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Als die Juden nach Deutschland flohen

Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte

AutorHans-Peter Föhrding, Heinz Verfürth
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783462316933
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Deutschland nach 1945 - jüdisches Leben im Land der Täter Wer weiß schon, dass nach dem Zweiten Weltkrieg 300.000 Juden nach Deutschland flohen und als Überlebende der Schoah in DP-Lagern (für »Displaced Persons«, also Entwurzelte, Staatenlose) unter dem Schutz der Alliierten ein neues Leben begannen? 1946/47 flüchteten, ausgelöst durch antisemitische Exzesse, 300.000 osteuropäische Juden, besonders aus Polen, ausgerechnet ins Land der Täter. Vor neuer Verfolgung retteten sie sich zumeist in die amerikanische Zone. Die DPs kamen keineswegs, um hier auf Dauer zu bleiben, sondern glaubten sich nur auf der Durchreise nach Palästina. Ein großer Teil zog schließlich nach der Staatsgründung Israels 1948 dorthin weiter, viele auch in die USA. Das Camp Föhrenwald als letztes der weit über hundert DP-Lager schloss erst Anfang 1957. Der rote Faden des Buches ist das Schicksal der Lea Waks. In Lodz geboren, überlebte sie das dortige Ghetto. 1946 verließ sie Polen mit ihrer Familie panikartig. Zunächst lebte Lea im DP-Lager Ziegenhain in Hessen, dann mit ihrem Mann Aron und zwei Söhnen in verschiedenen Camps. Diese Lager wurden in Selbstverwaltung geführt, mit allen Elementen traditionellen osteuropäischen Judentums, Synagogen, Schulen, Ausbildungsstätten, Theatern - eben jene Schtetl-Kultur, die Joseph Roth so meisterlich beschrieben hat. Für die Familie Waks dauerte die Lagerzeit allerdings ein ganzes Jahrzehnt. 1957 nahm sie die Jüdische Gemeinde in Düsseldorf auf, wo sie drei Jahrzehnte als Textilkaufleute lebten.

Hans-Peter Föhrding studierte Pädagogik, Psychologie und Soziologie und war mehrere Jahre in der Erwachsenenbildung tätig. Außerdem als Journalist in leitender Stellung u.a. bei der Leipziger Volkszeitung und der Mitteldeutschen Zeitung, Redaktionsleiter der Jüdischen Allgemeinen. Als freier Journalist widmet Föhrding sich gesellschaftlichen Themen.

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Leseprobe

1. Schutz im neuen Ghetto


Mitten in Deutschland: jüdische Flüchtlinge nach 1945

Aron Waks ist nervös. Der junge Mann wartet ungeduldig auf die Rückkehr eines amerikanischen Armeejeeps, der am Morgen das hessische Lager Ziegenhain verlassen hatte. Der Auftrag lautete, im Camp des benachbarten Städtchens Schwarzenborn eine Familie abzuholen, ein Ehepaar mit seinen fünf Kindern.

Gegen Mittag hebt sich der Schlagbaum am breiten Eingangstor, und der offene US-Jeep rollt langsam in die staubige Lagerstraße: Die Lessers sind endlich in Ziegenhain angekommen, dem Endpunkt einer wochenlangen und gefährlichen Reise. Aron begrüßt alle herzlich, doch zunächst umarmt er die älteste Tochter Lea. Denn seit ein paar Monaten ist sie die Liebste des Mittzwanzigers.

Auch Lea hat dem Wiedersehen aufgeregt entgegengefiebert. Am Vortag ist sie nämlich plötzlich in die Lagerverwaltung gerufen worden. Jemand wolle sie dringend am Telefon sprechen, hieß es. Wer will sie hier schon erreichen, in einem entlegenen deutschen Provinznest, fragt sie sich. Wahrscheinlich wieder nur eine jener Anfragen, die ihre Familie an verschiedenen Orten seit dem Verlassen Polens über sich ergehen lassen musste, eben nach dem Woher, Wohin, Warum. Aber dann ein Jubelschrei, als sie den Hörer in der Hand hält: Es meldet sich ihr Aron; er ist ganz in der Nähe, in Ziegenhain.

Als Aron und Lea sich in den Armen liegen, rundet sich eine Geschichte, die vor vielen Monaten in Polen ihren Anfang genommen hat. Beide hatten – damals kannten sie sich noch nicht – den Terror im Ghetto von Lodz überlebt und waren, dank glücklicher Fügungen, im letzten Moment der Vernichtung entkommen. Die übrige Familie Lesser wiederum konnte, nach der Besetzung Westpolens durch Hitlers Wehrmacht, zunächst in den von Stalin okkupierten Osten des Landes fliehen, wurde von dort jedoch später nach Sibirien verschleppt. Das wiederum hatte ihnen, mehr schlecht als recht, das Leben gerettet. Allen gemeinsam war jedoch das schockierende Erlebnis nach Kriegsende 1945, dass sie als Juden in ihrer Heimatstadt Lodz auf den Hass und die Hetze ihrer polnischen Nachbarn trafen. Mehr und mehr fühlten sie sich von der Welle dieses neuen Antisemitismus und den Exzessen mörderischer Pogrome bedroht.

In dieser Situation fassen sie einen wagemutigen Plan: Aron Waks und Familie Lesser, die sich in der kleinen jüdischen Gemeinde von Lodz zusammengefunden hatten, bereiten Anfang 1946 gemeinsam ihre Flucht vor, zwar nach Deutschland, aber in die Obhut der amerikanischen Besatzungsmacht. Ihre eigentliche Absicht besteht darin, möglichst bald nach Palästina auszuwandern. Zu unterschiedlichen Zeiten verlassen sie Lodz. Zuerst reist Aron im Sommer 1946 mit einer Gruppe zionistisch orientierter junger Männer. Wenige Wochen später folgen die Lessers. So verlieren sie sich aus den Augen auf den getrennten Wegen ihrer Flucht. Doch nach den Wirren und Ungewissheiten der Reise im Nachkriegsdeutschland nach so kurzer Zeit wieder zusammenzutreffen, grenzt an ein Wunder. In Ziegenhain können sie nun erstmals wieder durchatmen.

Glücklich wieder vereint: Die Familien Waks und Lesser im DP-Lager Ziegenhain im Herbst 1946 (Privatarchiv Ruwen Waks)

Das dokumentiert ein Foto aus jenen Tagen: Auf der Bank vor einer der Lagerbaracken hat sich Lea neben Aron platziert, sie im eleganten Kleid, er korrekt im Jackett mit Hemd und Krawatte. Rechts und links daneben Leas Schwestern Salle und Manja, ebenfalls fein herausgeputzt. Im Hintergrund blicken Bruder Schaje und Vater Leib Lesser aus einer dunklen Fensteröffnung der Behausung. Natürlich handelt es sich um eine arrangierte Szene von der Sorte jener Erinnerungsbilder, wie sie massenhaft in dicken Alben kleben: So war das, so sahen wir aus, heißt es später beim gelegentlichen Durchblättern. Und doch enthält dieses Foto noch eine andere Aussage: Ja, wir sind wieder alle beisammen, haben Terror und Flucht überstanden, können wieder nach vorne schauen. Eine geradezu trotzige Demonstration von Familienglück inmitten des traurigen Lagerlebens.

Eine Portion Zuversicht kann für die kleine Gruppe sicherlich hilfreich sein. Denn Ziegenhain ist im Spätsommer 1946 schon ein größeres Camp mit über 2000 Flüchtlingen, die meisten aus Polen. In dieser zusammengewürfelten Gemeinschaft bekleidet Aron Waks eine herausgehobene Position, denn er steht als Vorsitzender an der Spitze des Lagerkomitees. Intern nennen sie ihn »Präses«. In dieser Funktion vermittelt er zwischen dem amerikanischen Lagerkommandanten sowie den Hilfsorganisationen und den Emigranten. Als zupackender Typ sorgt er mit einem kleinen Team für den Aufbau einer festen Struktur am neuen Ort; die US-Armee hat den Campbewohnern eine weitgehende Selbstverwaltung überlassen. Dazu zählt zunächst alles, was für den Alltag existenziell notwendig ist, wie Unterkunft, Essen, Kleidung, Hygiene. Zwar werden die Bewohner von der US-Armee und verschiedenen jüdischen Hilfsteams mit Nahrungsmitteln und sonstigem Lebensbedarf versorgt. Aber Aron Waks und das Komitee kümmern sich darum, wie alles untereinander verteilt und geregelt wird. Dazu zählt auch, kein leichtes Unterfangen bei den örtlichen Gegebenheiten, dem großen Teil der gläubigen Juden koschere Speisen und deren ordnungsgemäße Zubereitung anzubieten.

Aber die Bedürfnisse der abgeschirmten Zwangsgemeinschaft gehen noch viel weiter. Dazu gehören Kindergärten, Schulen, Ausbildungsplätze, Werkstätten, da die zahlreichen Kinder und Jugendlichen auf ihre weitere Zukunft vorbereitet werden sollen. Um eine stabile Ordnung der eng aufeinanderhockenden Menschen zu gewährleisten, braucht es zudem eine Lagerpolizei, die aus der eigenen Mitte gebildet wird.

Nicht zuletzt wollen viele Ankömmlinge ihre religiösen Traditionen wieder aufnehmen. Es gilt dementsprechend, Synagogen und Beträume einzurichten und sich mit den jüdischen Feldgeistlichen der Army, »Chaplains« genannt, zu arrangieren, um regelmäßige spirituelle Zeremonien zu ermöglichen. Ebenso notwendig ist eine Talmud-Tora-Schule, um den Wert der Schrift wieder in das Bewusstsein zu rufen, besonders für die jüngere Generation. Und natürlich pflegen sie ihre althergebrachte Sprache: das Jiddische. Es bleibt im Lageralltag das beherrschende Idiom.

Eine gewaltige Aufgabe, vor der das Leitungsteam steht: in der Fremde für die Flüchtlinge eine kleine gesellschaftliche und kulturelle Einheit zu schaffen, die sich am Vorbild des osteuropäischen Schtetl ausrichtet. So sollte, unter den Maßstäben des Lagers, die alte Tradition wiederauferstehen, die die Nazis systematisch vernichtet hatten. In der Rückschau auf die damaligen Tage, die mit viel Improvisation und Umstellung angefüllt waren, betont Lea einzig die Vorzüge der neuen kleinen Welt: »Was sollten wir dort meckern? Nach den schlimmen Erfahrungen waren wir doch so froh, endlich wieder unter uns zu sein. Allein das zählte!«

Dabei erscheinen die äußeren Bedingungen in Ziegenhain alles andere als verlockend. Das Camp diente den Nazis unter der Bezeichnung »Stalag IX A Ziegenhain« als größtes Kriegsgefangenenlager in Hessen. Kurz nach Hitlers Überfall auf Polen im September 1939 auf einer großen Kuhwiese platziert, wurden dort zuletzt über 35000 Menschen zusammengepfercht: aus Polen, Russland, Frankreich, Belgien, Holland, Italien, von überallher, wo die Wehrmacht Krieg führte und Gefangene nahm. Dann, nach der Befreiung Ende März 1945 durch die US-Armee, kehrte sich die Funktion des Lagers um. Die amerikanische Besatzungsmacht internierte dort zunächst NS-Funktionäre, SS-Angehörige, SA-Mitglieder, Wehrmachtssoldaten, BDM-Frauen – ein kurzfristiger und daher unzulänglicher Versuch der politischen Umerziehung nationalsozialistisch infizierter Deutscher.

Denn die Militärverwaltung sieht sich recht bald gezwungen, das Terrain für eine andere Gruppe zu nutzen, deren Zahl seit Anfang 1946 von Monat zu Monat steigt: die osteuropäischen Juden. Der neu ausgebrochene Antisemitismus in ihren Heimatländern, besonders in Polen, aber auch in den baltischen Staaten, der Tschechoslowakei und in Ungarn, treibt sie massenweise zum Exodus. Meist illegal versuchen sie über die Grenze nach Westen, vor allem in die US-Zonen von Deutschland und Österreich, zu gelangen, nur fort, weil sie sich dort Schutz und Sicherheit versprechen. Von »Panikflucht« sprechen daher Historiker.

Dazu gibt es genügend Anlass. Anfeindungen steigern sich beispielsweise in Polen bald zu bösartigen Hasstiraden gegen die Minderheit der überlebenden Juden, aus einzelnen gewalttätigen Übergriffen entwickeln sich rauschhafte Menschenjagden an verschiedenen Orten, bis zum Pogrom in der Kleinstadt Kielce Mitte 1946, bei dem 42 Menschen erschlagen und 80 schwer verletzt werden. Zwei Tage dauert die mörderische Hatz. Nach diesem barbarischen Exzess gibt es für die polnischen Juden kein Halten mehr. Über 50000 verlassen allein in den Herbstmonaten das Land. Eine gewaltige Flüchtlingswelle schwappt nach Westen, hält auch 1947 noch an.

Aber Rettung im Land der Täter, und dies so kurz nach dem Ende der Schoah? Für die Entkommenen der Katastrophe aus Osteuropa ist dies nicht die entscheidende Frage, als sie ihre alte Heimat verlassen. Denn sie fliehen in ihrer Vorstellung nicht nach Deutschland und nicht zu den Deutschen, sondern zu den Siegern über die Hitler-Diktatur, den Amerikanern zuerst, in geringem Umfang zu den Briten und Franzosen. In deren Hände wollen sie ihr weiteres Schicksal legen, zumindest für eine...

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