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Als unser Deutsch erfunden wurde

Reise in die Lutherzeit

AutorBruno Preisendörfer
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783462315660
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Mit Luther auf die Wartburg und mit Berlichingen auf Raubzug ... Der Autor des Spiegelbestsellers Als Deutschland noch nicht Deutschland war legt nach: Eine Zeitreise in Luthers Deutschland Martin Luther lag erst ein gutes Jahr in der Wittenberger Schlosskirche im Sarg, als im Frühling 1547 von den Türmen seiner alten Predigtkirche, der Stadtkirche St. Marien, die Aufbauten von den Türmen genommen wurden. Auf die freigemachten Plattformen sollten Kanonen gehievt werden, mit denen man die Landsknechte Karls V. vom Sturm auf die Stadt abhalten wollte. Letztendlich wurde die Stadt friedlich übergeben; Wittenberg wurde nicht geplündert. Luthers Leichnam wurde nicht aus dem Grab geholt und verbrannt, um noch posthum die Reichsacht an ihm zu vollstrecken - obwohl es Stimmen gab, die dies forderten. Die Türme bekamen neue Spitzhelme - und erst ein halbes Jahrtausend später (bei Restaurierungsarbeiten im Jahr 1910) fand man eine von Philipp Melanchthon handschriftlich verfasste Chronik der Zeit - einer Zeit, die bewegter, aber (für Deutschland) auch zukunftsformender kaum hätte sein können.Bruno Preisendörfer schaut Luther und vielen seiner Zeitgenossen über die Schulter, wir erleben ihr öffentliches Wirken, aber auch ihren Alltag. Mit Götz von Berlichingen überfallen wir Nürnberger Kauf leute und werden selbst von Nürnbergern belagert. Wir sehen den Fuggern in ihrem Augsburger Kontor auf die Finger und machen uns mit den Welsern bei der Ausbeutung Venezuelas die Hände schmutzig. Albrecht Dürer lernen wir beim Malen kennen, Hans Sachs beim Versemachen und Luthers Frau Katharina bei der Haushaltsführung - bis wir mit ihr vor der Pest aus Wittenberg fliehen. Wir erleben, wie mühsam die Alltagsverrichtungen sind, vom Zubereiten der Mahlzeiten bis zum Beschaffen der Kleidung. Wir reihen uns in Landsknechte-Haufen ein, proben mit fränkischen und thüringischen Bauern den Aufstand, lauschen brav den Predigern und fürchten uns vor dem Jüngsten Gericht.

Bruno Preisendörfer ist freischaffender Publizist und Schriftsteller mit eigener Internetzeitschrift (www.fackelkopf.de). Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a.: »Die letzte Zigarette«, »Der waghalsige Reisende. Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben« und »Die Verwandlung der Dinge. Eine Zeitreise von 1950 bis morgen«. Seine beiden Bücher »Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit« und »Als unser Deutsch erfunden wurde. Reise in die Lutherzeit« waren SPIEGEL-Bestseller. Letzteres wurde zudem mit dem NDR-Sachbuchpreis ausgezeichnet. 

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Leseprobe

Deutsche Bibeln und deutsche Drucke


Luther schrieb abfällig über die Schrift, und im Narrenschiff des Sebastian Brant, einem der erfolgreichsten gedruckten Bücher der gesamten Epoche, wird schon in der Vorrede über das Bücherdrucken hergezogen: »All land syndt yetz voll heylger geschrifft / Und was der selen heyl antrifft / Bibel der heylgen vaetter ler / Und ander der glich buecher mer.« Zwischen der gedruckten Verspottung des Drucks, mit dem das 1494 in Basel publizierte Narrenschiff seine lange Erfolgsfahrt durch das Büchermeer begann, und der Mainzer Erfindung der Methode, die diesen Erfolg überhaupt erst möglich machte, lag nicht einmal ein halbes Jahrhundert. Gutenbergs Leistung bestand aus der Kombination einer ganzen Reihe technischer Neuerungen: die Herstellung einzelner, wiederverwendbarer Lettern aus einer Zinn-Blei-Legierung; das Aneinandersetzen der Lettern zu Zeilen und das Zusammenfügen der Zeilen zu Spalten oder Seiten; die Verwendung einer zähflüssigen, schnell trocknenden Druckfarbe; das Auftragen der Farbe auf den Satz mit einem ledernen, rosshaargefüllten Ballen; die Übertragung der Farbe vom Metallsatz auf den Papierbogen mittels einer gleichmäßig Druck ausübenden Holzpresse.

Das Referenzwerk zur ›Erfindung des Buchdrucks‹ ist bis heute die Mitte der 1450er-Jahre in einer Stückzahl von 180 Exemplaren erschienene ›Gutenberg-Bibel‹. Sie folgte im Text der Vulgata, der von Kirchenvater Hieronymus, dem Heiligen mit dem Löwen, überlieferten lateinischen Bibel. Die kostbar illustrierten Prachtexemplare in zwei Bänden mit 648 und 634 Seiten zu (in der Regel) je 42 Zeilen pro Seite ahmten im Schriftbild noch die mittelalterlichen Handschriften und im Format die mittelalterlichen Kodizes nach. Aber die neue Drucktechnik überwand und überwältigte die alten Verbreitungsmethoden des Wissens und führte schließlich dazu, dass dieses althergebrachte Wissen erst seine Exklusivität verlor und dann generell infrage gestellt wurde.

Der gelehrte Sebastian Brant verhöhnte den Büchernarren, der sammelt, ohne das Gesammelte zu verstehen, noch als lateinfernen Dummdeutschen: »Ob ich schon hab eyn groben synn / Doch so ich by gelerten bin / So kan jta sprechen jo / Des tütschen orden bin ich fro / Dann jch gar wenig kan latin«. Die nahezu gleichzeitige Weltchronik indessen gießt gerade wegen des Buchdrucks Lob und Preis über die Deutschen aus: Wer könne ermessen, »mit was lob, preyse, ehren und ruhm die teutschen ze erheben seyn, die auß ihrer erleuchten sinnreichen schicklichkeit ertrachtet und erfunden Diese kunst der truckerey, durch die der lang verschlossen prunn unaußsprechlicher weißheit menschlicher und auch göttlicher kunst in die gemayne außgeleitet wird.«

Gutenberg ist finanziell an seinen Projekten gescheitert, erst Johannes Mentelin gelang es, die Technik gewinnbringend einzusetzen, Gott, Geist und Geld miteinander zu verbinden. Die in seiner Straßburger Werkstatt 1466 hergestellte Bibel gilt als die erste vollständig auf Deutsch gedruckte überhaupt. Sie bestand aus einer schlecht überarbeiteten, mehr als hundert Jahre alten und ihrerseits schon schlechten Übersetzung der Vulgata des Hieronymus. Aber es war eben eine deutsche Bibel, und sie hatte Erfolg.

Bis 1522, dem Erscheinungsjahr von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments, erschienen außerdem vierzehn oberdeutsche und vier niederdeutsche Bibeln, des Weiteren eine niederrheinische und eine niedersächsische. Eine der oberdeutschen Bibeln (in Philologenzählung die »neunte deutsche Bibel«) war die des Nürnberger Druckers Anton Koberger von 1483, der 1498 Die Heimlich Offenbarung Iohannis mit den Holzschnitten Dürers folgte[20].

Luther war weder der Erste noch der Einzige, der den Bedarf einer deutschen Bibel begriffen hatte. In Zürich arbeiteten während der 1520er-Jahre Zwingli und seine Mitarbeiter ebenfalls an einer deutschen Bibel. Sie konnte bereits 1531 abgeschlossen werden, also vor dem Druck der ersten Vollbibel Luthers im Herbst 1534. Im selben Jahr erschien eine vom Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg in Auftrag gegebene Übersetzung aus katholischem Geist. Drei Jahre später folgte die in einem baierisch-oberdeutschen Dialekt gehaltene Übersetzung von Luthers altem Gegner Johannes Eck.

Trotz der historisch unhaltbaren Legende von Luthers Übersetzung als isoliert stehender Einzelleistung ragt sein Werk über alle Vorgänger- und Konkurrenzunternehmen hinaus: wegen der brutalpoetischen Wortgewalt, wegen der sprachschöpferischen Erfindungskraft und wegen des zornigen Prophetengeistes. Es handelt sich um einen ›babylonischen Turm‹ aus Worten, mit denen Luther zum Himmel hinauf baute, ohne von seinem Gott dafür mit Sprachverwirrung gestraft zu werden. Und doch verhält sich das Deutsche zum Hebräischen wie der Kuckuck zur Nachtigall – meint Luther: »Was ist das für ein großes, beschwerliches Werk, die hebräischen Schriftsteller zu zwingen, deutsch zu reden. Wie sträuben sie sich, da sie ihre hebräische Ausdrucksweise nicht verlassen und sich dem groben Deutsch nicht anpassen wollen, gleich, als ob man eine Nachtigall zwänge, den Kuckuck nachzuahmen«.

Das Sprachwerk Luthers ist zeitlich gleich weit entfernt von der staufischen Klassik um 1200 und der Weimarer Klassik um 1800. Jeweils drei Jahrhunderte trennen ihn von Walther von der Vogelweide und von Johann Wolfgang von Goethe. Aus unserer Zeitperspektive wiederum, mit dem halben Jahrtausend, das zwischen uns und Luther liegt, sieht sein geschriebenes Deutsch weniger nach Goethezeit aus als nach Mittelalter, auch wenn wir höflich genug sind, es ›frühneuzeitlich‹ zu nennen. Die Fremdheit von Luthers Deutsch, unabhängig davon, wie es in seinem Mund geklungen haben mag, fällt sofort ins Auge, wenn man eine Seite seiner Bibeln betrachtet. Eine Lutherbibel ist für uns nahezu unlesbar. Es fällt schwer, die Buchstaben zu identifizieren, die Buchstabenreihen mit schnellem Blick als Worte zu erkennen und die Worte flüssig zu Sätzen zu verbinden, die Sätze wiederum zu Absätzen, die Absätze zu Kapiteln und die Kapitel zu einem Text. Der Weg, den der Schriftsinn von den Buchstaben auf dem Blatt zum Denken im Kopf zurücklegen muss, ist bei uns einfach zu weit. Das liegt nicht nur an Luthers Sprache, die wir nicht mehr ohne Weiteres sprechen, und an der Druckschrift, die wir nicht mehr ohne Weiteres lesen können, sondern auch daran, dass wir – möglicherweise – den allmählichen Abschluss jener Epoche des Buches erleben, die vor einem halben Jahrtausend erst in Mainz und dann auf einer mittelalterlichen Burg eröffnet wurde.

Luther fertigte seine erste Übersetzung des Neuen Testaments während des Winters 1521/22 auf der Wartburg an. Vom Heiligen Geist erfüllt und von satanischen Blähungen gequält, stellte er mit fliegender Feder in elf Wochen das Textgebilde her. Er benutzte die von Erasmus von Rotterdam edierte und kommentierte griechische Urfassung, die erstmals 1516 in Basel erschienen war, ergänzt durch eine lateinische Übersetzung[21]. Auch die Vulgata des Hieronymus stand Luther zur Verfügung, außerdem eine hebräische Ausgabe der Bibel. Nach einer Überarbeitung des Textes gemeinsam mit Melanchthon und nach dem Druck anfänglich nur auf einer Presse, dann auf zwei und schließlich gleichzeitig auf drei Pressen erschien das Werk in einer Auflage von 3000 Exemplaren im September 1522, gerade noch rechtzeitig zur Leipziger Herbstmesse. Es bestand aus 222 Folioblättern (Satzspiegel 13,6 x 24,3 cm), und die Apokalypse war illustriert mit Abwandlungen der Holzstiche von Dürers Zyklus.

Die Messe war nicht nur wichtig für den Absatz überhaupt, sondern auch für die möglichst rasche Verbreitung in möglichst vielen deutschen Gegenden. Die Buchhändler reisten zur Messe, kauften die Bücher und nahmen sie gleich mit. Ein Versand hätte Wochen gedauert, Zeit, die für die Nachdrucker arbeitete. 1525 bat Luther den Nürnberger Rat, darauf hinzuwirken, dass mit den dortigen Nachdrucken zwei Monate gewartet werde, um die Verleger in Wittenberg nicht zu ruinieren. Luther fürchtete um seine Botschaft, und die Verleger Lucas Cranach und Christian Döring machten sich Sorgen um ihr Geld. Sie hatten den Drucker zu bezahlen, unabhängig davon, wie gut der Absatz lief.

Die Ausgabe wurde ein Erfolg, trotz des prompt folgenden Verbotes durch Luthers mächtigsten Feind in der unmittelbaren territorialen Nachbarschaft. Herzog Georg von Sachsen versuchte vergeblich, Erwerb und Besitz des Buches in seinem Territorium zu unterbinden.

Die zahlreichen Nachdrucke schädigten zwar das Geschäft, ruinierten es aber trotz aller Befürchtungen nicht. 1523 erschienen zwölf vollständige, nicht autorisierte Nachdrucke des ›Septembertestaments‹, wie diese Ausgabe heute bezeichnet wird, um sie von einer bereits im Dezember folgenden verbesserten Nachauflage bei Cranach und Döring zu unterscheiden. Luther suchte die Originaldrucke durch ein Wappen zu schützen: »Dies zeichen sey zeuge, dass solche bucher durch mein hand gangen sind, denn des falschen druckens und bucher verderbens vleyssigen sich ytzt viel.« Das Markenzeichen wurde von den Nachdruckern bis auf seltene Ausnahmen respektiert, ein Hinweis darauf, dass das Fälschen eines Wappens als unredlich gegolten hat, nicht jedoch das Nachdrucken eines Buches. Selbst Luthers Empörung wurde nicht durch das ausgelöst, was wir heute den Diebstahl ›geistigen Eigentums‹ nennen würden. Ihm ging es nicht um die Besitzrechte an einer ertragbringenden geistigen Leistung, sondern darum, dass diese Leistung aus Gewinnsucht verdorben wurde: »Und ist mir offt widerfaren, dass ich der Nachdruecker druck gelesen, also...

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