I. Wiedergutmachen
Vor einigen Jahren hatte ich das große Vergnügen, eine traumhafte Flussfahrt zu machen, geführt von einem Fischer in seinem kleinen Boot, auf das gerade mal acht Passagiere passten. Das Licht war großartig an diesem frühen Tag, und wir sahen Scharen von Seeschwalben und Bekassinen auf dem Wasser, Milane und Fischadler hoch am Himmel, Biber am Ufer und sonst noch alles Mögliche. Zwischendurch picknickten wir, und der Fischer holte Räucherfisch, Hechtsalat und Bier aus seinen Kühltaschen. Ich dachte: Das Leben kann schon sehr gelungen sein!
Der Fluss, den wir herabfuhren, war nicht der Amazonas, es war auch nicht der Mississippi, obwohl das Grundgefühl schon sehr Mark-Twain-mäßig war. Es war: die Havel, und wir fuhren von Havelberg (wo Elbe und Havel zusammenfließen) in Richtung Berlin. Die Havel wird gerade renaturiert, das heißt: Uferbefestigungen werden beseitigt, abgeschnittene Flussarme wieder angeschlossen, Überflutungswiesen wieder mit dem Fluss verbunden. Daher diese beeindruckende Landschaft; irgendwann einmal, wenn dieses größte Flussrenaturierungsprojekt Europas abgeschlossen ist, wird man einen Eindruck bekommen können, wie so ein Fluss aussieht, wenn er nicht industriell genutzt wird. Aber auch jetzt schon war die Natur überwältigend.
Als wir gegen Nachmittag zurückfuhren, fragte ich meine Mitreisenden, allesamt ökobewegt und beim NABU oder beim WWF oder so, was sie denn im tiefsten Innersten antreibe, sich für die Umwelt zu engagieren (und, wie wir alle, tief berührt von so einem Ausflug zu sein). Die Antwort, die mich am nachhaltigsten beeindruckt hat, war die von Rocco Buchta, der für den NABU das Projekt der Renaturierung leitet und der uns auf unserer kleinen Reise auch am meisten über die Havel erzählt hatte.
Rocco stammt nämlich aus der Gegend. Sein Großvater war ein Kind dieser Region, kräftig, vital – eine Art Traumopa für kleine Jungs, die zu so einem Großvater aufschauen. Der kannte die Havel noch im ursprünglichen Zustand, aber dieser Fluss, sein Fluss, war immer weiter verschwunden. Mit ihrer zunehmenden Nutzung als Wasserstraße in DDR-Zeiten, ihrer Begradigung und Vertiefung und auch ihrer Verschmutzung wurde die Havel immer trüber und armseliger, und genauso erging es, wie Rocco erzählte, auch seinem Großvater. Der wurde immer verdrießlicher und trauriger, und die Veränderung betraf nicht nur die Stimmung. Auch körperlich baute der gewaltige Mann stark ab, wurde »immer weniger«, und Rocco litt mit ihm, aber natürlich konnte er ihm nicht im Geringsten aus seiner Misere helfen. Der Mann ging mit seiner Landschaft zugrunde. Und der Zwölfjährige, der den Zusammenhang klar verstand, sagte dem verzweifelten Großvater: »Opa, ich verspreche dir: Ich mach das wieder gut!«
Und tatsächlich: Da saß er nun, Rocco, und machte die Havel wieder gut.
Mir scheint, das ist eine gute Geschichte, um dieses Buch zu beginnen. Das ist nämlich ein positives Buch. Was nicht gleichbedeutend ist mit: ein optimistisches Buch. Es geht nur, wie Rocco, davon aus, dass ziemlich viel falsch gelaufen ist in der Vergangenheit, was aber nicht heißt, dass man das Falsche nicht korrigieren, wiedergutmachen kann. Und es bedeutet auch nicht, die Vergangenheit als so etwas wie einen Irrtum zu betrachten; denn wirtschaftlich machte die Nutzung der Havel zu jener Zeit, als ihr Ökosystem angegriffen wurde, Sinn. Auch das DDR-Regime war ja interessiert daran, den Wohlstand seiner Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen.
Das alles war übrigens nicht anders als im Westen in der Nachkriegszeit, auch nicht, was den brutalen Umgang mit den natürlichen Gegebenheiten anging: Dort verwandelte man buchstäblich Flüsse in Abwasserkanäle, wie die Emscher im Ruhrgebiet, und als sie zu sehr stank, packte man Betondeckel drauf; da ist die Havel sogar noch gut weggekommen. Die Wirtschaftswunder beiderseits des Eisernen Vorhangs, versinnbildlicht in Wachstumskennziffern und Neubauten, in Autobahnen und Schulgebäuden, machten das Leben und dessen Standard für die Menschen besser, ob sie nun aufstrebende Mittelschichtler im Westen waren oder verdiente Genossen im Osten.
Die Natur war lediglich Mittel zum Zweck ihrer maximalen und oft gnadenlos rücksichtslosen Ausbeutung. Aber eben: Genau diese Ausbeutung hob die Lebensqualität, auch wenn Roccos Großvater und gewiss nicht wenige andere darunter litten wie die Hunde.
Wir befinden uns heute in viel größerem Maßstab in Roccos Situation: Denn was »wiedergutzumachen« ist, das ist ja wahnsinnig viel. Mehr noch: Der besinnungslose Raubbau, der die europäische und US-amerikanische Nachkriegszeit prägte, findet heute global, also in noch viel größerem Maßstab statt. Aber trotzdem: In Roccos Lebenszeit hat sich so viel zum Positiven verändert, dass sein eigentlich ganz unmögliches Versprechen schließlich doch einlösbar wurde.
Man könnte auch sagen: Aus etwas ganz und gar Unrealistischem wurde eine Wirklichkeit. Und die konnte es nur werden, weil sich zwischenzeitlich die Gesellschaft so entwickelt hatte, dass sie andere Prioritäten zu setzen in der Lage war: Die Verfechter eines durch nichts gebremsten Wirtschaftswachstums waren angesichts offensichtlicher ökologischer Desaster in die Defensive geraten, und nur Illusionisten wie FDP-Politiker und manche Wirtschaftswissenschaftler träumen heute noch von Märkten, deren Wachstumsdrang durch nichts beschränkt wird. Das ist wahrlich unrealistisch. Ganz im Gegensatz zu Roccos Realismus der Hoffnung. Der hat viel mehr Wirklichkeit auf seiner Seite.
Denn die Zeiten haben sich geändert. Aber natürlich nicht genug. Im Gegenteil: Die Veränderungsdynamik, die mit der Ökologiebewegung der 1970er aufgekommen ist, ist längst abgeebbt, ja, der modernen Gesellschaft insgesamt scheint jegliche Vorstellung abhandengekommen zu sein, dass sie anders, besser sein könnte, als sie ist. Sie hat keinen Wunschhorizont mehr, sondern ihre Zukunft offenbar schon hinter sich. (Die Einzigen, die Zukunft anzubieten haben, und dafür ordentlich Reklame machen, sind die digitalen Konzerne, aber deren Zukunft ist total von gestern – sie dynamisieren nur das gestrige fossile Konsumverhalten.)
Keine Zukunft zu haben ist kein Zustand, der gute Laune macht. Und genau deshalb ist unsere Gegenwart vor allem durch schlechte Laune gekennzeichnet, was ein bisschen absurd ist: Warum ist man denn so furchtbar reich geworden, wenn man am Ende doch nur so mies drauf ist wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr? Oder man, wie die Glücksforschung zeigt, etwa in den USA heute, trotz vervierfachtem Bruttoinlandsprodukt unglücklicher ist als vor einem Vierteljahrhundert. Oder wo die digitale Gesellschaft Nr. 1, nämlich Singapur, hinsichtlich des empfundenen Lebensglücks nur einen traurigen 26. Platz belegt. Wozu der ganze Aufwand, wenn er das Glück nicht hebt? Oder sogar noch Angst vor allem Möglichen gebiert, obwohl man zum Beispiel in Deutschland (Glücksindex Platz 14) in der sichersten Gesellschaft lebt, die es menschheitsgeschichtlich jemals gegeben hat.
Wovor wir Angst haben – eine total unvollständige Sammlung
»Vor der Finanzkrise und der Bankenkrise. Dem Euro. Griechenland. Überhaupt vor Europa. Vor dem Klimawandel. Dem Ökofaschismus. Überschwemmung. Wassermangel. Vor Überfluss. Vor Knappheit. Vor Terroristen. Fundamentalisten. Idealisten. Kommunisten. Kapitalisten. Dem Antichristen. Christen. Moslems. Juden. Hindus. Sekten. Insekten. Langeweile. Amerikanern. Chinesen. Indern. Pakistanis. Polen. Negern. Überhaupt Ausländern. Nachbarn. Männern mit Bart. Frauen mit Bart. Der Wissenschaft. Verblödung. Vor Gutmenschen. Vor bösen Menschen. Unmenschen. Übermenschen. Untermenschen. Überhaupt vor Menschen. Vor Bakterien und Viren. Vor der Zerstörung der Umwelt. Vor Staus. Vor der Kernkraft. Davor, dass der Strom ausfällt. Vor Windrädern. Monokultur. Vielfalt. … Vor Armut. Demütigung. Dem Teufel. Gott. Der Jugend. Dem Erwachsenwerden. Dem Alter. Vor Giften. Medikamenten. Peinlichkeit. Kleinlichkeit. Heimlichkeit. Engen Räumen. Weiten Plätzen. Zu fett werden. Anorexie. Alzheimer. Nicht vergessen können. Liebe. Einsamkeit. Vor dem Chef. Den Kollegen. Vor Mobbing. Teilnahmslosigkeit. Vor Isolation. Vor Sattheit. Vor dem Hunger. Dekadenz. Askese. Vor dem Internet. Davor, kein Netz zu haben. Vor Arbeitslosigkeit. Stress. Burn-out. Langeweile. Der Zukunft. Der Vergangenheit.« Usw.[1]
Ängste treiben die Menschen in einer Welt um, in der die Lebenserwartung so hoch und die Gewaltkriminalität so niedrig ist wie niemals zuvor. Der Prozess der Zivilisierung ist, wie Steven Pinker (2012) einerseits und Yuval Noah Harari (2015) andererseits gezeigt haben, dadurch charakterisiert, dass das Niveau der körperlichen Gewalt, die Menschen gegenüber anderen Menschen ausüben, beständig absinkt. Nie war es, besonders in funktionierenden Rechtsstaaten, so unwahrscheinlich wie heute, Opfer einer Gewalttat zu werden. In modernen Gesellschaften liegt das insbesondere daran, dass der Staat das Gewaltmonopol hat, weshalb jede Form der willkürlichen und nicht gesetzlich legitimierten Gewalt verfolgt und bestraft wird. Im Ergebnis hat das zu einer drastisch gesunkenen Gewaltrate geführt. Aber nicht nur statistisch leben wir heute in der friedlichsten aller Zeiten, auch ein kurzer Blick auf das, was wir für normal und was wir für kriminell halten, hat sich allein im letzten halben...