Der Tag, der mein Leben veränderte
Es ist Dienstag, der 19. November 2002. Ich befinde mich auf dem Weg nach Zürich in die Kanzlei von Hammer Kaltenbach Rechtsanwälte, wo ich als juristische Mitarbeiterin und Mediatorin angestellt bin. Ich habe dort ein Mediationsteam von Wirtschaftsanwälten aufgebaut, leite dieses und freue mich jetzt auf das Wochenende, denn ich habe mit meinen Kindern für den Samstagvormittag einen Einkaufsbummel in Deutschland und für den Nachmittag einen Besuch im Circus Conelli geplant. Am Sonntag wollen wir mit meinen Eltern in die Gueteregg wandern. Ich bin alleinerziehende Mutter von vier Kindern und werde durch das Au-pair Katrina unterstützt. Oliver ist fünfzehn, Larissa zwölf, Laura zehn Jahre alt. Rahel hat gerade ihren sechsten Geburtstag gefeiert. Von meinem Mann Leonardo bin ich seit zwei Jahren getrennt, aber noch nicht geschieden.
Auf der Autofahrt zum Büro nehme ich ein ungutes Gefühl in der Bauchgegend wahr. Ich verspüre einen starken Drang, umzukehren und nach Hause zu fahren. Was soll das? Ich habe mir für heute so viel vorgenommen, und ich werde im Büro erwartet!
Erst am Tag zuvor habe ich das volle Arbeitspensum in der Kanzlei wieder aufgenommen, weil ich mich nach der schriftlichen Anwaltsprüfung im September zunächst noch meinem Lehrauftrag an der Universität St. Gallen widmen musste. Ich bin dort Dozentin, unterrichte Wirtschaftsmediation und habe ein neues Modul gestaltet, das im kommenden Dezember zum ersten Mal unterrichtet wird. Die Arbeit hat sich gelohnt, diesen Lehrgang werde ich noch viele Jahre unterrichten können. Darüber hinaus ist er ausbaufähig.
In der Kanzlei hat sich sehr viel angestaut. Ich werde voll arbeiten müssen, um bis Ende Januar 2003, wenn meine letzte Lernphase für die mündliche Anwaltsprüfung beginnt, mit der Arbeit durchzukommen. Vor wenigen Tagen habe ich erfahren, dass ich die schriftliche Prüfung bestanden habe.
Die Arbeit in der Kanzlei gefällt mir, wir sind wie eine kleine Familie – das mag vielleicht abgedroschen klingen, doch genauso empfinde ich es. Für meine Arbeit habe ich ausnahmslos Lob und Anerkennung erhalten. Ich gehe jeden Tag mit Freude an die Arbeit. Wer kann das schon von sich behaupten? Nicht zuletzt arbeite ich auch sehr gerne mit Alfred Risi zusammen, einem der Kanzleipartner. Wir sind ein Paar. Alfred ist ein genialer Jurist. Er ist reich an Ideen, und die Argumente, die er wählt, um einen Fall zu gewinnen, begeistern mich immer wieder aufs Neue.
Die Weihnachtstage werde ich mit meinem Sohn in New York verbringen. Gleichzeitig wird es auch eine geschäftliche Reise sein, weil ich gemeinsam mit den amerikanischen Trainern Gary Friedman und Jack Himmelstein zusätzlich zur Grundausbildung ein neues Weiterbildungskonzept für von uns ausgebildete Mediatoren entwickle. Mit den beiden Einkommen aus der Anwalts- und der Lehrtätigkeit werde ich endlich am Ziel angelangt sein. Es wird meinen Kindern an nichts mangeln.
Heute muss ich die Konvention für ein Ehepaar mit sehr komplexer güterrechtlicher Auseinandersetzung fertigstellen, es geht um nicht weniger als 35 Liegenschaften. In der ersten Sitzung hatten die beiden noch den Eindruck gemacht, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten. In der zweiten Sitzung gifteten sie sich an, und in der dritten beschimpften sie sich aufs Heftigste. Es war eine harte Arbeit. Ich hätte damals nicht gedacht, dass die beiden sich einigen können. Doch jetzt kooperieren sie; alle Punkte sind ausgehandelt, und sie können anständig auseinandergehen. Es bleibt nur noch, alles in eine klare, juristisch durchdachte Vereinbarung zu packen. Ein so strittiges Scheidungsverfahren hätte sich, wäre es vor Gericht gekommen, über viele Jahre hingezogen.
Ich liebe meinen Beruf. Es macht einfach Sinn, die Vergangenheit aufzuräumen und möglichst schnell gute, einvernehmliche Lösungen zu finden, die allen Beteiligten besser dienen, als wenn der Richter einen Entscheid fällen muss, der nur eine Partei zufriedenstellt – oftmals nicht einmal das.
Gegen Abend ruft mich meine Freundin Virginia an und möchte mich auf einen Kaffee treffen, um mir die Tickets für ihr nächstes Konzert zu übergeben. Virginia ist Opernsängerin. Wir verabreden uns in der Nähe der Kanzlei. Ich bin sehr zufrieden mit der heute und gestern erledigten Arbeit. Wenn ich so weitermache, komme ich bis zur nächsten Lernphase bestens durch. Obwohl ich noch eine Stunde arbeiten wollte, verlasse ich das Büro mit einem guten Gefühl. Ein Schwatz mit Virginia ist jetzt genau das Richtige. Sie hat immer Spannendes zu erzählen.
Nachdem ich mich von Virginia verabschiedet habe, begebe ich mich zu meinem Auto. Es steht auf den Parkplätzen von Hammer Kaltenbach. Der Seniorpartner unserer Kanzlei überlässt mir oft seinen Parkplatz, wenn er nicht im Hause ist. Wenn ich keinen Parkplatz habe, fahre ich mit dem Zug zur Arbeit.
Ich biege auf den Bürkliplatz ein, mein Auto steht zuhinterst in der Kolonne bei der Ampel vor der Quaibrücke Richtung Bellevue auf der linken Spur. Es ist zwischen sechs und sieben Uhr abends. Ich weiß es nicht mehr so genau. Ich hänge meinen Gedanken nach und lasse das Gespräch mit Virginia Revue passieren, während ich auf die Weiterfahrt warte. Wie gewöhnlich in solchen Situationen liegt mein Kopf auf der rechten Handfläche. Den rechten Ellbogen habe ich auf die Armlehne des Autositzes gestellt. Der Oberkörper lehnt nach vorne, der Blick ist nach vorne gerichtet, zum Rotlicht. Ich bin in Gedanken versunken, als es auf einmal einen lauten Knall gibt.
Das Geräusch habe ich noch heute in den Ohren, wie wenn es gestern geschehen wäre: das ohrenbetäubende Geräusch von Metall, das zerquetscht wird. Ich wurde nicht gewarnt. Vor dem Knall gab es keine Bremsgeräusche.
Danach ist alles um mich dunkel.
Wie viel Zeit vergeht, bis ich wieder bei Bewusstsein bin, weiß ich nicht. Wann und wie ich aus dem Auto gestiegen bin, weiß ich nicht. Wie ich mich hinter mein Auto begeben habe, weiß ich nicht. Meine Erinnerung setzt dort wieder ein, als ich neben einer Frau stehe und sehe, dass ein Fahrzeug ins Heck meines Wagens gedrückt ist.
In diesem Moment habe ich keine Ahnung davon, dass mein bisheriges Leben soeben beendet wurde. Es wird nie mehr so sein wie vorher.
In meinem Leben davor war ich eine »Powerfrau«. Eine, die all das erreichte, was sie sich wünschte. Und noch mehr. Als kleines Mädchen träumte ich davon, Kinder zu haben und eine gute Mutter und Ehefrau zu sein. Nun bin ich glückliche Mutter von vier Kindern. In meinem Leben davor habe ich mein Studium der Rechtswissenschaften mit Auszeichnung abgeschlossen, schrieb eine Dissertation, hatte eine gute Stelle bei einer renommierten Zürcher Anwaltskanzlei, war eine Pionierin der Mediation in der Schweiz und unterrichtete Wirtschaftsmediation. In meinem Leben davor scheiterte nur eines, dies dafür gründlich. Die Ehe zwischen mir und Leonardo, dem Vater meiner vier Kinder. Und damit scheiterte einer meiner größten Wünsche. Der nach einer harmonischen Elternschaft. Für eine Trennung gibt es immer tausend Gründe. Bei Leonardo und mir mag einer der entscheidenden der gewesen sein, dass ich erreicht habe, was ich mir vorgenommen hatte, und von Erfolg zu Erfolg flog, während er nicht so diszipliniert war. In meinem Leben davor hätte ich nie geglaubt, dass ich einst das Opfer eines »Krimis« werden würde. In meinem Leben davor glaubte ich noch an die Rechtschaffenheit der Schweizer Versicherungskonzerne, und ich glaubte daran, in einem Land zu leben, in dem alles mit rechten Dingen zugeht. In meinem Leben davor war ich ziemlich naiv.
Bereits staut sich eine lange Kolonne hinter uns, mehrere Autofahrer hupen verärgert, was mir unerträgliche Schmerzen in den Ohren bereitet. Die rechte Spur ist befahrbar, die Autos auf unserer Spur müssen dorthin ausweichen. Während die Frau auf mich einredet, nehme ich den Geruch von Alkohol in ihrem Atem wahr. Sie hat eine »Fahne«. Diese Folgerung kann ich zu diesem Zeitpunkt aber nicht ziehen, da ich völlig verwirrt bin. Trotzdem registriert mein Gedächtnis den Geruch. Mich selber nehme ich außerhalb meines Körpers wahr. Es ist, als würde ich neben meinem Körper stehen und der Szene von außen zusehen.
Ich schaue mich um. Mein Auto wurde gerammt. Von hinten betrachtet, steht das Auto der Frau etwas nach rechts verschoben da, sodass es mit seiner linken Vorderseite bis etwa zur Mitte der Rückseite von meinem reicht. Es steht außerdem schräg zu meinem. Weil ihr eingedrücktes Auto an der rechten Hinterseite meines Wagens klebt, ist gar nicht ersichtlich, ob mein Auto einen Schaden hat. Die Frau fährt ihres deshalb einige Meter zurück. Nun sehe ich, dass mein Auto kaum beschädigt ist. Und ich bin erleichtert, dass mir selbst nichts passiert ist, wie ich damals zu Unrecht annehme. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe: Ihr Auto sieht schlimm aus, meines nicht. Die Motorhaube ihres Wagens ist auf der linken Seite nach oben und hinten gedrückt, steht seitlich auf, liegt nicht mehr auf dem Rahmen auf und ist wie...