ALEXANDER DER GROSSE: DER BESESSENE
(356 – 323 vor unsrer Zeitrechnung)
Wenn dieses glückt, Hephaistion, dann ist das Ziel der Menschheit erreicht. Blut wird fließen, aber das Ziel ist erreicht.
Klaus Mann: «Alexander»
Frühling, im dreizehnten Jahr seiner Herrschaft.
Alexander liegt im Fieber, schon seit dreizehn Tagen. Diese Zahl, vor der die Orakel ihn gewarnt haben, bringt ihm wahrhaftig Unglück. Sein Körper kocht, die Eingeweide und das Geschlecht schmerzen. Am Tage quälen ihn Reuegedanken und nachts verschwimmt ihm die Unterscheidung zwischen Vision und Realität, die ihm von jeher schwer gefallen ist. Nur eines weiß er jetzt genau: Er, der König von Makedonien, der Führer des griechisch-korinthischen Bundes, der Herr von Thessalien und Thrakien, ägyptischer Pharao, Großkönig des Persischen Reiches, Fürst von Indien, lebendiger Gott, wird noch heute sterben.
Sterbebetten sind schonungslos, denkt Alexander. Auch für Götter wie ihn. Das, auf dem er fiebernd liegt, ist kostbar, gewiss: ein Gestell aus reinstem Gold, besetzt mit Smaragden, die Matratze gepolstert mit den Fellen dutzender Hermeline und die Decken gefüllt mit dem bunten Gefieder seltener Entenarten. Dieses Götterbett jedoch lässt ihn seine letzten Minuten nicht friedvoller erleben als die steinernen Stufen des Tempels von Aigai seinen Vater Philipp; der Dolch eines Attentäters hatte ihn dort ereilt – vor dreizehn Jahren. Alexander erinnert sich noch, wie er auf die Botschaft von diesem überraschenden Ereignis reagierte: Er verzog den Mund zu einem befriedigten Grinsen. Es war die erste kleine Rache für die überhebliche Ignoranz eines Vaters gegen seinen Sohn.
Am 6. Loios kam Alexander in Makedoniens Hauptstadt Pella auf die Welt, mitten im heißesten Sommer. Alexanders Vater war zu dieser Zeit nicht in seiner Hauptstadt, sondern zog es vor, den Pferderennen bei den Olympischen Spielen beizuwohnen. Später wird Alexanders Mutter dem Knaben erzählen, dass Philipp sich über den Sieg eines seiner Pferde mehr gefreut habe als über die Geburt des Prinzen. Dieser ersten, ständig wiederholten Geschichte folgten im Laufe der Jahre viele Sagen über die Welt der unsterblichen Götter und den ewigen Kampf der himmlischen Mächte. Olympias, die Mutter, war eine «echte» Erzählerin. Meistens plätscherte ihre Stimme sanft wie ein Gebirgsquell, aber zuweilen toste sie wie ein Mitternachtssturm; Olympias grub dann ihre Finger derart in die Handballen, dass sie bluteten.
Im Laufe der Zeit flocht sie in die Göttersagen auch höchst irdische Geschehnisse ein – dass Philipp, ihr Mann und König, sie nicht liebe, dass er zu anderen Frauen gehe, sie eines Tages verstoßen werde. Und so vermischte sich in Alexanders Vorstellung das Leben auf dem Olymp mit dem Leben der bedauernswerten Olympias; sie, er selbst und Philipp waren Teil der kämpferischen Götterwelt. Wie der Kriegsgott Ares seinen Vater Zeus hasste, so hasste Alexander bald Philipp.
Dabei sah er ihn kaum. Philipp war mit der Ausweitung seines Staates beschäftigt, eroberte angrenzende Länder, erstritt sich die Vorherrschaft über die Griechen, führte einen Feldzug nach dem anderen. Doch Alexander spürte die Allmacht des Vaters, seine Willensstärke und Intelligenz ebenso wie seinen Jähzorn und die Wollust auch aus der Ferne. Meilen spielten hier keine Rolle, denn Philipp war in ihm, in Alexander. Da er ihn nicht aus sich herausreißen konnte, blieb ihm nur, ihn zu überdecken. Er tat, was Philipp nie getan hätte, schrieb Gedichte, spielte Zither, sang Hirtenweisen und ging noch mit dreizehn Jahren Hand in Hand mit seiner Mutter durch die Gärten des Palastes von Pella. Dann, in diesem dreizehnten Jahr, bestimmte der aus den Kriegen heimkehrende König, dass man ihn, Alexander, von einem Weibe in einen Thronfolger umerziehen solle, und traf zu diesem Zweck zwei bedeutende Entscheidungen.
Zum einen benannte Philipp den Philosophen und Wissenschaftler Aristoteles für das Amt des Erziehers und Lehrers. Glücklicher Weise vertrug sich Alexander mit seinem universell begabten Lehrer, da dieser ihn neben den ernsten Fächern Politik und Philosophie auch so Erfrischendes lehrte wie Medizin, Botanik und Zoologie. Gewiss, er war nicht immer einer Meinung mit ihm. Aristoteles war tief in seinem Herzen ein Demokrat, ein Zauderer und Zögerer, dessen Prinzip das «Maßhalten» war, ein Wort, das Alexander schon damals anwiderte, weil es nach Unauffälligkeit und Gewöhnlichkeit klang. Aber schlimmer noch, Aristoteles versuchte, die Macht der Götter kleinzureden, ja er behauptete, dass das Universum nicht von den launischen Göttern beherrscht werde, sondern vernünftigen Gesetzen der Natur gehorche; gerade das empfand Alexander als persönliche Beleidigung. Die Ilias von Homer, dieses Buch der Helden und Götter, bezeichnete Aristoteles schlicht als Literatur; für Alexander war es ein heiliges, ein olympisches Werk, das keine mythischen Geschichten erzählte, sondern reale Geschichte lehrte.
Doch Alexander verzieh seinem Erzieher diese Unzulänglichkeiten. Die Person des Aristoteles war für ihn Beispiel und Beweis, dass selbst die klügsten Menschen weniger bewirken als der Funke des Göttlichen, der in ihm selbst, in Alexander war, und den er sich auch von Philipp und Aristoteles nicht austreten ließ.
Als zweite Maßnahme wurde Olympias fortgeschickt, verbannt, und Alexander erhielt statt ihrer zwei Gefährten in seinem Alter: Kleitos und Hephaistion.
Es strengt Alexander an zu lachen, und die umherstehenden Ärzte schütteln missbilligend den Kopf, aber beim Gedanken an diese Verfügung Philipps kann er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Kleitos und Hephaistion, die Söhne zweier der bewährtesten Offiziere aus Philipps Heer, sollten die Abhärtung und Mannwerdung des Prinzen – den manche hinter vorgehaltener Hand auch das Prinzesschen nannten – unterstützen. Philipp ahnte nicht, dass diese beiden Knaben die Erotik in seinem Sohn erweckten. Neugierig besahen sich die Jungen bei ihrem ersten Zusammentreffen. Zu jener Zeit zeichnete sich bereits Alexanders künftige, ein wenig widersprüchliche Statur ab: schlank war er, drahtig und standfest, obwohl er den Sport oft vernachlässigte; seine Augen dagegen glänzten melancholisch und blickten gerne in den Himmel, und seine wallenden blonden Haare gaben ihm sogar etwas Androgynes. Hephaistion, der Schöne, hatte einige Züge mit ihm gemeinsam. Ein einziger Blick in seine makellos hellen Gesichtszüge genügte Alexander, um zu erkennen, dass dieser Junge immer loyal zu ihm sein würde, ja, ihn einmal mit aller Kraft lieben würde. Und Alexander wusste, dass er schon deshalb nicht anders konnte als ihn widerzulieben.
Kleitos dagegen war robust, schon damals ein Athlet. Seine Muskulatur begann sich auszuprägen, und seine tiefliegenden, dunklen Augen leuchteten von innerem Widerstand. Oh, Kleitos mochte Alexander, aber er unterwarf sich nicht gerne, widersprach, korrigierte, und zeigte stets nur das Mindestmaß an Respekt für den Thronfolger und spöttische Verachtung für den fügsamen Hephaistion. Alexander hätte Kleitos fortschicken oder maßregeln lassen können, aber er freute sich darauf, Kleitos eines Tages zu zähmen, ihn zu besiegen und sich von ihm lieben zu lassen, und so nutzten diese beiden die letzten Jahre der Kindheit mit unschuldigem Kräftemessen, hinter dem sich bereits eine schwer kontrollierbare Leidenschaft verbarg.
Philipp sah nur, dass sein Sohn sich mit Kleitos im Schwertkampf übte und im Reiten maß, und dass Hephaistion der treueste Vertraute war, den ein künftiger König sich wünschen konnte; daher nickte er diesem in unsichtbarer, verworrener Hassliebe verbundenen Trio arglos und beifällig zu, wann immer er ihm begegnete.
Dieser Esel, denkt Alexander und hustet vor Belustigung und Aufregung. Konnte Philipp diese nur schlecht verborgenen Beziehungen der heranwachsenden Knaben nicht durchschauen? Was für ein begrenztes Begriffsvermögen dieser vollbärtige Hüne hatte! Bei Liebe dachte er nur an Vergnügen, bei Eroberung an ein paar Landstriche, Flusstäler und Bergketten, dachte an die kargen, nur von Zypressen und krüppeligen Olivenbäumen bewachsenen Böden Griechenlands, an ein paar hundert zusätzliche Hektar Land voller Geröll. Er war ein Provinzstratege, nicht eigentlich dumm und nicht schwach, aber ohne jede Fantasie, und sein blutiges Ende auf der Treppe eines unwichtigen Tempels in einer unwichtigen Stadt war seinem Leben, so fand Alexander, angemessen. Darum grinste Alexander an jenem Tag des Attentats; dieser Tod kam ihm so passend vor. Er fasste den Plan, die schlimmste denkbare Rache eines Prinzen an seinem königlichen Vater vorzunehmen: Ihn vergessen zu machen, ihn in den Schatten zu stellen, und sich selbst auf ewig in das Buch der Helden und Götter einzuschreiben. Er würde der Menschheit beweisen, wie gering im Vergleich zu ihm selbst ein mächtiger König war, und wie fehlbar die Philosophen, wenn sie behaupteten, Götter hätten keine Macht.
Alexanders erste Amtshandlungen als zwanzigjähriger König beschäftigten sich notgedrungen noch mit den gehassten Provinzgeschäften. Seinen Vetter Amyntas, seinen Halbbruder Karanos...