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E-Book

Aliyahs Flucht

oder Die gefährliche Reise in ein neues Leben

AutorGüner Yasemin Balci
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783104022468
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Die bewegende Geschichte eines muslimischen Mädchens in Deutschland: »Es gibt so viele Frauen, die wie ich keine Freiheiten haben. Das muss sich ändern!« Aliyah Aliyah ist 23 und seit Jahren auf der Flucht. Unter falschem Namen versteckt sie sich in fremden Städten vor ihrer kurdischen Familie. Sie wollte das Doppelleben, die Heimlichtuerei um die verbotene Liebe zu ihrem Freund nicht mehr hinnehmen. Sie ist bereit, für ihre Freiheit und Selbstbestimmung zu kämpfen und hat akribisch den Ausbruch in ein neues Leben vorbereitet. Doch ihr neues Leben ist gefährdet und trotz ihres Mutes ist Aliyahs Zukunft nun ungewiss - vielleicht für immer. Aliyah ist eine von vielen jungen muslimischen Frauen in Deutschland, denen die engagierte Journalistin Güner Yasemin Balci eindrucksvoll eine Stimme gibt. Eine bewegende Reportage über den Preis der Freiheit und ein leidenschaftliches Plädoyer für das Recht auf Selbstbestimmung.

Güner Yasemin Balci wurde 1975 in Berlin-Neukölln geboren. Bis 2010 war sie Fernsehredakteurin beim ZDF, heute arbeitet sie als freie Autorin und Fernsehjournalistin. 2012 erhielt sie für ihre Reportage ?Tod einer Richterin? den Civis-Fernsehpreis. 2016 erschien ihr Dokumentarfilm ?Der Jungfrauenwahn? (Arte/ZDF). Balci ist Kolumnistin für die »Stuttgarter Nachrichten«, ihre Texte erschienen u.a. in der »Zeit« und im »Spiegel«; im Deutschlandradio und Deutschlandfunk sind ihre politischen Features gesendet worden. Ihre Bücher bauen auf den Erfahrungen ihrer langjährigen Arbeit mit Jugendlichen aus türkischen und arabischen Familien in Neuköllns sozialen Brennpunkten auf: ?Arabboy? (2008), ?ArabQueen? (2010) und ?Aliyhas Flucht (2012).

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Leseprobe

Insan haklari oder Dein Leben gehört dir


Stellen Sie sich vor, Sie müssten morgen Ihre Wohnung verlassen. Nicht, weil Sie es wollen, sondern weil Sie es müssen. Vielleicht müssen Sie sogar die Stadt verlassen, in der Sie viele Jahre Ihres Lebens verbracht haben, in der Sie Freunde treffen, den Zeitungshändler kennen, Ihren Frisör, die Stadt, in der eins Ihrer Kinder noch die Schule besucht und Sie selbst einem Beruf nachgehen, der Ihnen Freude macht.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten schnell an einen anderen Ort ziehen, irgendwo in Deutschland. Vielleicht aber auch in ein anderes Land, um sicher zu sein, dass Sie sicher sind. Man wird Ihnen sagen, dass Sie nie wirklich sicher sind, solange es jemanden gibt, der nach Ihnen sucht, jemanden, der Ihnen oder einem Ihrer Angehörigen nach dem Leben trachtet. Das alles müssen Sie tun, nicht etwa, weil Sie als Straftäter von der Polizei gesucht werden, sondern weil Ihr Sohn sich in ein Mädchen verliebt hat, dessen Eltern es nicht dulden, dass ihre Tochter eine selbstgewählte Beziehung eingeht. Weil sie für ihr Kind ein anderes Leben vorgesehen haben, eines, das sich nach den archaischen Sitten ihrer Herkunftskultur richtet, einer Kultur, die es Frauen verbietet, über ihren Körper, über ihr Leben selbst zu entscheiden.

Sie stehen vor der Wahl: zu gehen, von jetzt auf gleich ein neues Leben zu beginnen und das, was Sie sich in vielen Jahren als Existenz aufgebaut haben, Ihren Beruf, Ihr Umfeld, Vertrautes für ungewisse Zeit, vielleicht sogar für immer hinter sich zu lassen; oder Sie bleiben, leben dafür aber jeden Tag mit der Ungewissheit, dass jemand Ihnen auflauert, Sie auf der Straße bespuckt und beleidigt oder Sie sogar mit dem Tod bedroht.

Sie werden jetzt wahrscheinlich sagen: Moment mal, das geht doch nicht, das ist unrecht, wir leben doch in einem Rechtsstaat, und ich zeige jeden an, der mich bedroht! Dann machen Sie eine Anzeige gegen die Person, die Ihnen nachstellt. Am nächsten Tag aber steht eine andere Person bei Ihnen vor der Haustür, und alles wiederholt sich. Machen Sie dann wieder eine Anzeige, machen Sie jede Woche mehrere Anzeigen? Oft genug gegen »Unbekannt«, weil Sie die Quälgeister persönlich gar nicht kennen? Gehen Sie dann irgendwann nur noch selten aus dem Haus? Und nur, wenn mindestens eine erwachsene Person Sie begleiten kann? Oder eilen Sie geduckt durch die Straßen, in der Hoffnung, man sieht Sie nicht? Versuchen Sie, sich unsichtbar zu machen oder Schleichwege zu finden?

Natürlich können Sie, wenn Sie bereit sind, solche Begleitumstände in Kauf zu nehmen, auch bleiben. Ihr Sohn aber wird selbst dann noch gehen müssen, wenn er inzwischen gemerkt hat, dass die Liebe seines Lebens doch nur ein Strohfeuer war und er sich offiziell von dem Mädchen getrennt hat, dessen Familie Ihnen diesen ganzen Ärger bereitet – bei einer befleckten Ehre gibt es kein Zurück. Sie müssen dann damit leben, dass Ihr Kind auf unbestimmte Zeit untertaucht, sich versteckt vor der Gefahr, Opfer eines Gewaltverbrechens im Namen der Ehre zu werden. Von seiner einstigen Liebsten ganz zu schweigen.

Nur wenn Sie wegziehen, werden Sie Ihren Sohn irgendwann einmal wiedersehen können. Vielleicht kann er Sie in der fremden Stadt, in der Sie dann wohnen, besuchen. Sie selbst dürfen ihn nicht an dem Ort aufsuchen, an dem er inzwischen lebt. Denn seine Adresse muss, um ihn nicht zu gefährden, weiterhin geheim bleiben. Vielleicht aber haben Sie mehrere Kinder, eine Tochter noch, die gerade in ihrer Ausbildung ist und sich geweigert hat, mit Ihnen wegzuziehen, bloß weil ihr Bruder sich verliebt hat. Dann stehen Sie vor einer Entscheidung, die für jede Mutter, jeden Vater ein Albtraum sein muss: Für welches meiner Kinder entscheide ich mich?

***

In der Geschichte, die ich hier erzähle, heißt der Sohn Dimi. Er ist mit Aliyah, der Tochter der kurdischen Familie Özgan, auf der Flucht. Inzwischen schon seit mehreren Jahren. Ihm drohte die Rache der Sippe, ihr die Zwangsverheiratung, nachdem ihre Liebe zu dem jungen Griechen sich herumgesprochen hatte. Die beiden sind immer noch zusammen.

Es ist keine Geschichte, die ich mir ausgedacht habe, sie ist hier passiert, mitten unter uns, in Deutschland. Aliyah wollte, dass ihre Geschichte aufgeschrieben wird. Sie wollte weder die Bevormundung der Familie noch das Doppelleben länger hinnehmen, die Lügen, das Verbot ihrer Liebe zu Dimi. »Es gibt so viele Mädchen und Frauen, die, wie ich, keine Freiheiten haben. Nur sehr wenige trauen sich zu gehen. Das muss sich ändern!«, sagte sie mir. Ich habe – bis auf wenige Ausnahmen – die Namen der betroffenen Personen geändert, sie zuweilen an andere Orte geschickt, leichte Veränderungen vorgenommen. Das ist erforderlich, wenn man sie schützen will.

Die Eltern des jungen Mannes sind Maria und Nicos Samos, ein griechisches Ehepaar, das seit Jahrzehnten in Berlin lebt. Gelebt hat, müsste es genauer heißen. Sie leben jetzt in einer ihnen fremden Stadt. Ihre Hoffnungen, irgendwann würde die verbotene Liebe zwischen Aliyah und Dimi von den Özgans akzeptiert werden und die Drangsalierungen würden endlich aufhören, denen insbesondere Maria ausgesetzt war, haben sich nicht erfüllt. Die Familie Özgan hat nicht aufgegeben. Die Familie Samos musste alles aufgeben, den Job, den Wohnort, die Heimat. Maria hat bis heute keinen neuen Arbeitsplatz gefunden, und Nicos, der gelernter Koch ist, arbeitet jetzt für eine Security-Firma mit einem so geringen Gehalt, dass er zu den »Aufstockern« des Jobcenters zählt. Er findet das entwürdigend. Ihre Tochter ist zornig auf die beiden Liebenden, weil deren Verhältnis der Anstoß dazu war, dass die Familie Samos jetzt, auseinandergerissen, an verschiedenen Orten dieser Republik lebt.

Und Aliyah und Dimi? Die beiden haben harte Jahre hinter sich. Und harte Jahre vor sich. Nach Aliyahs Flucht aus ihrem Zuhause waren sie eine lange Zeit getrennt, Dimi durfte nicht einmal wissen, wo Aliyah sich aufhielt. Es wäre zu gefährlich gewesen für viele Beteiligte – für Aliyah selbst, aber auch für die Menschen, die ihr geholfen haben, die ihr Unterschlupf gewährten, die sie betreuten. Diese Zeit des Wartens, die ihre Beziehung auf eine harte Probe gestellt hat, ist vorbei. Die beiden sind vereint. Endlich. Bis vor kurzem hatten sie auch eine kleine Wohnung irgendwo in Deutschland, einen Job (Dimi), einen Ausbildungsplatz (Aliyah). Im Vergleich zu allem, was vorher gewesen war, erlebten sie einige ruhige Monate. Relativ zumindest. Das ist vorbei. Sie packen wieder. Es ist Aliyahs Familie gelungen, den Wohnort der beiden herauszufinden. Ein Fehler der Ämter, der Staatsanwaltschaft. Er hätte nicht passieren dürfen. Niemand hätte die geheime Adresse der beiden herausgeben dürfen. Die Polizei hatte eindeutige Anweisung gegeben. Sie wollte Dimi schützen. Es hat nichts geholfen.

Nur die wenigsten »verbotenen« Beziehungen zwischen muslimischen Mädchen und nichtmuslimischen Jungen halten die Gefahren, die Anspannung, die langen Trennungszeiten aus, denen Aliyah und Dimi ausgesetzt waren. Sie haben nie erleben dürfen, was verliebte Teenager gemeinhin machen: gemeinsam jede freie Stunde verbringen, ins Kino gehen, mit Freunden abhängen, sich küssen und sich auf eine Weise lieben, bei der sie an nichts anderes, an niemanden sonst, nur an sich selbst denken. Sie mussten sich heimlich treffen, an immer wechselnden Orten, auf die Uhr schauen, damit Aliyah rechtzeitig zu Hause war, und ständig ihrer Furcht vor Entdeckung Herr werden. Es war keine leichte Teenagerliebe, ihr haftete von Anfang an, ob sie es wollten oder nicht, eine existentielle Entscheidung an – Gehorsam gegenüber der Familie oder Hochverrat an den Geboten der Sippschaft, Unterwerfung oder Selbstbestimmung, Leben oder Tod. Vielleicht hätte sich Shakespeare bei seinem Drama über die verbotene Liebe zwischen Romeo und Julia heute nicht mehr für die italienische Stadt Verona, sondern für Berlin-Neukölln, Essen-Karternberg, Köln-Mülheim oder Bückeburg entschieden. Denn überall hier – und anderswo – gibt es Familien, die festhalten an einer archaischen Kultur, die die Leibeigenschaft noch nicht überwunden hat.

***

Liebe ist seit Menschengedenken das Zaubermittel, mit dem manchmal die Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen, Sprachen, Weltanschauungen und Religionen überschritten oder außer Kraft gesetzt werden können. Wer liebt, dem sind Konventionen und Sanktionen egal. Liebe bricht mit Traditionen und Regeln und lässt Neues entstehen. Einem jungen Mann ist möglicherweise jahrelang von seiner Mutter eingetrichtert worden, dass deutsche Frauen nichts taugen, weil sie »zu frei« sind – wenn er sich dann aber trotzdem heftig in eine solche Frau verliebt, sind die Worte der Mutter vergessen. Wer sich die Heiratsstatistiken im Einwanderungsland Deutschland anschaut, wird feststellen, dass immer mehr Türken und Deutsche einander heiraten – ein erfreulicher Trend, der für wachsende Integration spricht. Der zweite Blick allerdings relativiert diese Freude: Es sind immer mehr deutsche Frauen und türkische Männer, die einander heiraten. Warum gibt es nicht auch immer mehr muslimische Frauen – Araberinnen, Bosnierinnen, Türkinnen, Albanierinnen etc. –, die nichtmuslimische Männer heiraten?

Muslimische Töchter haben es schwerer als ihre Brüder oder Cousins, eine solche bikulturelle Ehe gegen den Willen ihrer Familien durchzusetzen. Denn Frauen gelten als Besitz der Familie, ihre Jungfräulichkeit ist Allgemeingut, das jeder bewachen darf, es steht für die Ehre einer...

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