich geregnet, die tägliche Arbeit war gewohnt mühsam, die Ernte ist vielversprechend. Vom Gefühl erfüllt, etwas erreicht zu haben, wartet er nun auf die Früchte seiner Arbeit. Diese Arbeit ist mehr als nur eine Verrichtung: Sie ist ein Werk, das die Welt hervorbringt und damit die Bedingungen für ein Leben schafft, das dauerhafter ist als sein eigenes.
Geht über einer afrikanischen Stadt die Sonne unter und wird man zuhause von einem Stromausfall empfangen oder schlängelt man sich über eine mit Schlaglöchern durchsetzte Straße, dann bekommt man einen Eindruck davon, was an der Einrichtung der Gesellschaft alles fehlerhaft oder unvollkommen ist. Man strebt nachvollziehbarerweise nach einer besseren Ordnung, in der die Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen auf effizientere Weise erfolgt. Zugleich schleicht sich jedoch die Erfahrung solcher Mängel ein in die Aura und die Summe des Erlebten, setzt sich dort fest. Das Leben bildet ein diffuses Ganzes, und das Gefühl des Erlebten verbindet Erfahrungen aus den verschiedensten Bereichen. Erfahrungen, die mit Komfort und der optimalen Einrichtung der Gesellschaft zusammenhängen, vermischen sich mit solchen, die eher die Qualität und Intensität des Erlebten betreffen (und letztere können durchaus die bestimmenden sein).
Einwicklung
»Entwicklung« ist eine Ausdrucksform jener westlichen Unternehmung, die darin besteht, die eigene Weltanschauung vermittels der eigenen Mythen und Vorstellungen von gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit in anderen Erdteilen zu verbreiten. »Entwicklung« ist zu einem der machtvollsten Mytheme unserer Epoche geworden. Alle Gesellschaften benötigen Mythen, um ihre Entwicklung und die Art und Weise zu rechtfertigen, auf die sie sich ihre Zukunft aneignen. Nachdem der Kolonialismus die Vorstellung einer »zivilisatorischen Mission« endgültig diskreditiert hat, ist »Entwicklung« zu einer jeder Diskussion enthobenen Norm des gesellschaftlichen Fortschritts aufgestiegen. Der Werdegang einer Gesellschaft wird in eine evolutionistische Perspektive eingeordnet. Die Unterschiedlichkeit der Entwicklungsverläufe wird ebenso geleugnet wie die der möglichen Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen.10
»Entwicklung« ist also der Versuch, ein Unterfangen zu universalisieren, das im Westen seinen Ursprung hat und dort auch am gründlichsten umgesetzt worden ist.11 Es handelt sich zunächst um die Ausdrucksform einer Denkweise, die die Welt rationalisiert und entzaubert hat, noch bevor sie über die Mittel zu deren Veränderung verfügte. Dieses evolutionistische und rationalisierende Bild gesellschaftlicher Dynamiken hat sich als derart durchschlagend erwiesen, dass nahezu alle aus dem Kolonialismus entlassenen Nationen es übernommen haben. Der Parforceritt bestand darin, die westlichen Gesellschaften als Bezugspunkte zu setzen und sämtliche übrigen Verläufe und gesellschaftlichen Organisationsformen für untauglich zu erklären. Zugleich wurde, durch eine Art rückwirkende Teleologie, jede von den euroamerikanischen sich unterscheidende Gesellschaft als unterentwickelt abgestempelt. Die Bekehrung der Mehrzahl der Nationen zur Leidenschaft der Entwicklungsanstrengung nach westlichem Vorbild vollzog sich so als erfolgreiche Negierung der Differenz.
Die scheinbare Objektivität der entsprechenden Bewertungskriterien (Bruttosozialprodukt, Pro-Kopf-Einkommen, Industrialisierungsgrad etc.) trug zur Ausbreitung dieses Projekts der Rationalisierung und Uniformisierung von Gesellschaften bei, das...