«IHR NAHT EUCH WIEDER, SCHWANKENDE GESTALTE
MIT BABY JANE FING ALLES AN
«SYMPATHISCH UND ABSTOSSEND ZUGLEICH»
BETTE DAVIS UND JOAN CRAWFORD
IN:WAS GESCHAH WIRKLICH MIT BABY JANE? (1962)
Der amerikanische Camp-Kenner Paul Roen erinnerte sich daran, 1962 im Alter von vierzehn Jahren zusammen mit seinem besten Freund Was geschah wirklich mit Baby Jane? gesehen zu haben und «utterly obsessed» gewesen zu sein:
«Als Was geschah wirklich mit Baby Jane? endlich auch in unserer Stadt lief, sind mein Freund und ich gleich zweimal in der Aufführung gewesen. Mein Freund ist schon verstorben, natürlich an Aids. Damals im Jahr 1962 haben wir beide gedacht, Baby Jane wäre der beste Film aller Zeiten. Das würde ich heute nicht mehr sagen, er wohl auch nicht, nehme ich an. Aber ich bin sicher, er würde mir zustimmen, dass jeder Schwule diesen Film gesehen haben muss.»
Der beste Film aller Zeiten ist Was geschah wirklich mit Baby Jane? sicher nicht, aber bestimmt ein großartiger Film. Dass er trotzdem in diesem Buch gewürdigt wird, hat zwei Gründe: Zum einen lernte Hollywood an diesem Film, dass alte Frauen an der Kinokasse viel Geld einspielen können, und zum anderen gab Baby Jane den Auftakt für eine ganze Reihe von Nachahmungen, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. Das ganze Ausmaß dieser Missgriffe lässt sich besser ermessen, wenn man zuvor einen Blick auf das «Original» wirft und sich dabei vergegenwärtigt, wie man es «richtig» macht.
Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg von Was geschah wirklich mit Baby Jane? liegt im Verweben der Star-Persona der Darstellerinnen mit der Filmhandlung. Dieser Kunstgriff war zuvor bereits von Billy Wilder in seinem Film Boulevard der Dämmerung (1950) angewandt worden. Der Film erzählt das Schicksal eines vergessenen Filmstars namens Norma Desmond. Sie wird von dem echten Stummfilmstar Gloria Swanson gespielt, die zur Zeit der Dreharbeiten ebenfalls vergessen war. Billy Wilder macht daraus ein wunderbares Spiel zwischen Rolle und Person, unterstützt durch eine ganze Reihe mitspielender echter Regisseure und Darsteller aus der Zeit, als Gloria Swanson ein Star war: Erich von Stroheim, Cecil B. DeMille und Buster Keaton. Diese von Wilder genutzte Möglichkeit ergab sich nach dem Zweiten Weltkrieg, denn eine erste Generation von Schauspielern war gleichzeitig mit dem Medium Film in die Jahre gekommen. Boulevard der Dämmerung war ein Erfolg, und nicht wenige Zitate daraus sind in den Camp-Kanon eingegangen: «Mr. DeMille, I’m ready for my close-up.» Gloria Swanson als Norma Desmond war so überzeugend, dass sie eine Oscar-Nominierung erhielt. Der Oscar für die Beste Hauptrolle ging 1951 jedoch an Judy Holliday in einem Film, der bezeichnenderweise Die ist nicht von gestern (Born Yesterday) hieß.
In Was geschah wirklich mit Baby Jane? führt Robert Aldrich ebenfalls Star-Image und Filmcharakter parallel: So schaut sich Joan Crawford als an den Rollstuhl gefesselter Kinostar Blanche Hudson im Fernsehen alte Joan-Crawford-Filme an; die Tochter der Nachbarin wird von Bette Davis’ Tochter (Barbara D. Hyman) gespielt.
Joan Crawford war einer der größten weiblichen Stars des amerikanischen Kinos und einer der Stars mit besonders großer schwuler Gefolgschaft. Keine ihrer Darstellungen war so ausgefeilt wie die ihrer ewigen Konkurrentin Bette Davis, dafür besaß sie jedoch den größeren Glamour-Faktor. Über ihr Aussehen sagte sie selbst: «Alle imitierten meine volleren Lippen, meine dunkleren Augenbrauen. Für mich kam solche Nachahmung jedoch nie in Frage. Wenn ich nicht ich selbst sein kann, will ich gar niemand sein. Ich wurde so geboren!» In den angloamerikanischen Ländern entstand die große schwule Gefolgschaft der Crawford zu einer Zeit, in der Homosexualität strafbar war, Schwule deshalb «in the closet» lebten und auf der Leinwand zwar schwule Schauspieler in heterosexuellen Rollen zu sehen waren, aber keine schwulen Geschichten erzählt wurden. Schwule machten sich deshalb auf die Suche nach Subtexten in heterosexuellen Romanzen. Crawfords Filme waren in dieser Hinsicht besonders beliebt. Zum Beispiel das unter der Regie von Robert Aldrich entstandene Melodram Herbststürme (1956), ein klassisches «women’s picture». Joan Crawford, die, in der frühherbstlichen Phase ihrer Karriere stehend, eine Schreibkraft namens Millicent Wetherby spielt, hat es zu einigem Wohlstand gebracht und mit ihrem Liebesleben abgeschlossen. Dann lernt sie den von Cliff Robertson gespielten Burt Hanson kennen, deutlich jünger, dessen jungenhaftem Charme sie nach anfänglichem Zögern verfällt. Sie heiratet ihn, doch Cliff kommt mit seinem Leben nicht zurecht. Joan findet heraus, dass ihr Liebster schon verheiratet war, mit einer blonden Frau, die ihm jedoch keine Erfüllung brachte – und umgekehrt. Cliff versucht sich herauszulügen und wird von Wahn-und Wutausbrüchen heimgesucht: In einer dramatischen Szene bewirft er die arme Joan Crawford mit ihrer Schreibmaschine. Joan weist Cliff in die Psychiatrie ein. Er wird geheilt. Happy End.
Was sich unter der Oberfläche des Melodrams verbirgt, ist eine schwule Liebesgeschichte. Joan – in dieser Konstellation der ältere, einsame Liebhaber («Bin ich noch hübsch?») – führt den jüngeren Liebhaber («Ich hab mich mit jungen Mädchen getroffen und festgestellt, dass sie nicht zu mir passen.») in die Welt einer anderen Liebe ein («Du bist ganz anders als alle Frauen, die ich bisher kennengelernt habe.»). Sie muss sich dafür von ihren Mitmenschen beschimpfen lassen: «Wer sowas heiratet, muss verrückt sein!» Nach einer Terapie kann Cliff zu seiner Sexualität stehen. Diese Lesart mag einem aus heutiger Sicht völlig absurd erscheinen, doch Paul Roen beschreibt diese Art der Subtextualisierung in seinem Buch High Camp auf überzeugende Weise: «Crawford […] tests the limits of a hellish Fifties world of pain, anxiety, and frustration. As one character gloomily puts it, ‹Being in love is never easy. And the more in love you are, the less easy and more lonesome it gets.›»
Neben Joan Crawford ist auch Bette Davis mit vielen Filmen in High Camp vertreten. Einer ihrer größten Camp-Klassiker ist sicherlich Beyond the Forest (1949). Edward Albee hat diesen Film in seinem Teaterstück Wer hat Angst vor Virginia Woolf ? unsterblich gemacht. Als Martha und George, die beiden Protagonisten des Dramas, nachhause kommen, ruf Martha aus:
«Welch eine Bruchbude! Du, wo kommt das vor: Welch eine Bruchbude? Es ist aus irgendeinem blödsinnigen Bette-Davis-Film, aus irgendeinem Metro-Goldwyn-Mayer-Epos. Bette Davis kriegt am Schluss Bauchfellentzündung … Sie hat im ganzen Film dieses scheußliche schwarze Ungetüm von Perücke auf und sie will dauernd nach Chicago, aber sie wird krank und setzt sich an ihr Toilettentischchen, und sie greif zum Lippenstift, um sich die Lippen zu schminken, aber sie hat nicht mehr die Kraft dazu. Sie schmiert sich den Lippenstift übers ganze Gesicht.» (Dt. v. Pinkas Braun, der aus unerfindlichen Gründen «Warner Bros.» durch «MGM» ersetzt hat.)
Dieser «blödsinnige Bette-Davis-Film» ist Beyond the Forest. Bette Davis spielt mit einer schwarzen Langhaarperücke Rosa Molina, die frustrierte Frau eines Arztes (Joseph Cotton) in einem kleinen Ort nahe Chicago, «a midnight girl in a nine-o-clock town», wie Warner Brothers den Film bewarben. Sie bekommt ein Kind von Cotton, will aber lieber mit ihrem Liebhaber nach Chicago. Bei einem selbstverschuldeten Sturz verliert sie das Kind und wird krank. Mit letzter Kraft wankt sie die Treppe hinunter, legt Lippenstift auf (verschmiert ihn aber nicht über ihr Gesicht, da erinnert sich Albees Martha nicht ganz richtig, das machte erst drei Jahre später Tallulah Bankhead in Nachts, wenn Mutter mordet), schleppt sich zu den Bahngleisen und bricht vor dem abfahrenden Zug tot zusammen.
Alles an dem Film ist falsch: Bette Davis war schon etwas zu alt für die Rolle, deshalb sind alle Bewohner des Dorfes noch älter als sie, um Davis jünger erscheinen zu lassen. Die Perücke sieht aus wie aus einem Halloween-Shop und sie übertreibt jeden Blick, jede Geste, jedes Wort. Das ist zwar ausgesprochen unterhaltsam, aber doch nicht ganz das Drama griechischen Ausmaßes, das der Zuschauer erwartet, nachdem er die Schrifttafel gelesen hat, die zu Beginn des Films eingeblendet wird: «This is the story of evil. Evil is headstrong. Thus may we know and those deliver themselves over to it, end up like the scorpions in a mad fury stinging themselves to eternal death.» «What a dump» wurde zwar zum stehenden Ausspruch aller Travestiestars der Dekade, dennoch eignet sich der von Bette Davis dargestellte «Skorpion» als Identifikationsfigur für Schwule doch deutlich weniger als Joan Crawfords Millicent Wetherby in...