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Alt sein ist anders (Konzepte der Humanwissenschaften)

Personzentrierte Betreuung von alten Menschen

AutorMarlis Pörtner
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl146 Seiten
ISBN9783608104349
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Altern ist eine facettenreiche, widersprüchliche und individuell sehr unterschiedliche Erfahrung. Der letzte Lebensabschnitt und die damit verbundenen Veränderungen werden von jedem Menschen anders erlebt. Dieses individuelle Erleben ist der Schlüssel zum Verstehen und Angelpunkt einer guten, sinnvollen Betreuung und Begleitung. Alte Menschen wollen in ihrer ganz persönlichen Eigenart ernst genommen und verstanden werden, auch wenn sie zeitweise oder dauernd verwirrt oder pflegebedürftig sind. Dabei sollen eigene Vorstellungen darüber, wie alte Menschen sind oder zu sein haben, zurückgestellt werden. Die personzentrierte Arbeitsweise bietet konkrete Handlungsgrundlagen, um diesem Anspruch im Alltag gerecht zu werden. Marlis Pörtner zeigt anhand von Beispielen aus dem Alltag, wie die sich daraus ergebenden Überlegungen in die praktische Arbeit umgesetzt werden können und worauf es ankommt. Die beschriebene Sicht- und Arbeitsweise hilft, die Lebensqualität von alten, verwirrten oder pflegebedürftigen Menschen zu verbessern und die Arbeit der betreuenden Personen interessanter und befriedigender zu gestalten.

Marlis Pörtner, geboren 1933 in Zürich, war Schauspielerin, jobbte als Sekretärin, arbeitete als Rundfunksprecherin, Übersetzerin von Belletristik, Theaterstücken und Jugendbüchern, studierte später Psychologie, war viele Jahre als Psychotherapeutin und in der Fortbildung und Beratung sozialer Institutionen tätig. Sie war verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Am 31. Oktober 2020 ist sie verstorben.

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Leseprobe

1 Alt werden ist eine seltsame Erfahrung –
Persönliche Gedanken zum Thema


Warum seltsam? Ist alt werden nicht eine selbstverständliche und allen Menschen – sofern sie nicht jung sterben – gemeinsame Erfahrung? Altern beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Während des ganzen Lebens verläuft dieser Prozeß, den wir zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich erleben. Als Kind kann das Älterwerden nicht schnell genug gehen, wir möchten endlich 10 oder 12 oder 16 oder 20 werden und können kaum erwarten, bis es soweit ist. In späteren Jahren ist es genau umgekehrt, die Zeit vergeht beängstigend schnell, rinnt uns gleichsam durch die Finger, und wir wünschten manchmal, wir könnten sie anhalten oder wenigstens ein bißchen verlangsamen.

Wann ist man »alt«? Mit 60, 70 oder 80? Das kommt ganz auf den Blickwinkel an. Als ich zwanzig war, gehörte zu der kleinen Truppe, mit der ich damals Theater spielte und einen großen Teil der Freizeit verbrachte, auch eine für unsere Begriffe schon sehr alte Kollegin, mit der wir uns »trotzdem« glänzend verstanden – sie war gerade mal 40! Heute sind 40-jährige für mich junge Leute. Doch selbst wenn »alt« ein relativer Begriff ist, läßt es sich weder wegdiskutieren noch aufhalten: Eines Tages sind wir wirklich alt. Das wissen wir, und wir wissen auch, daß wir uns rechtzeitig damit auseinandersetzen und darauf einstellen sollten. Und wir glauben – jedenfalls solange es noch in weiter Ferne liegt – gut vorbereitet zu sein und es bestimmt besser zu machen als so manche alte Menschen um uns herum, die (in unseren Augen) mit ihrem Alter schlecht zurechtkommen. Nun, wir wissen zwar, daß wir eines Tages alt sein werden, aber wir haben keine Ahnung, wie das für uns sein wird. Wir haben vielleicht gewisse Vorstellungen davon, aber wenn es dann soweit ist, ist alles ganz anders.

In jüngeren Jahren war ich davon überzeugt, genau zu wissen, was zu tun sei und wie ich mich später einmal verhalten sollte. Ich würde den richtigen Zeitpunkt für den Rückzug bestimmt nicht verpassen, sondern mich frühzeitig (so mit sechzig, dachte ich damals!) im Altersheim anmelden. Keinesfalls wollte ich die gleichen Fehler machen wie meine Mutter, die mit über achtzig immer noch nicht einsehen wollte, daß sie jetzt alt war und etwas an ihrer Lebensweise ändern mußte, obschon es ganz offensichtlich nicht mehr so weitergehen konnte wie bisher. Doch merkwürdig – je älter ich wurde, desto ferner rückte dieser Gedanke. Inzwischen habe ich die 70 hinter mir und denke nicht daran, ins Altersheim zu ziehen, sondern bin fest entschlossen, diesen Schritt, wenn es irgendwie geht, zu vermeiden. Ich habe keineswegs das Gefühl, das Leben sei jetzt mehr oder weniger vorbei und die Zeit für den Rückzug gekommen. Die letzten Jahre haben mir im Gegenteil ganz neue Perspektiven eröffnet. Trotz verschiedener Beschwerden und Beeinträchtigungen, die das Alter so mit sich bringt, erlebe ich diesen Lebensabschnitt nicht primär als Abbau, sondern als eine Zeit der Veränderung, in der sich Werte wandeln, Gewichtungen verschieben, andere Schwerpunkte in den Vordergrund rücken und neue Horizonte sichtbar werden.

Gewiß, diese Zeit ist auch von Verlusten geprägt und mit Trauer verbunden: Nahe stehende Menschen sterben, vieles, was wichtig war, geht verloren oder verliert an Bedeutung. Das Schlagwort vom »Loslassen-Müssen« ist sehr real geworden. Und mit jedem Loslassen geht etwas zu Ende, das zuvor Bedeutung hatte, fällt etwas weg, was bisher zum Leben gehörte. Gewohntes und Vertrautes verändert sich oder ist nicht mehr möglich. Zugleich aber wird Raum frei, in dem Neues, Unbekanntes oder bisher nicht Geahntes entstehen kann. Loslassen bedeutet nicht nur Verlust, sondern auch Befreiung. Manchmal ist das eine stärker spürbar und manchmal das andere. Es gibt im Alter beides: hellere und dunklere Tage – genau wie in allen anderen Lebensabschnitten auch.

Was heißt eigentlich »alt«? Wir seien »älter«, nicht alt, korrigierte mich bis vor kurzem eine gleichaltrige Bekannte, wenn ich uns als »alte Damen« bezeichnete. Mit dieser Auffassung steht sie nicht allein. Ein Beamter, vermutlich in der Meinung höflich zu sein, gebrauchte kürzlich die Floskel »im höheren Mittelalter stehend«. Die Neigung, das Wort »alt« tunlichst zu vermeiden, als sei es ein Schimpfwort, ist sehr verbreitet. Statt dessen ist von »betagt« die Rede und von »Senioren«, was offenbar als weniger ehrenrührig angesehen wird. Manchmal wird das ominöse Wort »alt« derart blumig umschrieben, daß kaum mehr erkennbar ist, was eigentlich gemeint ist. Eine Verkäuferin in der Drogerie, die mir eine Gesichtscreme »für anspruchsvolle Haut« verkaufen wollte, geriet völlig aus der Fassung als ich sie fragte: »Heißt das für alte Damen?« Wenn der Arzt findet, für mein Alter sei ich noch gut beieinander, stört mich das nicht, sondern ich freue mich darüber. Andere in meinem Alter empfinden eine solche Aussage als Beleidigung.

Ich hingegen finde es diskriminierend, wenn das Wort »alt« vermieden oder darum herumgeredet wird, als sei es eine Schande, alt zu sein. Warum ist dieses Wort so verpönt? »Alt« bedeutet doch nichts anderes, als daß jemand eine Reihe von Jahren hinter sich hat und sich in einem späten Lebensabschnitt befindet. Darüber wie dieser Mensch ist, sagt das Wort nichts aus, weder über seine Fähigkeiten oder Unfähigkeiten noch über seinen geistigen oder körperlichen Zustand – es sei denn, es kommen uns bestimmte Vorstellungen in die Quere, die wir damit verbinden: alt gleich unbeholfen, inkompetent, wirr, unbedarft, hilfsbedürftig, zerstreut, leicht verblödet usw. Wenn hinter dem Wort »alt« solche und ähnliche Bilder stehen, bekommt es tatsächlich eine abwertende Bedeutung und wird verständlicherweise ängstlich vermieden. Viele alte Menschen haben selber diese negativen Bilder verinnerlicht und wollen deshalb um keinen Preis »alt« sein.

Zwar werden solche herabsetzenden Vorstellungen von kaum jemandem offen und bewußt vertreten, doch unterschwellig geistern sie in vielen Köpfen herum und beeinflussen den Umgang mit alten Menschen. Das bekam ich in den letzten Jahren immer wieder deutlich zu spüren, und es machte mir so richtig bewußt: »jetzt bin ich alt« – noch bevor ich mich eigentlich selber so fühlte. Auf einmal begannen manche Leute anders mit mir zu reden als bisher. Nicht von Menschen, die mir nahe stehen oder mit denen ich beruflich zu tun habe, doch bei kurzen, oberflächlichen Kontakten, auf der Straße, am Bankschalter oder im Supermarkt schlägt mir immer häufiger ein neuer, ungewohnter Ton entgegen: betulich, belehrend, wohlwollend von oben herab, so als wüßte ich nicht so recht, wie man – zum Beispiel – einen Brief frankiert, die Waage im Supermarkt bedient oder sich am Bankschalter zu benehmen hat.

Eine kleine Auswahl:

Ich will Geld abheben und habe die Bankkarte nicht bei mir. Ich sage das der jungen Frau hinter dem Schalter und zeige ihr meinen Ausweis. Mit tadelndem Blick fertigt sie mich ab, nicht ohne mich anschließend zu ermahnen: »Das nächste Mal bringen Sie aber das Kärtchen mit.« Oder: Vor mir werden an zwei Schaltern zwei Kunden bedient, hinter mir ist niemand. Ich stelle mich zwischen den Schaltern an, um dann zum ersten zu gehen, der frei wird. Tadelnd tönt es hinter dem Schalter hervor: »Stellen Sie sich bitte gerade in die Reihe.« Die zurechtweisende Dame ist erstaunt und pikiert, daß ich mir diesen Ton verbitte, und meine Frage, ob sie mit einem jungen Mann auch so reden würde, bringt sie vollends aus der Fassung. Oder: Beim Bezahlen an der Supermarktkasse fällt mir etwas zu Boden. Eine Frau, ich schätze sie Mitte 40, hebt es mir auf mit den Worten: »Da ist Ihnen etwas heruntergefallen, gute Frau.« Ich antworte: »Danke, gute Frau.« Worauf sie – immerhin – erschrickt und sich entschuldigt. Oder das bisher krasseste Erlebnis: In einer Gartenwirtschaft auf dem Land, wo ich mit der (noch etwas älteren) Frau Z. zu Mittag esse, erkundigt sich die Kellnerin: »Normalerweise servieren wir unseren Landwein gekühlt, dürfen wir das bei Ihnen auch? Ich meine wegen der Blase und so.«

Die zunehmende Häufigkeit solcher Erlebnisse hat mir klargemacht, daß ich inzwischen nach außen – jedenfalls bei flüchtigen Begegnungen – ein Bild abgebe, das nicht ganz mit meinem Selbstbild übereinstimmt: eine alte, etwas ungeschickte Frau, der nicht mehr allzuviel zuzutrauen ist. Jedes kleine Mißgeschick oder Versehen, das mir passiert – und sie passieren vermehrt, da mache ich mir nichts vor – bestätigt das Bild und scheint die Ermahnungen zu rechtfertigen. Nur: wenn mein Sohn seine Bankkarte vergißt, kommt niemand auf die Idee, ihn in dieser Art zurechtzuweisen, und wenn meiner Tochter etwas zu Boden fällt, wird sie nicht als »gute Frau« tituliert. Warum wohl?

Daß ich diesen Ton nicht einfach hinnehme, paßt offensichtlich überhaupt nicht ins Bild. Wenn ich die Leute – denen ihre Vorurteile meist gar nicht bewußt sind – darauf anspreche und mich dagegen verwahre, bringt es sie völlig aus dem Konzept und löst die unterschiedlichsten Reaktionen aus: ungehalten, betreten, wütend, abwehrend, aggressiv, beleidigt und manchmal auch beschämt.

Leider – ich sage es ungern, aber es ist so – sind es fast immer junge Frauen, die so mit mir reden, bei jungen Männern kommt es nur selten vor. Auf der anderen Seite ist mir kaum jemals ein Mann behilflich, den Koffer die Treppe hinauf- oder hinunterzutragen, wenn auf einem Bahnhof wieder einmal der Aufzug außer Betrieb ist oder das Rollband nicht funktioniert. Wenn überhaupt jemand Hilfe anbietet, dann ist es...

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