1. Warum ich Nestbeschmutzerin wurde
Von Pflegerobotern und Scheintoten
Ich habe ihre Gesichter nicht vergessen. Nicht das Gesicht der Heimbewohnerin, die ihre Lebensmittel hamsterte und auf ihrer Fensterbank vor dem Zugriff der strengen Pflegekraft in Sicherheit bringen wollte. Die Bewohnerin stürzte dabei aus dem Fenster in den Tod. Ich vergesse nicht das Gesicht der alten Dame, die zu mir sagte: »Schwester, ich habe Angst vor der Nacht, wenn ich nicht weiß, wer kommt. Die Schwester Ursula schreit mich jedes Mal an …« Ich vergesse nicht das schmerzverzerrte Gesicht der alten Dame, die von der ungelernten Pflegekraft beim Umlagern aus dem Bett geworfen worden war. Sie starb wenig später im Krankenhaus an ihren Verletzungen. Jetzt – beim Aufschreiben der Erinnerungen – sehe ich sie wieder vor mir. Gespenster aus der Vergangenheit. Zeugen des unmenschlichen Umgangs mit betagten, hilfsbedürftigen Heimbewohnern.
Ich freute mich. Ich war aufgeregt. Der erste Tag meiner Ausbildung. Gerade war ich 25 Jahre alt geworden. Und so hatte ich mir meinen Einstieg in die Pflege alter Menschen vorgestellt: eine ausführliche Einweisung in den behutsamen und sorgfältigen Umgang mit greisen, hilfsbedürftigen Menschen. Ich hatte mich darauf gefreut, die alten Menschen auf ihrem Lebensweg zu begleiten, sie zu unterstützen, wo sie meine Hilfe brauchten, um ihren Alltag soweit wie möglich selbstbestimmt zu bewältigen. Helfen, dass sie trotz ihrer Gebrechen, trotz ihrer Hinfälligkeit ein erträgliches, wenn nicht sogar angenehmes Leben würden führen können. Das Foyer des Münchner Altenheimes beeindruckte mich. Ja, es machte auf mich einen geradezu herrschaftlichen Eindruck. Der Empfang schien von einem professionellen Heim mit gehobenen Ansprüchen zu zeugen. Hier war alles sauber und adrett, der Umgangston gepflegt, das Personal höflich. Ich dachte: Toll! Das wird dein Ausbildungsplatz und vielleicht auch einmal dein Arbeitsplatz.
Ansprechende Fassade
»Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« – hat Hermann Hesse geschrieben. Schade nur, dass mein Zauber hier im Pflegeheim so schnell verflog. Immerhin brachte mich die Heimleitung damals noch persönlich auf die Station und stellte mich Gertrud vor. Gertrud war eine erfahrene und pflichtbewusste Altenpflegerin. Sie hatte eine unscheinbare Gestalt, war blass und sehr zurückhaltend. Mit Lob und Anerkennung ging sie sparsam um, machte Dienst nach Vorschrift und war ziemlich humorlos.
Mit ihr durfte ich mitlaufen und bekam schon nach wenigen Schritten im Wohnbereich der Betagten einen ersten Schock. Der Geruch von Fäkalien und Erbrochenem vermischt mit Essensgerüchen, schwängerte die Luft. In meinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Ein Unfall? Ein Sonderfall? Das konnte doch kein Alltag sein? Oder? Die Ausdünstungen erzeugten in mir einen derartigen Ekel, dass ich eine Woche lang nicht in der Lage war, auf dieser Station zu essen.
Gertrud nahm mich also mit in meinen ersten Frühdienst. Sie sagte, ich solle ihr beim Arbeiten zuschauen, damit ich die Arbeit morgen alleine kann. Verrückt! Oder? Die Lernzeit: ein ganzer Tag! Ich musste in der Folgezeit lernen, dass dies typisch für das Pflegemilieu war. Darin zeigt sich, wie fundamental falsch der ganze Pflegebereich eingeschätzt wird. Der dazugehörige Spruch »Pflegen kann doch jeder« sollte zum meistgehassten Satz meines Arbeitslebens werden. Gertrud kam mir vor wie ein Roboter. Sie ging kaum auf die Bewohner ein, war höflich, aber nicht freundlich. Sie erledigte die anfallende Arbeit freudlos, es gab kaum ein Lächeln in ihrem Gesicht. Wir gingen von Zimmer zu Zimmer und arbeiteten den Katalog ab: Grundpflege, Behandlungspflege, Medikamentenabgabe, Lagerungen, Frühstück zubereiten, Essenseingaben, Wechsel des Inkontinenzmaterials und Toilettengänge, falls es die Zeit zuließ. Gesprochen wurde dabei wenig, wir mussten uns beeilen, um bis zum Mittagessen mit der Arbeit fertig zu sein.
Bei den Scheintoten
Während Gertrud mich über den Gang führte, sah ich links und rechts – sofern die Türen offen standen – in die Zimmer. Viele Bewohner lagen teilnahmslos in ihren sauber bezogenen, weißen Betten. Sie wirkten auf mich wie Scheintote. Ein gespenstischer Anblick. Ich weiß noch, wie ich versuchte, den Eindrücken einen Sinn zu geben. Ruhezeit? Aber es war noch früh am Vormittag! Ich hatte definitiv mehr Leben im Heim erwartet: Alte, die in kleinen Grüppchen beisammensaßen, sich unterhielten, etwas spielten; Pflegekräfte, die sich auf ein Wort dazugesellten. Sollte für viele Mitarbeiter hier soziale Teilnahme am Leben der Heimbewohner überhaupt nicht zu ihrer Arbeit zu gehören?
Schnell merkte ich, dass Pflegekraft nicht gleich Pflegekraft ist. Die einen – lassen Sie es mich einmal so drastisch ausdrücken – versorgten Biomasse und die anderen versorgten Menschen. Diese echten Pflegekräfte gingen auf die Heimbewohner ein und zeigten, dass sie auch betagte, oft hinfällige Menschen als Individuen, als Persönlichkeiten ernst nahmen. Und nicht nur als etwas ansahen, das Arbeit macht. Ich kam an diesem Abend in einem seltsamen Zustand zu Hause an. Einerseits tief enttäuscht über die teilnahmslose Routine, mit der viele meiner neuen Kollegen ihre Arbeit verrichteten; über die teils erbarmungswürdigen hygienischen Zustände, über die insgesamt unwürdigen Bedingungen, in denen die Heimbewohner dort ihren Lebensabend zu fristen hatten und darüber, dass im Heim offenbar niemand außer mir darüber erschrak oder sich auch nur zu wundern schien. Auf der anderen Seite wollte ich natürlich nicht gleich am ersten Tag die Flinte ins Korn werfen. Vielleicht hatte ich ja doch zu naiv-idealistische Vorstellungen vom Alltag im Pflegeheim. Ich habe an diesem Abend geweint. Wie auch an vielen anderen Abenden in den folgenden Jahren.
Heute bin ich mir sicher, dass meine Vorstellungen von guter Pflege nicht naiv sind. Ich habe auch fünf Jahre in der Schweiz gelebt und durfte dort ein Gesundheitssystem kennenlernen, das vom deutschen Modell zum Teil extrem abweicht. Zum Beispiel in puncto Pflegeheim. Dabei gehören Pflegeheime hierzulande streng genommen nicht zum Gesundheitssystem – ein schwerer Webfehler in unserem System. Denn dies führt dazu, dass in vielen Bereichen des Gesundheitswesens deutlich suboptimale Leistungen erbracht werden, weil die dadurch anfallenden Kosten wenig später auf das Pflegesystem abgewälzt werden können. So bei der Rehabilitation nach Operationen.
Die Pflege in der Schweiz funktioniert dagegen besser. Pflegekräfte werden dort geachtet und deutlich besser bezahlt und Pflegekräfte achten die zu Pflegenden. Eine Pflegekultur, von der wir in Deutschland nur träumen können. Und deshalb stehen wir hierzulande auch vor einem Pflege-Gau: Bei der demografischen Entwicklung und der Tatsache, dass bis 2030 ein großer Teil der Pflegerinnen und Pfleger aus dem Beruf ausscheidet, wird dann ein Drittel der Pflegebedürftigen massiv unterversorgt sein. Eine Horrorvision.
Gestatten: Nestbeschmutzerin
Ich heiße Eva Ohlerth, Jahrgang 1959. Ich wurde als zweitältestes von fünf Kindern geboren und lernte so schon sehr früh, Verantwortung für meine drei jüngeren Geschwister zu übernehmen. Der Altersunterschied betrug zwischen 10 bis 18 Jahren. Für mich war es immer eine Selbstverständlichkeit, für andere zu sorgen. Dieses Verantwortungsgefühl zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Und noch etwas begleitet mich in meinem Leben: Ungerechtigkeit kann ich nicht ausstehen, mir gegenüber nicht und auch anderen gegenüber nicht. Wenn Kinder beim Spielen ausgegrenzt wurden, machte ich nicht mit und verteidigte diese, so gut ich konnte. Wenn Schwächere diskriminiert, verspottet, ausgelacht oder körperlich attackiert wurden, mischte ich mich ein, oft ohne zu überlegen, ob ich dadurch selbst zum Opfer wurde. Es spielte für mich keine Rolle, ob es um Kinder, Frauen, Obdachlose oder alte Menschen ging. Wenn ich beobachtete, wie sie Opfer von Spott und/oder Gewalt wurden, konnte ich nicht anders: Ich mischte mich ein.
Einmal stand im Supermarkt an der Kasse eine alte Dame vor mir in der Schlange. Als sie bezahlt und die Kasse passiert hatte, kam ein Ladendetektiv, versperrte ihr den Weg und sagte laut, sodass alle Kunden in der Schlange es hören konnten: sie solle sofort ihre Tasche öffnen, er habe beobachtet, wie sie Lebensmittel in der Tasche habe verschwinden lassen ohne zu bezahlen. Mit piepsiger Stimme brachte die alte Dame eine Entschuldigung hervor. Ich hatte den Eindruck, dass es der Dame nicht gut ging. Ich erklärte dem Ladendetektiv mit ruhiger Stimme, er solle die Dame in Ruhe lassen. Wenn sie gestohlen habe, könne er sie ja diskret im Büro befragen, aber sich hier zur Belustigung der Kunden so aufzuplustern und die alte Dame so zu beschämen sei der Situation keineswegs angemessen. Ich hatte den Eindruck, dass die Frau etwas verwirrt war. Als der Ladendetektiv mit der Polizei drohte, bat ich ihn, diese zu holen und bot mich an, solange bei der Frau zu bleiben. Er sagte jetzt in einem leiseren Ton, sie solle verschwinden und nicht wiederkommen, er sehe jetzt nochmal von einer Anzeige ab, da er ja die unbezahlte Ware zurückbekommen habe.
In einem Praktikum in einer sozialtherapeutischen Einrichtung hatte ich psychisch kranke Menschen kennengelernt, die dank einer funktionierenden medikamentösen Einstellung nicht mehr in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht worden waren, sondern in Begleitung von Pflegepersonal in einem großen Haus wohnten. Der Heimleiter dieser Einrichtung erklärte mir eines Tages, ich hätte ein...