Kapitel 1
Mehr Übergriffe, mehr Hass
Silvester in Köln: 1200 Anzeigen und eine Handvoll Urteile
Es gibt keine freie Gesellschaft, keine Demokratie ohne einen starken Staat. In der Kölner Silvesternacht 2015/2016 wankte dieser Staat, der den Bürger Sicherheit und Ordnung gewähren soll, gefährlich. Jeder konnte die starken Erosionserscheinungen sehen.
Es ist keine Übertreibung, die Silvesternacht in Köln als Zäsur anzusehen. Für viele war das jahrzehntelang aufgebaute Vertrauen in den Staat und dessen Schutzaufgabe zerbrochen. Die latente Gewaltbereitschaft, die uns aus dem Nahen Osten bekannt war, war in Deutschland angekommen. Ein Gefühl, das sich in den Monaten nach dieser Nacht durch die Terroranschläge in Würzburg, Ansbach, Berlin und den vereitelten Attentatsversuch des Syrers Al Bakra in Chemnitz noch verstärkt hat.
Das Bundeskriminalamt fasste die schockierenden Erlebnisse in Köln in nüchterne Zahlen: 1200 Frauen, auch in Hamburg, Stuttgart und weiteren Städten wurden an Silvester Opfer von Sexualdelikten. Frauen, die einfach nur ins Neue Jahr feiern und mit ihren Freundinnen und Freunden auf ihre Zukunft anstoßen wollten, waren den Übergriffen eines bislang nie dagewesenen Mobs ausgesetzt.
Im ersten Zustand des Entsetzens war man an den Dichter Dante erinnert, der seine Reise in die Unterwelt mit einem Gang durch das Höllentor begann. Im ersten Höllenkreis sitzen die Gleichgültigen, vorsätzlich Unbeteiligten, die all denen Schutz in ihrem Leben verweigerten, die ihn dringend gebraucht hätten. Die Frauen in der Silvesternacht auf der Domplatte in Köln fühlten sich wie in der Hölle. Schutzlos waren sie einem außer Rand und Band geratenen Mob von vorwiegend aus Nordafrika stammenden Tätern ausgesetzt. Die Polizei war überfordert, die Politik schwieg tagelang. Das ZDF fühlte sich genötigt, sich für seine fehlende Berichterstattung zu entschuldigen. Nach den fatalen Ereignissen rief die Bundeskanzlerin bei Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker an – fünf Tage nach den Exzessen!
Sieben Monate später erfuhren die Bürger endlich die komplette erschreckende Wahrheit über diese Nacht, die Deutschlands Gesellschaft und Politik veränderte. Mehr als 2000 Männer hatten sich an den Taten beteiligt. Schon der Einsatzerfahrungsbericht eines leitenden Polizisten über die Vorfälle in Köln liest sich fürchterlich, als »zahlreiche weinende Frauen« bei den Beamten erschienen und sexuelle Übergriffe »durch mehrere männliche Migrantengruppen« schilderten. Eine junge Frau erzählte, wie ihr an den Po und in den Schritt gefasst wurde. Die Kraftausdrücke und Anzüglichkeiten möchte man an dieser Stelle nicht wiederholen. Wenn es den Polizisten gelang, einen der Täter festzusetzen, zeigte dieser, was er von der Autorität der Polizei hielt. Nämlich nichts. »Ihr könnt mir gar nichts«, lautete die dreiste Antwort. Und er hatte auch noch recht.
Die Täter haben von Polizei und Justiz kaum etwas zu befürchten. Es gibt keine Videobeweise, die Frauen können ihre Peiniger nicht identifizieren. Das will auch keiner bestreiten. Es spricht auch niemand von einem Justizskandal oder einem bundesweiten Versagen der Polizei. Es gehört auch zur Wahrheit, dass es in den letzten Wochen und Monaten viele unschuldig Verdächtigte gegeben hat. Das Landgericht Hamburg sprach drei Angeklagte frei und die Richterin entschuldigte sich sogar für die Ermittlungsfehler der Polizei bei den Männern.1 So gesehen, haben die Gewaltexzesse auch hier Verlierer produziert. Dennoch: Die eigentlichen Opfer bleiben die Frauen.
Von einer ernüchternden Bilanz spricht das Bundeskriminalamt. Das klingt verharmlosend. Selbst liberalen Geistern steigt angesichts eines derartigen Staatsversagens die Wut hoch. Der Rechtsstaat zeigte sich in dieser Nacht überfordert. Kontrollverlust des Staates ist keine übertriebene Formulierung. Nach Ansicht eines vom Land Nordrhein-Westfalen bestellten Gutachters wurden die massenhaften Übergriffe durch das späte Eingreifen der Polizei begünstigt. Ihm zufolge konnten die Täter den Bereich um den Kölner Dom stundenlang als rechtsfreien Raum erleben, schreibt der Rechtspsychologe Prof. Rudolf Egg für den Untersuchungsausschuss des Landtags.2 Ein möglichst rasches Eingreifen wäre erforderlich gewesen, um die Flut von Taten einzudämmen. Die Räumung des Platzes kurz vor Mitternacht sei vermutlich deutlich zu spät erfolgt und habe keine nennenswerte abschreckende Wirkung mehr entfaltet. Ein großer Teil der Übergriffe – auch der Sexualtaten – habe sich bereits zwischen 20.30 Uhr und 23.35 Uhr ereignet, so der Gutachter.
Für sein Gutachten wertete Egg 1022 Strafanzeigen aus. Mehrere Frauen hätten sich dabei ausdrücklich über die Untätigkeit der anwesenden Polizisten beklagt. Ein syrischer Arzt habe als Zeuge ausgesagt, dass er von einem vermutlich aus Libyen stammenden Mann aufgefordert worden sei, mitzumachen und die »Ungläubigen« zu bestehlen. Frauen, die übel begrapscht und auf widerwärtige Weise sexuell belästigt worden sind, gaben etwa zu Protokoll: »Leider waren die Polizisten vor Ort nicht sehr hilfreich. Eine Beamtin sagte zu mir: ›Du kommst doch aus Köln, dann weißt du doch, dass du hier nicht feiern gehen darfst.‹« Egg fand dafür deutliche Worte: »Es ist unerträglich, wenn einigen Frauen das Gefühl gegeben wurde, sie selbst hätten dazu beigetragen.« Das Resümee des Professors wirkt wie eine Ohrfeige für alle Verantwortlichen: »Es entstand eine Art rechtsfreier Raum, ein Zustand der scheinbaren Regellosigkeit, der den Beteiligten irgendwie alles zu erlauben schien.« Drastisch erzählten die überwiegend jungen Frauen in ihren Anzeigen von aggressiven, nicht enden wollenden Übergriffen zahlloser Hände in einer anonymen Menge. »Ich habe mich in dem Moment hilflos gefühlt! Ich habe die ganze Zeit nichts gesehen, nur gespürt, weil meine Augen voller Tränen waren.«
Ähnlich eindringlich sind die Notrufe dieser Nacht, die im Untersuchungsausschuss des Landtages eingespielt wurden. Männer und Frauen berichten im Abstand weniger Minuten von einer ausufernden, gefährlichen Gemengelage zwischen Kölner Hauptbahnhof und Dom. »Die schießen Böller aufeinander – auch auf Mütter mit Kinderwagen«, rief eine Anruferin ins Telefon. »Wir wurden von ganz vielen angegrapscht. Das ist wirklich sehr grenzwertig und gefährlich. Da stehen Polizisten, aber die machen gar nichts.« Ihr sei geraten worden, die 110 zu wählen.
Ein weiterer Anrufer meldet vom Hauptbahnhof: »Hier ist Ausnahmezustand!« Polizei sei nicht vor Ort. Anrufe dieser Art gehen zuhauf ein. Die Antworten der Polizisten am anderen Ende klingen nüchtern bis gelangweilt: »Okay«, sagt einer. »Wissen wir Bescheid«, merkt ein anderer an. Empathie und prompte Hilfe hören sich anders an. Der Sachverständige Egg folgert, er gehe nicht davon aus, dass sich in der Silvesternacht Hunderte gewaltbereiter, rücksichtsloser Männer gezielt verabredet hätten, um Frauen sexuell zu demütigen und Feiernde zu bestehlen. Was er beschreibt, ist eigentlich schlimmer: »eine Sogwirkung«. Die Übergriffe geschehen, weil sie geschehen können: von harten Griffen zwischen die Beine über Eindringen mit den Fingern bis hin zu ekligen Sexspielen mit den hilflos eingekesselten Opfern.
Der Sachverständige stufte die massenhaften sexuellen Übergriffe der Silvesternacht als neuartiges Phänomen in der Geschichte der Bundesrepublik ein.
Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier ließ es nicht an deutlichen Worten fehlen: »Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie derzeit.« Er konstatiert ein »eklatantes Politikversagen«. Das Gewaltmonopol des Staates sieht er hingegen noch nicht gefährdet: »Aber man muss aufpassen, dass das Vertrauen der Bevölkerung in diese Schutzfunktion nicht verloren geht. Es ist wahrnehmbar, dass die Stimmung im Land gekippt ist. Es wird deutlich, wie groß die Probleme bei der Integration so vieler Menschen sind«, warnt er.3 Vor allem, wenn die jungen Täter die Erfahrung machten, dass sie nicht mit Strafen oder gar mit der Abschiebung rechnen müssten, würden sie zu Wiederholungstätern.
Die Bilanz der Strafverfolgung ist alles andere als vertrauensbildend. Neun Monate nach der Tatnacht konnten lediglich 120 Verdächtige ermittelt und nur ein Bruchteil davon verurteilt werden. Bis Oktober 2016 fanden vor dem Kölner Amtsgericht 19 Verfahren gegen 22 Angeklagte statt. Wer jetzt denkt, die Täter wären für viele Jahre ins Gefängnis gewandert, kann sich nur verwundert die Augen reiben. Die Richter verhängten Strafen zwischen 480 Euro und 20 Monaten Haft ohne Bewährung. In den meisten Fällen ging es jedoch um Diebstahlsdelikte! Nur in einem einzigen Verfahren wurde wegen sexueller Nötigung verhandelt. Nur ein weiterer Täter musste sich wegen Beleidigung auf sexueller Grundlage – also wegen Grapschens – verantworten. So stand Anfang Mai 2016 ein 26-jähriger Algerier vor dem Kölner Amtsgericht, der sich wegen sexueller Nötigung verantworten musste. Doch nach gerade einmal zwei Stunden Verhandlung ließ der Richter den Angeklagten mangels Beweisen laufen. Das Gericht verurteilte ihn wegen Hehlerei und Beteiligung an einem Autoaufbruch zu sechs Monaten Haft auf Bewährung.
Und wie reagierte die Politik? Die redete sich raus, sprach von lokalen Ereignissen, schlechten Einsatzplänen, der Kölner Polizeichef musste gehen. Dass der nordrhein-westfälische Innenminister Jäger an seinem Sitz klebt und...