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E-Book

Agoraphobie und Panikstörung

Manuale für die Praxis

AutorJürgen Margraf, Silvia Schneider
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl93 Seiten
ISBN9783844425130
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Agoraphobie und Panikstörung gehören zu den häufigsten psychischen Störungen und galten bis in die 1980er Jahre als kaum behandelbar. Ohne adäquate professionelle Hilfe kommt es in der Regel zu massiven Beeinträchtigungen der Lebensqualität bei den Betroffenen und Angehörigen. In den letzten Jahren kam es zu bedeutenden Fortschritten beim Verständnis und bei der Behandlung der beiden Störungsbilder, die in dieser Neubearbeitung berücksichtigt werden. Insbesondere die Befunde aus der Grundlagenforschung zu Extinktionslernen und Gedächtniskonsolidierung bringen wichtige Erkenntnisse für die Behandlung des Vermeidungsverhaltens. Entsprechend stehen heute - trotz der Schwere und Chronizität dieser Angststörungen - äußerst erfolgreiche Behandlungsstrategien zur Verfügung, die in diesem Band vorgestellt werden. Die Neubearbeitung des Bandes liefert zunächst eine aktuelle Beschreibung der Störungsbilder und stellt Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Störungen vor. Ausführlich wird das Vorgehen in den einzelnen Phasen der Therapie - Diagnostik, Erarbeitung eines Genesemodells, Veränderungs- und Stabilisierungsphase, Rückfallprophylaxe - anhand von Fallbeispielen beschrieben. Hinweise zum Umgang mit schwierigen Situationen sowie zahlreiche Beispiele zum konkreten Vorgehen bei den einzelnen Therapieschritten machen das Buch zu einer wertvollen Hilfe bei der Behandlung dieser Patientengruppe.

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Leseprobe

|18|2 Störungstheorien und -modelle


In diesem Abschnitt wird auf die wichtigsten psychologischen Modellvorstellungen zur Panikstörung und Agoraphobie eingegangen, die der kognitiven Verhaltenstherapie dieser Störungen zugrunde liegen.

2.1 Das psychophysiologische Modell der Panikstörung


In Reaktion auf die ursprünglich rein „biologischen“ Modelle der Panikstörung entwickelten verschiedene Forschergruppen psychologische bzw. psychophysiologische oder kognitive Modellvorstellungen. Die gemeinsame zentrale Annahme dieser Ansätze besagt, dass Panikanfälle durch positive Rückkoppelung zwischen körperlichen Symptomen, deren Assoziation mit Gefahr und der daraus resultierenden Angstreaktion entstehen. Die Panikreaktion wird in diesen Modellen als eine besonders intensive Form der Angst verstanden und unterscheidet sich nicht qualitativ von anderen Angstreaktionen. Im Folgenden soll das psychophysiologische Modell ge|19|nauer dargestellt werden (vgl. hierzu Ehlers & Margraf, 1989; Margraf & Ehlers, 1989). Abbildung 3 zeigt eine grafische Darstellung dieses Modells. Die durchgezogenen Linien stellen den positiven Rückkopplungskreis dar, der an jeder seiner Komponenten beginnen kann.

Abbildung 3: Grafische Darstellung des psychophysiologischen Modells (modifiziert nach Ehlers & Margraf, 1989)

Ein psychophysiologischer Teufelskreis: Der Aufschaukelungsprozess bei Panikanfällen

Typischerweise beginnt ein Panikanfall mit einer physiologischen (z. B. Herzklopfen, Schwitzen, Schwindel) oder psychischen (z. B. Gedankenrasen, Konzentrationsprobleme) Veränderung, die Folge sehr unterschiedlicher Ursachen sein können (z. B. Erregung, körperliche Anstrengung, Koffeineinnahme, Hitze etc.). Die Veränderungen müssen von der betreffenden Person wahrgenommen und mit Gefahr assoziiert werden. Auf die wahrgenommene Bedrohung wird mit Angst bzw. Panik reagiert, die zu weiteren physiologischen Veränderungen, körperlichen und/oder kognitiven Symptomen führt. Werden diese Symptome wiederum wahrgenommen und mit Gefahr assoziiert, kommt es zu einer Steigerung der Angst. Dieser Rückkoppelungsprozess, der in der Regel sehr schnell abläuft, kann mehrmals durchlaufen werden.

Eine explizite Trennung von internen Vorgängen und Wahrnehmung ist nötig, da keine Eins-zu-eins-Zuordnung besteht. Zum Beispiel kann eine Person nach dem Zubettgehen einen beschleunigten Herzschlag allein deshalb empfinden, weil die veränderte Körperposition ihre Herzwahrnehmung verbessert. Die positive Rückkoppelung würde in diesem Fall also bei der Wahrnehmung beginnen. Auch der Begriff der Assoziation wurde bewusst gewählt, um der breiten Palette möglicher Mechanismen von interozeptiver Konditionierung bis zu bewussten Interpretationsvorgängen Rechnung zu tragen.

Reduktion der Angst

Dem psychophysiologischen Modell zufolge kann der Panikanfall auf zwei Arten beendet werden: durch die wahrgenommene Verfügbarkeit von Bewältigungsmöglichkeiten und durch automatisch einsetzende negative Rückkoppelungsprozesse (gestrichelte Linie in Abb. 3). Beide Arten wirken auf alle Komponenten des Modells. Beispiele für negative Rückkoppelungsprozesse sind Habituation und Ermüdung sowie der respiratorische Reflex bei Hyperventilation. Die wichtigsten Bewältigungsstrategien sind Hilfe suchendes und Vermeidungsverhalten. Aber auch Verhaltensweisen wie flaches Atmen, Ablenkung auf externe Reize, Reattribution von Körperempfindungen führen zu einer Angstreduktion. Ein Versagen der Bewältigungsversuche hingegen führt zu einem weiteren Angstanstieg.

|20|Einflussgrößen auf den Aufschaukelungsprozess

Auf die Rückkoppelungsprozesse können verschiedene angstmodulierende Faktoren einwirken. Eher kurzfristig wirken momentane psychische und physiologische Zustände (z. B. generelles Angstniveau, intensive positive und negative affektive Zustände wie z. B. Freude, Ärger, körperliche Erschöpfung, Säure-Basen-Gleichgewicht des Blutes, hormonelle Schwankungen etc.) und momentane situative Faktoren (z. B. Hitze, körperliche Aktivität, Veränderung der Körperposition, Rauchen, Einnahme von Koffein, Medikamenten oder Drogen, Anwesenheit von Sicherheitssignalen). Eher längerfristig wirken relativ überdauernde situative Einflüsse (z. B. langanhaltende schwierige Lebenssituationen, belastende Lebensereignisse oder auch Reaktionen anderer z. B. wichtiger Bezugspersonen, die nahelegen, dass bestimmte Symptome potenziell gefährlich sein können) und individuelle Prädispositionen einer Person, die bereits vor dem ersten Panikanfall bestehen, sich aber auch erst im Verlauf der Störung ausbilden können. Beispiele sind Aufmerksamkeitszuwendungen auf Gefahrenreize und eine bessere Interozeptionsfähigkeit. Solche Prädispositionen können genetisch bedingt sein, können aber auch durch Lernerfahrungen (v. a. Modelllernen) in der Kindheit erworben werden. Zusätzlich kann die Sorge, weitere Panikanfälle zu erleben, zu einem tonisch erhöhten Niveau von Angst und Erregung führen. Weiterhin können die individuelle Lerngeschichte oder kognitive Stile die Assoziation körperlicher oder kognitiver Veränderungen mit unmittelbarer Gefahr beeinflussen. Bildgebungsstudien weisen darauf hin, dass Angstpatienten bei der Verarbeitung emotionaler Reize eine Überaktivierung der limbischen Region (insbesondere Amygdala und Insula) und eine abweichende funktionale Konnektivität dieser Regionen untereinander sowie vermutlich mit anderen inhibitorischen Hirnregionen, wie z. B. medialer Präfrontalkortex, zeigen (Craske & Stein, 2016). Alle diese Prozesse wie auch mangelnde körperliche Fitness sind Einflussgrößen auf den Aufschaukelungsprozess und können dessen Beginn begünstigen.

Beachte:

Der Teufelskreis bei Panikanfällen stellt das zentrale Erklärungsmodell zur Aufrechterhaltung von Panikanfällen dar und dient der Ableitung der einzelnen Behandlungsschritte.

2.2 Die moderne Lerntheorie der Panikstörung


Die von Bouton, Mineka und Barlow (2001) publizierte „moderne Lerntheorie der Panikstörung“ bietet eine interessante Alternative zu den kognitiven Erklärungsansätzen. Aufbauend auf Forschungsbefunden zur Kon|21|ditionierung von Emotionen formulierten Bouton und Kollegen eine Lerntheorie der Panikstörung. In diesem Modell wird zwischen Panik und Angst unterschieden. Unter Panik wird eine subjektiv empfundene starke Furcht bzw. ein subjektiv empfundenes drohendes Unheil verstanden, die durch eine starke autonome Erregung und eine ausgeprägte Kampf-/Flucht-Reaktion gekennzeichnet ist. Angst hingegen stellt eine angespannte Erwartungshaltung bezüglich einer zukünftigen Gefahr dar, die häufig durch somatische Symptome der Anspannung oder dysphorische Gefühle charakterisiert sei. Angst wird also als ein antizipatorischer emotionaler Zustand verstanden, der das Individuum auf einen möglichen nächsten Panikanfall vorbereitet, während Panik ein emotionaler Zustand ist, der den Umgang mit einem aktuell stattfinden traumatischen Ereignis abbildet.

Es wird weiterhin zwischen „falschem“ Alarm, einer starken Furchtreaktion ohne reale Gefahr, und „richtigem“ Alarm, einer Furchtreaktion bei realer Gefahr, unterschieden. Mit dieser Unterscheidung wollen die Autoren wohl der früheren Kritik an klassischen Konditionierungsmodellen zum Erwerb von Furchtreaktionen Rechnung tragen, die besagen, dass viele Angstpatienten keine traumatische (also real bedrohliche) Erfahrung mit der gefürchteten Situation berichten können. Wird eine Alarmreaktion, „falscher“ oder „richtiger“ Art, mit externalen oder internalen Reizen assoziiert bzw. konditioniert, wird sie zu einer „erlernten“ Alarmreaktion. Die Autoren weisen darauf hin, dass es für eine gute Anpassung eines Individuums an seine Umwelt äußerst sinnvoll ist, emotionale Reaktionen schnell mit diskreten Umgebungsreizen zu assoziieren. Ein Panikanfall stellt diesem Modell zufolge eine unkonditionierte Furcht zum falschen Zeitpunkt dar, die wiederum eine unspezifische Reaktion auf Stress sei. „Falsche“ Alarme können Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Panikstörung sein. Das Auftreten von „falschen“ Alarmen, welche von „gelernten“ Alarmen gefolgt sind, ist jedoch solange nicht pathologisch wie diese Alarme selten auftreten und keine Angst vor dem Auftreten weiterer Alarme entwickelt wird.

Der entscheidende Schritt für die Entwicklung einer Panikstörung ist dem Modell zufolge, dass durch das Auftreten eines...

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