2. Einmal geht noch
Für die nächsten Stunden war der Info-Point wieder mein Arbeitsplatz, ich gab Schilder an die Freiwilligen aus, glich die Namen mit den Listen ab, beantwortete Fragen, sagte Leuten, wo sie hingehen sollten, und schickte sie sogar in die richtige Richtung, instruierte die Spender, die über den ganzen Tag verteilt nicht weniger wurden, und ließ mich von der positiven Stimmung anstecken, die sich durch das gesamte Haus zog. Hinter mir blubberten die beiden Kaffeemaschinen, das eigentümliche Konstrukt von Rubens Maschine mit zwei nebeneinanderliegenden Kaffeekannen erforderte ein Studium in Kaffeekochkunde. Ruben hatte mich zu einem fachmännischen Gebrauch ermahnt, vergeblich, ständig lief der Kaffee irgendwo raus und über, und es brauchte ein Dutzend Durchläufe, bis wir die Maschine ohne Überschwemmung bedienen konnten.
Also verlagerten wir die Kaffeeproduktion ins Haus, um das Minibüro nicht ständig zu fluten. Am Eingangstor saßen wieder die Security-Männer mit ihren Listen, auf denen ich natürlich wieder nicht stand, der Volunteer Planner, in den ich mich diesmal sogar artig hatte eintragen wollen, war für die gesamte Woche ausgebucht gewesen. Noch einmal konnte ich ihnen die Geschichte mit der fehlerhaften Liste wohl kaum erzählen. Zielstrebig ging ich auf den Security-Mann zu, dessen Namen ich mir gestern gemerkt hatte. Der breitschultrige Typ sah nicht nur wie ein Türsteher aus, er war es hier ja tatsächlich, hatte sich aber gestern als ziemlich entspannt erwiesen. Mit einem »Hey Mehmet, wie geht’s?« lief ich einfach an ihm vorbei Richtung Treppenaufgang. »Wir machen gerade Kaffee, willst du auch einen?« Mehmet, sichtlich überrascht, grüßte zurück, sah mich da wie selbstverständlich mit der Kaffeekanne in der Hand stehen, für einen Moment überlegend, ob er mich etwa schon eingetragen hatte, und ließ mich passieren. Dreistigkeit siegte, für heute war ich sicher.
Genau 23 Tage zuvor war diese wuselige Stadt in der Stadt geboren worden. Am Freitag, den 14. August 2015, hatte der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) morgens in einer E-Mail mitgeteilt, dass noch am selben Tag im früheren Rathaus Wilmersdorf, ein aufgrund der Fusion der Bezirke Charlottenburg und Wilmersdorf leer stehendes Gebäude, eine Notunterkunft eröffnet werden würde. Drei Tage vorher hatte die Behörde von Sozialsenator Mario Czaja erklärt, die Verwendung der Immobilie werde geprüft – wie andere auch. Offenbar war die Prüfung nun abgeschlossen. Denn jetzt sollte Berlins 61. Unterkunft für Flüchtlinge eröffnen. An diesem Tag. Sofort. Die Unberechenbarkeit und Spontaneität der Berliner Behörden sollte legendär werden.
Im Eilverfahren hatte der Katastrophenschutz des Arbeiter-Samariter-Bundes nun das Rathaus zur Übernahme zugeteilt bekommen und bat die Bevölkerung um Hilfe. Irgendwie war diese E-Mail bei Philipp gelandet, der daraufhin zum Rathaus fuhr – und vor verschlossenen Türen stand. Nach einigem Hin-und-her-Telefonieren hatte er erfahren, dass gegen Mittag der Katastrophenschutz mit 50 Leuten anrücken würde, trotz guter Kontakte in die Behörden war es ihm aber nicht gelungen, herauszubekommen, wann wie viele Flüchtlinge zu erwarten waren. Das LAGeSo wusste es offenbar selbst nicht.
Philipp, der bereits Erfahrungen in anderen Unterkünften gesammelt hatte, gründete die Facebook-Gruppe »Wilmersdorf hilft« und postete den Link in allen möglichen Unterstützerforen. Den ersten Schritt zur Gründung des Ehrenamts in der Notunterkunft Rathaus Wilmersdorf hatte er damit getan. Nur Stunden später hatte die Gruppe bereits 500 Mitglieder, aus allen Ecken der Stadt wurde nachgefragt, wo und wie man wann helfen könne. Um 15 Uhr kam das Radio vorbei, berichtete von den wartenden Helfern, Spreeradio rief zur Unterstützung auf. Die Facebook-Gruppe wuchs weiter auf 800 Mitglieder, vor dem Rathaus trafen die ersten Helfer ein und warteten schwitzend bei 28 Grad Celsius. Was fehlte, waren die Flüchtlinge und der Katastrophenschutz.
Um 16.15 warteten bereits rund 100 Freiwillige, als der ASB Katastrophenschutz mit 50 seiner Ehrenamtlichen auftauchte und sichtlich überfordert war, doppelt so viele Freiwillige vor sich zu haben.
Doch dann ging es los. Während der ASB Feldbetten auslud, die Zimmer inspizierte und rasch einen Lageplan erstellte, begannen die Freiwilligen die ersten Betten aufzubauen. Philipp startete einen Spendenaufruf, der im Netz immer wieder geteilt wurde. Wenige Stunden später wurde das Spendenlager notdürftig eröffnet, Lebensmittel, Kleidung, Bettzeug – die Berliner brachten alles.
Um 19.15 Uhr dann der erste Bus, die ersten Flüchtlinge. Ihnen war ein weiterer Bus gefolgt. Wie aus dem Nichts standen plötzlich 178 Flüchtlinge vor der Tür, jetzt musste es schnell gehen. Während die einen beim Aufbau der Betten und der Feldküche halfen, versorgten andere die Flüchtlinge mit Wasser. Es gab keine Bänke oder Stühle, wer sitzen wollte, saß auf dem Boden im Flur. Denn in die Zimmer konnte nur, wer für das Haus registriert war. Zwar waren Formulare vorhanden, aber es gab kein Registrierungssystem, kein Internet, nicht einmal Tische waren im Haus zu finden.
Bis 4 Uhr morgens registrierten die Helfer und der Katastrophenschutz jeden der Flüchtlinge. Die offizielle Registrierung fand erst am Mittwoch statt, fünf Tage nach Gründung der Einrichtung. Erst dann hatten Flüchtlinge die Möglichkeit, eine sogenannte grüne Karte für medizinische Behandlungen zu erhalten. Wer vorher Hilfe benötigte, war auf ehrenamtliche Ärzte angewiesen oder auf solche in Krankenhäusern, die mitdachten, die deutsche Überpräzision kurzfristig ignorierten und einfach halfen, ohne an Abrechnungsscheine zu denken.
Parallel erstellten die Freiwilligen die erste Bedarfsliste. Man brauchte alles: Zahnpasta und Zahnbürsten, Handtücher, Bettzeug, Seife, Shampoo, Deo, Desinfektionsmittel, Kleidung für Männer, Frauen und Kinder. Und vor allem Wasser. Erst Stunden zuvor war bekannt geworden, dass das Wasser aus den Wasserhähnen nicht getrunken werden durfte, fast ein Jahr war kein Wasser durch die alten Leitungen gelaufen. Es war heiß, man brauchte Wasser, viel Wasser.
Um 5 Uhr morgens verließen die letzten Freiwilligen das Haus, um 9 Uhr waren viele von ihnen wieder da. Bei Philipp stand das Telefon nicht mehr still, seine Telefonnummer hatte sich in Windeseile verbreitet, von überall riefen die Leute an, wollten spenden und helfen, die Presse bat um Interviews. Schon jetzt, nur einen Tag nach der Eröffnung der Notunterkunft, überschlugen sich die ersten Pressemeldungen vor Lob für die große Hilfsbereitschaft, der Einsatzleiter des ASB sagte wenige Tage später, in den 40 Jahren seiner Tätigkeit hätte er nie eine solche ehrenamtliche Hilfe erlebt.
Aus der Zeitung erfuhren die Freiwilligen, dass das Haus, in dem sie letzte Nacht 178 Menschen untergebracht hatten, eigentlich nur für 130 Flüchtlinge Platz hätte, am Wochenende die Zahl aber auf 500 erhöht werden solle. Aber auch jetzt schon wurde es immer voller. Zu den 178 Flüchtlingen kamen nicht nur die Katastrophenschutzmitarbeiter, sondern auch immer mehr Freiwillige. Samstag waren es schon 150, bald gab es mehr Freiwillige als Flüchtlinge. Wann wo im Haus wie viele und welche Menschen genau waren, war nicht immer klar, es war chaotisch. Doch es ging voran, ununterbrochen wurde gearbeitet. Die BILD-Zeitung rief auf: »Es werden aber noch mehr Helfer benötigt. Vor allem solche, die beim Übersetzen helfen können – in den Sprachen Farsi, Russisch, in irakischen und syrischen Dialekten.«
Samstagmittag, einen Tag nach der Öffnung, dann der erste Schritt auf dem Weg zum organisierten Helfen, der das Fundament der späteren Struktur legen sollte, angestoßen von den Freiwilligen selbst: Wer ins Haus wollte, musste sich in eine Liste bei der Security eintragen und ein Band um den Hals tragen, damit jederzeit überblickt werden konnte, wie viele und welche Helfer sich gerade im Haus befanden.
Während Philipp mit dem Katastrophenschutz verhandelte, wie sich die Freiwilligen in dem Haus zu registrieren hätten und bewegen konnten, durchkämmte Yasmine das Rathaus auf der Suche nach einem geeigneten Raum für Kinder. Dutzende kleine Kinder waren am Vortag und in der Nacht angekommen, erschöpft und traumatisiert. Für sie sollte ein kindergerechter, fröhlicher Ort geschaffen werden. Während Yasmine im vierten Stock einen geeigneten Raum fand, traf sich im Erdgeschoss eine andere Gruppe und entwarf unter dem Management von Michaela und Dorothee den Plan für die Spendenannahme und die Spendenausgabe, erstellte Raumpläne, parallel lief ein Spendenaufruf für Kinderspielzeug. Eine andere Gruppe nahm den Aufbau der völlig zerfallenen und verdreckten Kantine im vierten Stock in Angriff. Es gab kein fließendes Wasser, keine Kühlschränke, und der einzige Fahrstuhl im Haus funktionierte nicht. Alles, was in die Kantine sollte, musste getragen werden. Noch Tage nach deren Eröffnung schleppten Freiwillige Hunderte Liter Wasser die vier Etagen nach oben. Die Feldküche im Hof war das Herrschaftsgebiet des Katastrophenschutzes. Was fehlte, waren die Duschcontainer. Zwar sollten diese geliefert werden, allerdings mit einer Höhe von 3 Metern. Die Toreinfahrt zum Innenhof war jedoch 2,90 Meter hoch.
Am Sonntag hatte sich das Lager der Spendenannahme gewaltig gefüllt, ein neuer Raum wurde hinzugenommen. Die 150 Freiwilligen hatten sich auf 300 verdoppelt, die Facebook-Gruppe zählte 48 Stunden nach Gründung über 1500 Mitglieder.
Am selben Tag hatten unter der Leitung von Esther und Victoria...