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Als die Musik in Deutschland spielte

Reise in die Bachzeit

AutorBruno Preisendörfer
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783462320268
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Eine Zeitreise in die Lebenswelt des Barock. Wie die Familie Bach im Alltag lebte, Händel sich kurieren ließ und Telemann sein Geld anlegte: Bruno Preisendörfers Zeitreise führt in die Zeit der Fürstenfeste und Bauernhochzeiten, der Stadtpfeifer und Bierfiedler, der Kaffeehäuser und Kastraten. Wir tauchen ein in den Alltag der Leute, erfahren von ihren Freuden und Lastern. Beinahe alle großen Themen des Lebens finden sich in diesem Buch - wie wurden etwa Ehen angebahnt, wer durfte überhaupt wen heiraten und wie hielt man es mit der Kindererziehung? Auch die neuesten Moden und Erfindungen der Zeit kommen nicht zu kurz: gebratene Singvögel zum Abendessen, Blumenzwiebeln als Spekulationsobjekte, Tabak für die Männer, Kaffee für die Frauen, Tanz, Bier und Schnupftabak für alle. Und immer spielt die Musik, mit ihren verschiedenen Vorzeichen zwischen religiösem Pflichtbewusstsein, Dienstbarkeit gegenüber dem Adel und einfachem Vergnügen, eine Hauptrolle.

Bruno Preisendörfer ist freischaffender Publizist und Schriftsteller mit eigener Internetzeitschrift (www.fackelkopf.de). Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a.: »Die letzte Zigarette«, »Der waghalsige Reisende. Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben« und »Die Verwandlung der Dinge. Eine Zeitreise von 1950 bis morgen«. Seine beiden Bücher »Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit« und »Als unser Deutsch erfunden wurde. Reise in die Lutherzeit« waren SPIEGEL-Bestseller. Letzteres wurde zudem mit dem NDR-Sachbuchpreis ausgezeichnet. 

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Leseprobe

1. Die Welt, Europa und die deutschen Länder



Tanz der Kontinente – Singende Geographie –
Der ›Südseeschwindel‹ –
Deutschland nach der Verheerung

Tanz der Kontinente


Drei Akte hat Händels erstes ›Sing-Spiel‹ Almira, uraufgeführt im Januar 1705 in der Oper am Gänsemarkt der Hafenstadt Hamburg. Im dritten Akt treten drei Kontinente auf: Europa, Afrika, Asien. Frau Europa trägt dem Libretto zufolge römische Tracht, eine Oboenkapelle schreitet ihr voran. Afrika wird unter Trommeln und Trompeten von zwölf ›Mohren‹ über die Bühne gezogen. Asien tanzt, von Piccoloflöten und Trommeln begleitet, eine Sarabande. Aus diesem Instrumentalstück geht sechs Jahre später, in der Oper Rinaldo zu einer Klage-Arie erhöht, Händels größter Hit hervor: Lascia ch’io pianga. Die Almira, deren vollständiger Titel lautet Der in Krohnen erlangte Glücks-Wechsel, oder: Almira, Königin von Castilien, ist Händels einzige Oper ohne Kastratenrollen[6].

Vier Seiten hat die Decke über dem Treppenhaus der Würzburger Residenz, und vier Teile hat dort oben die Welt: Europa, Asien, Amerika und Afrika, für jede Seite des Deckengemäldes ein Erdteil. Von Australien wusste Giovanni Battista Tiepolo aus Venedig nichts, als er in Würzburg aufs Gerüst stieg. Das 1752/53 entstandene Fresko zeigt Europa als Herrscherin der Welt und in deren Zentrum den Würzburger Hof. Amerika, als halb wilde, mithin barbusig dargestellte Indianerin trägt Federschmuck und sitzt auf einem Krokodil. Zu ihren Füßen liegen die abgeschlagenen Köpfe weißer Männer, deren Körper, so durften die entsetzten Betrachter vermuten, von den roten Kannibalen verspeist worden waren. Frau Asia, ehrwürdige Repräsentantin einer uralten Kultur, reitet vollständig bekleidet auf einem prächtig aufgezäumten Elefanten, während die primitiv sinnliche Afrika von ›Mohren‹ umgeben nackt und träge auf einem Dromedar ruht in Erwartung der ihr dargebrachten Geschenke.

Etwa in der Mitte zwischen dem Bühnenauftritt von Händels Afrika in Hamburg zu Beginn des 18. Jahrhunderts und dem Erscheinen von Tiepolos Afrika an der Würzburger Decke in der Mitte des 18. Jahrhunderts meldeten die Wöchentlichen Hallischen Frage- und Anzeigungs-Nachrichten: »Hieselbst hat sich ein in Diensten Sr. Hochfürstl. Durchl. des regierenden Herzogs von Wolfenbüttel stehender getaufter Mohr Namens Herr Antonius Wilhelmus Amo, einige Jahre Studirens halber aufgehalten.« Die Meldung vom 28. November 1729 weist maliziös darauf hin, dass »das argument der disputation seinem Stande gemäß seyn möchte«, also »vom Mohrenrecht« handele und »vornehmlich dieses untersuchet, wie weit den von Christen erkauften Mohren in Europa ihre Freyheit oder Dienstbarkeit denen üblichen Rechten nach sich erstrecke.« Amos Dissertatio inauguralis de iure maurorum in Europa ist verloren gegangen. Einige spätere lateinische Schriften haben sich erhalten, außerdem ist das akademische Wirken des ›Mohren‹ neben Halle auch in Wittenberg und Jena belegt.

Amo kam als Kleinkind auf einem Sklavenschiff der holländischen »West-Indischen Compagnie« nach Amsterdam und dort in den Besitz von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, dem Dienstherrn von Leibniz in den frühen 1690ern. Jedoch sind der europäische Universalgelehrte und der spätere afrikanische Rechtsphilosoph, der seine außergewöhnliche Laufbahn als Kammermohr begann, einander nie begegnet. Selbst wenn man sich ausmalt, Leibniz hätte kurz vor seinem Tod 1716 sein Haus in Hannover für einen Besuch in Wolfenbüttel verlassen und wäre dort in einem Antichambre des Schlosses[7] auf den jugendlichen Kammermohr Amo gestoßen, selbst wenn zeitlich gerechnet eine Begegnung der beiden in einem Vorzimmer möglich gewesen wäre, so hätte in Herkunft und Haltung doch das Meer zwischen ihnen gelegen, das Europa von Afrika trennt. Ohnehin hielt der europäische Gelehrte die afrikanische Menschenware für gefährlich. Im Juni 1700 schrieb er an seine Gönnerin, die Kurfürstin Sophie in Hannover: »Als ich beim Kurfürsten in seinem Appartement war, wurde ihm gemeldet, dass einer der neu eingetroffenen Mohren sich gestern ertränkt habe. Die Ursache ist: Er hatte ich weiß nicht was für eine Dummheit begangen, er wurde festgenommen und sollte gezüchtigt werden, er entwich aus den Händen der Leute, die ihn führten, und stürzte sich in eine Schleuse und konnte nicht rechtzeitig gerettet werden. Erst heute wurde der Leichnam gefunden, er soll unter dem Galgen begraben werden. Menschen dieser Art sind eine Gefahr und fähig, sich an dem größten Fürsten zu vergreifen. Deshalb sollte man sie besser entfernen.«

Nach Herzog Antons Tod 1714 wurde Amo an dessen Sohn und Nachfolger August Wilhelm vererbt, als einer der an Fürstenhöfen und auf Fürstenbildern gern präsentierten Kammermohren. Sie waren die exotische Zier an europäischen Königs- wie an deutschen Provinzhöfen. Auf zahlreichen Gemälden tragen sie Blumenschalen durch Prunkzimmer oder stehen Schirmchen haltend hinter fürstlichen Kleinkindern, etwa auf einem Bild Antoine Pesnes von 1714, das den pausbäckigen kleinen Friedrich von Preußen mit seiner Schwester Wilhelmine darstellt. Andere Gemälde im sich gern ›leichtfertig‹ gebenden Rokoko-Geschmack ließen schwarze Jünglinge in Kammermohr-Livree bewundernd zu Gräfinnen emporblicken oder lüstern vor den Betten halb nackter Prinzessinnen herumlungern. Eine Porzellangruppe des Meißener Modellmachers Johann Joachim Kändler von 1737, betitelt als »Handkuss mit Mohrendiener«, besteht aus einer sitzenden Dame im Reifrock mit Hündchen im Schoß. Eine Hand überlässt sie recht desinteressiert einem knieenden Kavalier zum Kuss, mit der anderen hält sie dem aufgeputzten schwarzen Diener ein Schokaladentässchen zum Nachschenken hin. Von William Hogarth wiederum gibt es eine satirische Radierung aus dem Jahr 1746, die zeigt, wie eine Lady im Reifrock ein Negerbüblein unterm Kinn krault, wie sie sonst ihr Hündchen gekrault haben mag.

Die ›Mohren‹ wurden nicht nur auf Bildern vorgezeigt, sondern auch als Lebendschmuck bei fürstlichen Festen. David Fassmann berichtet in Leben und Thaten von Friedrich Augusti von einer entsprechenden Abteilung beim festlichen Einzug nach Dresden anlässlich der Vermählung des Sohnes von August dem Starken mit einer Habsburger Prinzessin im Jahr 1719: »Mohren zu Fuß alle einer Länge, so Ihre Majestät der König [in Polen, der Kurfürst August in Personalunion war] haben aus Portugall bringen lassen, in weißen Atlas gekleidet, mit rothen scharlachenen Talaren, so mit blauen sammtenen Borden und goldenen Tressen wechsels-weise besetzet waren; um den Hals hatten sie goldene Hals-Bänder, und auf den Köpffen Türckische Bünde mit Strauß-Federn.«

Der dressierte schwarze ›Wilde‹ im Festzug faszinierte das Straßenpublikum, und der ›Mohr‹ im Schlafgemach einer weißhäutigen Aristokratin beschäftigte die erotische Phantasie weißer Herren, hin- und hergerissen zwischen Aufreizung und Abscheu. Als Amo, durch die Förderung seines Wolfenbütteler ›Inhabers‹ zum Rechtsdozenten in Jena aufgestiegen, es in den frühen 1740ern wagte, einer Bürgertochter einen Heiratsantrag zu machen, folgte auf die Abweisung öffentliche Häme, etwa in Form gereimter Verfolgung durch den selbst viel verfolgten Johann Ernst Philippi: Herrn M. Amo, eines gelehrten Mohren, galanter Liebes-Antrag an eine schöne Brünette, Madem. Astrine, ergänzt durch Der Mademoiselle Astrine Parodische Antwort auf solchen Antrag eines verliebten Mohren. Darin wird festgehalten: »Den teutschen Jungfern ist ein Mohr was unbekanntes«, nur »eine Mohrin ist blos deines Hertzens werth« und »Bey Europäern wirst du schwerlich glücklich seyn.« Das war neben der Schmähung auch eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Amos Lebensspuren verlieren sich, nachdem er im letzten Drittel der 1740er Jahre an die Goldküste im heutigen Ghana zurückkehrte.[8]

Das globale Sklavensystem war als Dreieckshandel zwischen Afrika, Europa und Amerika organisiert. Die Afrikaner waren die Menschenware, europäische Aktiengesellschaften wie die holländische Westindienkompanie die Großhändler, europäische Plantagenbesitzer in den kolonisierten Gebieten Amerikas die Kunden. Der von den Sklaven gewonnene Rohrzucker und die von ihnen gepflückte Baumwolle wurden nach Europa verschifft und dort weiterverarbeitet. Der Erlös ließ sich in den Ankauf weiterer Sklaven reinvestieren, der Kreislauf begann von vorn.

Die ›Global Players‹ (wie man heute sagen würde) dieses interkontinentalen Geschäfts waren die Holländer, die Franzosen und die Engländer. Aber auch Brandenburg versuchte, sich einen Anteil zu sichern. Am 1. Januar 1683 ließ an der Küste des heutigen Ghana der preußische Major Otto Friedrich von der Gröben unter Paukenschlägen und Schalmeienklang die Fahne mit dem roten Adler aufziehen und legte den Grundstein der Festung Groß-Friedrichsburg, benannt nach Kurfürst Friedrich Wilhelm (der ›große Kurfürst‹). Parallel dazu wurde eine »Brandenburgisch-Africanisch-Amerikanische Companie« in Emden etabliert, jedoch bereits 1706 wieder aufgelöst. 1717 schließlich überließ der Soldatenkönig die Festung der Westindienkompanie. Die Holländer bezahlten 72000 Dukaten, mussten ihre Neuerwerbung aber auch neu erobern, weil ein Aschanti-Häuptling die Festung nach dem Abzug des preußischen Gouverneurs besetzt hatte.

In den drei...

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