Dem Tod und dem ganzen Wirbel, der um ihn gemacht wird, haften vermutlich mehr Klischees an als jedem anderen Aspekt des menschlichen Lebens. Er ist das personifizierte Unheil, der Überbringer von Schmerz und Leid; ein Raubtier der Dunkelheit, das uns verfolgt und jagt, ein gefährlicher Dieb in der Nacht. Wir geben ihm ominöse und grausame Spitznamen – »Sensenmann«, »Gevatter Tod«, »Freund Hein«, »Knochenmann« – und stellen ihn dar als ausgemergeltes Skelett mit schwarzem Kapuzenumhang, das eine todbringende Sense schwingt, dazu berufen, unseren Körper mit einem tödlichen Hieb von der Seele zu trennen. Oder er schwebt als schwarzer, gefiederter Geist unheilvoll über den Köpfen seiner zusammengekauerten Opfer. Und obwohl er in vielen Sprachen, in denen Substantive ein Geschlecht haben, weiblich ist (einschließlich Latein, Französisch, Spanisch, Italienisch, Polnisch, Litauisch und Altnordisch), wird er im englischen Sprachraum, wo er sprachlich gesehen eigentlich ein Neutrum ist, oft als Mann dargestellt.
Die moderne Welt lehnt den Tod ab, für sie ist er ein feindseliger Eindringling. Trotz aller Fortschritte der Menschheit sind wir der Entschlüsselung der komplexen Verbindungen zwischen Leben und Tod heute nicht näher als vor hundert Jahren. In mancher Hinsicht verstehen wir ihn wahrscheinlich weniger denn je. Wir scheinen vergessen zu haben, wer der Tod ist, was sein Sinn ist, und während unsere Vorfahren ihn vielleicht auch als Freund betrachteten, ist er für uns ein unwillkommener und teuflischer Widersacher, den man, so lange es geht, meidet oder bezwingt.
Wir schmähen ihn oder vergöttern ihn, und manchmal schwanken wir zwischen diesen beiden Haltungen. So oder so ziehen wir es vor, ihn nicht zu erwähnen, aus Angst, ihn ansonsten zu ermuntern, sich uns zu nähern. Das Leben ist hell, freundlich und glücklich, der Tod ist dunkel, böse und traurig. Gut und böse, Belohnung und Strafe, Himmel und Hölle, schwarz und weiß – mit Linné’scher Strenge kategorisieren wir Leben und Tod als Gegensätze, was uns die tröstliche Illusion von richtig und falsch vermittelt und den Tod möglicherweise zu Unrecht auf die dunkle Seite verbannt.
Als Folge davon scheuen wir seine Anwesenheit, als wäre er ansteckend; wir befürchten, wenn wir seine Aufmerksamkeit auf uns zögen, käme er uns holen, bevor wir auch nur annähernd bereit wären, unser Leben zu beenden. Unsere Angst verstecken wir hinter einer großen Klappe, wir reißen Witze über ihn und hoffen, dadurch seiner kalten Hand zu entkommen. Aber wir wissen, dass wir nicht mehr lachen werden, wenn wir ganz oben auf seiner Liste stehen und er schließlich unseren Namen ruft. Schon in jungen Jahren erlernen wir diese Ambivalenz, in einem Moment machen wir uns über den Tod lustig und im nächsten sind wir zutiefst ehrfürchtig ihm gegenüber. Wir lernen eine neue Sprache, mit dem Ziel, den Schnitt seiner scharfen Klinge und den Schmerz abzumildern. Wir sprechen davon, jemanden zu »verlieren«, reden flüsternd vom »Ableben«, und mit gemessenem, respektvollem Ton sprechen wir anderen unser Beileid aus, wenn ein geliebter Mensch »gegangen« ist.
Ich habe meinen Vater nicht »verloren« – ich weiß genau, wo er ist. Er liegt begraben auf dem Hügel des Tomnahurich-Friedhofs in Inverness, in einer wunderschönen Holzkiste von Bill Fraser, dem Bestatter unserer Familie, die ihm wahrscheinlich gefallen hätte, wäre sie nicht so kostspielig gewesen. Wir haben ihn in eine Grube gelegt, auf die zerfallenen Särge seiner Mutter und seines Vaters, in denen inzwischen kaum mehr als ihre Knochen und die paar Zähne sein dürften, die sie noch hatten, als sie starben. Er ist nicht gegangen, er wurde nicht abberufen: Er ist tot. Zum Glück ist er nicht irgendwohin gegangen – das wäre rücksichtslos von ihm gewesen und äußerst beunruhigend. Sein Leben ist beendet, und kein Euphemismus der Welt wird ihn mir je zurückbringen.
Als Kind einer strengen, nüchternen schottischen Presbyter-Familie, in der kein Blatt vor den Mund genommen wurde und man Mitgefühl und Sentimentalität häufig als Zeichen von Schwäche sah, gehe ich davon aus, dass es meine Erziehung war, die mich bodenständig und dickhäutig und zu jener Pragmatikerin und Realistin gemacht hat, die ich heute bin. Geht es um Leben und Tod, mache ich mir keine falschen Vorstellungen, sondern versuche ehrlich und offen darüber zu sprechen, was allerdings nicht bedeutet, dass ich unberührt bin oder immun gegen Schmerz und Leid oder ohne Mitgefühl für den Kummer anderer. Wie Fiona, unsere inspirierende Kaplanin an der Dundee University, es so eloquent formuliert: Seichtes Gerede, gesprochen aus sicherer Entfernung, spendet keinen Trost.
Warum verstecken wir uns mit all unserem Wissen des 21. Jahrhunderts immer noch hinter den Mauern von Konformität und Verdrängung, anstatt uns für die Vorstellung zu öffnen, dass der Tod vielleicht gar kein furchteinjagender Dämon ist? Er braucht doch nicht gespenstisch, brutal und grausam zu sein. Er kann still sein, friedlich und gnädig. Die Antwort ist wahrscheinlich, dass wir ihm nicht trauen, weil wir uns dagegen entscheiden, ihn kennenzulernen, weil wir uns während unseres Lebens nicht die Mühe machen, ihn zu verstehen. Täten wir das, würden wir lernen, ihn als integralen und notwendigen Teil unseres Lebens zu sehen.
Wir betrachten die Geburt als den Anfang des Lebens und den Tod als sein natürliches Ende. Aber was, wenn der Tod nur der Anfang einer anderen Phase der Existenz ist? Auf dieser Annahme basieren die meisten Religionen, die uns lehren, dass wir den Tod nicht fürchten müssen, da er lediglich das Tor zu einem besseren Leben danach darstellt. Dieser Glaube hat über Jahrhunderte vielen Menschen Trost gespendet, und vielleicht ist es das Vakuum einer zunehmenden Säkularisierung unserer Gesellschaft, das zum Wiederaufleben einer uralten, instinktiven, aber unbegründeten Abneigung dem Tod und all seinen äußeren Anzeichen gegenüber beigetragen hat.
Was auch immer wir glauben, Leben und Tod sind ohne Zweifel untrennbar miteinander verbundene Teile desselben Kontinuums. Das eine kann und wird nicht ohne das andere existieren, und sosehr sich die moderne Medizin auch bemüht, der Tod wird schlussendlich die Oberhand behalten. Da es keine Möglichkeit gibt, ihn zu verhindern, sollten wir uns vielleicht besser darauf konzentrieren, die Zeitspanne zwischen unserer Geburt und unserem Tod positiver zu gestalten und zu genießen: unser Leben.
Das ist auch einer der grundlegenden Unterschiede zwischen forensischer Pathologie und forensischer Anthropologie. Die forensische Pathologie, die Rechtsmedizin, sucht nach Todesursachen und Todesumständen – dem Ende der Reise –, wohingegen die forensische Anthropologie das Leben rekonstruiert, also die Reise selbst, über den gesamten gelebten Zeitraum hinweg. Unser Job ist es, die Identität, die während des Lebens entwickelt wurde, mit dem zusammenzubringen, was nach dem Tod in körperlicher, stofflicher Form übrig geblieben ist. Forensische Pathologie und Anthropologie sind also sozusagen Komplizen in Sachen Tod – und Komplizen in Sachen Verbrechensaufklärung.
In Großbritannien sind Anthropologen, anders als Pathologen, mehr Wissenschaftler als Arzt und daher medizinisch nicht qualifiziert, den Tod oder die Todesursache eines Menschen zu beurkunden. Heutzutage, in Zeiten stetig zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnisse, kann man von Rechtsmedizinern nicht erwarten, in allen Bereichen Experten zu sein, und Anthropologen spielen daher eine wichtige Rolle bei Ermittlungen zu Verbrechen mit Todesfolge. Forensische Anthropologen helfen bei der Entschlüsselung von Hinweisen, die zur Identifizierung des Opfers führen, und gegebenenfalls auch bei der endgültigen Feststellung von Todesursachen durch die Rechtsmedizin. So bringt jedes Fachgebiet eigenes Spezialwissen mit an den Obduktionstisch.
An einem solchen Obduktionstisch waren eine Pathologin und ich mit den sterblichen Überresten eines Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung konfrontiert. Der Schädel war in über vierzig Teile zersprungen. Als medizinisch qualifizierte Ärztin musste die Pathologin die Todesursache feststellen, und sie war sich relativ sicher, dass es eine Schusswunde war. Doch sie musste absolut sicher sein. Bestürzt blickte sie auf die große Anzahl weißer Knochenfragmente vor sich auf dem Metalltisch und sagte: »Ich schaffe es nicht, alle Teile zu identifizieren, und schon gar nicht, sie zusammenzusetzen. Das ist dein Job.«
Die Rolle des forensischen Anthropologen ist es, zunächst festzustellen, wer die Person in ihrem Leben gewesen sein könnte. War es ein Mann oder eine Frau? War die Person groß oder klein? Alt oder jung? Schwarz oder weiß? Zeigt das Skelett Hinweise auf Verletzungen oder Krankheiten, zu denen es medizinische oder zahnärztliche Unterlagen geben könnte? Können wir der Zusammensetzung von Knochen, Haaren oder Nägeln Informationen darüber entnehmen, wo der Mensch gelebt hat oder welche Art von Nahrung er zu sich genommen hat? Und würde uns – im vorliegenden Fall – das dreidimensionale menschliche Puzzle in die Lage versetzen, nicht nur die Todesursache festzustellen, die in der Tat eine Kopfschusswunde war, sondern auch die Todesumstände? Wir sammelten diese Informationen, vervollständigten das Puzzle und konnten so die Identität des jungen Mannes feststellen und durch Zeugenaussagen untermauern, denn unsere Untersuchungen bestätigten eine ballistische Eintrittswunde am Hinterkopf und Austrittswunde in der Stirn, oberhalb und zwischen den Augen. Es war eine Exekution aus nächster Nähe gewesen, während der das Opfer kniete, als die Waffe direkt an seinem Hinterkopf angesetzt...