»Man erkannte in mir natürlich die Aufwieglerin …«
Die Ausrufung der Republik am 9. November 1918
In der Nacht vom 8. auf den 9. November 1918 hielt es die Berliner Gewerkschafterin Cläre Casper nicht mehr länger zu Hause. Seit ihre Wohnung von der Polizei durchsucht worden war, hatte sie sich von ihren Genossen ferngehalten, um diese nicht zu gefährden. Doch weil die Gerüchte über die unmittelbar bevorstehende Revolution, aber auch über Gewalt durch Polizei und Armee kein Ende nahmen, suchte sie schließlich ihren Genossen Fritz Schwertfeger auf, der ihr berichtete, was die Revolutionären Obleute gerade beschlossen hatten. Er trug ihr auf, sofort den Werkzeugmacher Arthur Schöttler in seiner Wohnung aufzusuchen und mit ihm vor der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik AG in Charlottenburg Flugblätter zu verteilen. Cläre eilte zu Schöttler und weckte ihn mit den Worten: »Steh auf Arthur, es ist Revolution!« – »Mensch, Cläre, bist du’s?« Arthur Schöttler sprang in die Hosen, und keine zehn Minuten später waren sie aus dem Haus. Als die Arbeiterinnen und Arbeiter der ersten Schicht in der kalten und regnerischen Novembernacht zur Waffenfabrik kamen, übergaben Cläre und Arthur ihnen die Flugblätter mit dem Aufruf zur Demonstration. Nachdem diese verteilt waren, wärmten sie sich auf und luden zusammen mit einigen Genossen die Revolver, um endlich den Krieg und die alte Ordnung zu beenden.
Um neun Uhr kamen die Arbeiterinnen und Arbeiter aus den Toren und formierten sich zum Marsch: Die Männer gingen bewaffnet voran, die Frauen unbewaffnet hinterher. Arthur, dem wohl bewusst war, dass es dort vorne gefährlich werden konnte, reichte Cläre wie zum Abschied die Hand und rief, so unbekümmert er es vermochte: »Mach’s gut, Cläre!« Dann lief er mit der Waffe in der Hand an die Spitze des Zuges. Die Menschenmenge setzte sich in Bewegung und zog die Kaiserin-Augusta-Allee hinunter bis zur Schlossbrücke. Auf dem Weg Richtung Innenstadt besetzten die Arbeiter alle öffentlichen Gebäude, die Polizeiwache, die Gaswerke, das Rathaus Charlottenburg und die Technische Hochschule. Dabei fiel kein einziger Schuss.
Der Demonstrationszug, in dem Cläre Casper marschierte, war längst auf Tausende von Menschen angewachsen, als er gegen Mittag am Reichstag ankam. Dort traf Cläre auf andere Genossinnen und Genossen, die sie unter lautem Jubel in die Arme schlossen.
Um zwölf Uhr erfuhr der Reichskanzler Max von Baden, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter in riesigen Marschkolonnen auf das Stadtzentrum zubewegten. Obwohl der Kaiser sich immer noch nicht zu einem Rücktritt hatte durchringen können, gab der Reichskanzler die folgende Verlautbarung heraus: »Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Thron zu entsagen.« Diesem historischen Moment war eine Absprache vorausgegangen: Der Reichskanzler hatte gemeinsam mit Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), und General Wilhelm Groener, dem Chef der Obersten Heeresleitung, bereits zwei Tage zuvor ausgehandelt, dass der Kaiser zurücktreten müsse, um die Kontrolle über die Revolution zu gewinnen, die unmittelbar bevorstand. Am 9. November geriet Max von Baden unter Zeitdruck, weil die Arbeiter schon ins Zentrum marschierten, Groener aus dem belgischen Spa, wo der Kaiser sich im Hauptquartier der Streitkräfte aufhielt, aber immer noch keinen Vollzug meldete. Wenn der Kaiser nicht zurücktrat, so befürchtete er, wäre die Revolution nicht mehr aufzuhalten. Ebert ahnte, dass es dafür längst zu spät war, und drängte zur Eile. Der Kaiser aber war noch nicht zum Rücktritt bereit, und so rang er mit einem Entschluss, der längst von der Wirklichkeit überholt war.
Kurz nachdem der Rücktritt des Kaisers, zu früh und gleichzeitig viel zu spät, verkündet war, erschien Friedrich Ebert mit einer Abordnung des SPD-Vorstandes in der Reichskanzlei und forderte die Regierungsübergabe, »damit Ruhe und Ordnung gewahrt« würden. Max von Baden widersetzte sich nicht, hoffte er doch darauf, dass Ebert in der Lage sein würde, die Revolution zu bändigen.
In der Stadt brodelten an diesem Tag die Gerüchte. Auch die Künstlerin Käthe Kollwitz hielt es nicht mehr zu Hause. Gegen eins fuhr sie von ihrer Wohnung am Prenzlauer Berg aus in die Stadt. Schon am Tag zuvor, so schreibt sie in ihrem Tagebuch, war sie ungeduldig Unter den Linden auf und ab gegangen, in der Hoffnung auf ein Flugblatt, das die Abdankung des Kaisers verkünden würde. Als sie nun den Tiergarten durchquerte, verbreitete der Vorwärts endlich die ersehnte Nachricht: »Der Kaiser hat abgedankt!« und »Es wird nicht geschossen!«. Sie reihte sich in einen der Demonstrationszüge ein, die Richtung Reichstag strebten. Dort raunte man sich bereits zu: »Ebert Reichskanzler! Weitersagen!«
Der SPD-Vorsitzende und zukünftige Reichskanzler Friedrich Ebert befand sich zu diesem Zeitpunkt im Speisesaal des Reichstags. Ein paar Tische weiter saß sein Parteifreund Philipp Scheidemann, die beiden mochten sich nicht besonders. Scheidemanns Erinnerungen zufolge löffelten sie gerade die dünne Wassersuppe – wegen der kriegsbedingten Versorgungsprobleme das einzige Angebot in der Kantine –, als Arbeiter und Soldaten in den Saal stürmten und die beiden führenden Männer der Sozialdemokratie aufforderten, sich an die Menge zu wenden, die aus allen Richtungen zum Reichstag strömte. Ebert winkte ab, aber Scheidemann, der ein guter Redner war und um sein Talent wusste, stand auf und ließ sich von den Revolutionären zum Fenster des Lesesaals geleiten. Der österreichische Korrespondent Ernst Friedegg erinnerte sich später, dass Scheidemann ihn unterwegs zum Mitkommen aufforderte. Am Fenster sahen sie, wie die Menge Hüte und Mützen in die Höhe reckte. Scheidemann erklomm die Balustrade, Tausende Berliner standen vor ihm und skandierten Forderungen. Dann wurde es still, und Scheidemann hielt eine Rede, die in den berühmten Worten gipfelte: »Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik!«
Da brach die begeisterte Menge in Beifall und Freudenschreie aus. Zufrieden mit sich selbst ging Scheidemann in den Speisesaal zurück, um sich wieder seiner Wassersuppe zu widmen. Die Arbeiter und Soldaten, die ihn begleitet hatten, riefen euphorisch in den Speisesaal hinein: »Scheidemann hat die Republik ausgerufen!« Als Friedrich Ebert das hörte, wurde er zornesrot im Gesicht, sprang auf und stellte Scheidemann zur Rede: »Ist das wahr?« Scheidemann erwiderte, die Republik sei »eine Selbstverständlichkeit«. Daraufhin schrie Ebert ihn an: »Du hast kein Recht, die Republik auszurufen! Was aus Deutschland wird, ob Republik oder was sonst, das entscheidet eine Konstituante!«
Dafür, dass der Sozialdemokrat Ebert an diesem Tag, an dem die Republik schon Tatsache geworden war, die Wahl der Regierungsform tatsächlich noch mal einer verfassungsgebenden Versammlung überlassen wollte, hatte Scheidemann nur Kopfschütteln übrig. Von diesem Streit, wie er in den Erinnerungen Scheidemanns wiedergegeben wird, bekam die Menge vor dem Reichstag selbstverständlich nichts mit. Die Menschen, gewöhnt an die Trauer über die Gefallenen, gezeichnet von Verletzungen und ausgezehrt vom Hunger und den Entbehrungen der Kriegsjahre, jubelten – vermutlich nicht zuletzt darüber, endlich wieder Euphorie zu spüren. Auch Käthe Kollwitz war überwältigt vor Glück: »So ist es nun wirklich«, schrieb sie später in ihrem Tagebuch. »Man erlebt es und faßt es gar nicht recht.« Vor dem Reichstag feierten Arbeiterinnen und Kriegsteilnehmer diesen großen Augenblick.
Am Nachmittag desselben Tages kletterte Karl Liebknecht, der große Konkurrent von Ebert und Scheidemann, der viele revolutionäre Arbeiter und Kriegsgegner hinter sich wusste, im Berliner Lustgarten vor dem Stadtschloss der Hohenzollern gegen vier Uhr auf einen Lastwagen, wandte sich über Lautsprecher an die Menschenmenge und proklamierte, ebenfalls unter großem Jubel, die freie sozialistische Republik Deutschland. Als er kurze Zeit später ins Schloss gelangte, stellte er sich auf den Balkon und verkündete: »Die Herrschaft des Kapitalismus, die Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen.« Als er rief: »Wer von euch die freie sozialistische Republik Deutschland und die Weltrevolution erfüllt sehen will, der hebe seine Hand zum Schwur!«, erhoben alle die Hände und riefen: »Hoch die Republik!«
Cläre Casper aber, eigentlich eine Anhängerin Liebknechts und der sozialistischen Revolution, bekam davon nichts mit. Sie blieb den Rest des Tages auf den Stufen des Reichstages sitzen und fuhr erst im Dunkeln erschöpft nach Hause.
Kriegsbegeisterung, Kriegsverzweiflung
Die Gewerkschafterin Cläre Casper war im November 1918 erst 26 Jahre alt – und doch galt sie bereits als einflussreiche Arbeiterführerin. Sie war die einzige Frau unter den Revolutionären Obleuten – von den Gewerkschaften unabhängige und von den Arbeiterinnen und Arbeitern direkt gewählte Vertrauensleute –, die in den Unruhen der letzten Kriegsjahre eine bedeutende Rolle spielten. Cläre hatte früh lernen müssen, sich durchzusetzen, das zeigen nicht zuletzt ihre Erinnerungen an die Streikbewegungen und die Revolution, die sie viel später – als sie in der DDR lebte – zu Papier brachte. Geboren wurde sie am 5. Februar 1894 in Berlin. Ihr Vater war...