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Am Anfang war Gewalt

Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik

AutorMark Jones
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl380 Seiten
ISBN9783843715478
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Der Historiker Mark Jones schildert die dramatische Gründungsphase der Weimarer Republik erstmals als eine Geschichte der Gewalt. Er zeigt, wie eine anfangs friedliche Revolution in einer Reihe von Tabubrüchen endet, einschließlich des Mordes an Frauen und Kindern durch Soldaten der sozialdemokratisch geführten Regierung. Diese Erfahrung wurde für das weitere Schicksal Deutschlands prägend - bis hin zur entfesselten Gewalt des NS-Regimes.   Anhand neu erschlossener Archivquellen, darunter zahlreiche Berichte von Zeitzeugen, führt Mark Jones den Leser an die Orte der staatlich legitimierten und ausgelösten Gewaltexzesse dieser Zeit und lässt die Stimmen der Täter, ihrer Opfer und deren Familien lebendig werden. »Mark Jones' exzellent geschriebenes Buch wirft einen neuen Blick auf die deutsche Revolution von 1918/19.« Sönke Neitzel »Am Anfang war Gewalt ist das Werk eines der meistversprechenden Historikers der jüngeren deutschen Vergangenheit. Es stützt sich auf akribische archivalische Forschung und fügt unserem Verständnis von der Geburt der deutschen Demokratie ein wichtiges Korrektiv hinzu. Zugleich ist das Buch eine Herausforderung für die Historiker, die sich traditionell meist auf die hohe Politik konzentrieren. Denn es eröffnet uns neue Fragestellungen zur Geschichte Deutschlands in der schicksalhaften ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.« Robert Gerwarth, University College Dublin   »Eine bemerkenswerte Darstellung der deutschen Revolution von 1918/19 (...) Mark Jones gelingt es, die militärische und politische Geschichte mit der Gesellschafts- und Kulturgeschichte zu verbinden. Ein Buch, das eine breite Leserschaft verdient.«   Peter C. Caldwell, Rice University (USA)       »Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass dieses Buch einmal als ein Wendepunkt in der Art und Weise eingestuft werden wird, wie die Historiker die revolutionären Umwälzungen und die politische Gewalt erklären, die am Ende des Ersten Weltkrieges den europäischen Kontinent erschütterten (...) Originell und gut geschrieben, ist Am Anfang war Gewalt eine innovative, faszinierende und überzeugende Analyse der Gewalt in der deutschen Revolution von 1918/19. Man kann Mark Jones zu diesem neuen und provokativen Beitrag nur gratulieren.«    Ángel Alcalde, Ludwig-Maximilians-Universität München   »Ein gründlich recherchiertes und intelligent argumentierendes Buch. Mark Jones verdient Anerkennung für diesen unser Verständnis der deutschen Revolution von 1918/19 bereichernden Beitrag (...) In gewisser Weise kommt seine Darstellung der heute als klassisch geltenden Sichtweise nahe, die Mehrheitssozialdemokraten hätten aus überzogenen Ängsten vor dem Bolschewismus heraus auf die revolutionäre Unruhe überreagiert (...) Doch statt diese Ängste von oben herab verurteilen, macht Jones sich die Mühe, ihre Entstehung und ihre Wechselwirkungen mit den Ereignissen auf der Straße zu analysieren.«     Moritz Föllmer, University of Amsterdam  

Mark Jones, geboren 1981, ist Assistant Professor am University College Dublin. Zuvor war er Research Fellow an der Freien Universität Berlin und hatte einen Lehrauftrag an der Ruhr-Universität Bochum inne. Sein Forschungsschwerpunkt ist der Zusammenhang zwischen Gewalt und politischer Kultur in Deutschland im 20. Jahrhundert. Sein erstes Buch 'Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik' ist bei Propyläen erschienen.

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Leseprobe

Einleitung


Am 11. März 1919 senkte sich eine unheimliche Stille auf den Innenhof des Gebäudes Französische Straße 32 in Berlin-Mitte herab. In einer Ecke des Hofes lag Hugo Levin auf dem kalten Boden und stellte sich tot. Rechts und links von ihm lagen 29 tote Männer, darunter die Leiche seines Bruders Erwin. Mit ihnen zusammen war Hugo Levin wenige Minuten zuvor vor ein Hinrichtungskommando gestellt worden. Die Brüder gehörten zu einer Gruppe von 150 oder mehr Marinesoldaten, die man unter dem Vorwand zu dem Haus in der Französischen Straße gelockt hatte, sie würden dort ihre Entlassungspapiere und ihren restlichen Sold erhalten. Es war eine Falle, aufgestellt von Offizieren der Truppen, die in der Endphase des »Märzaufstandes« in Berlin auf Seiten der Regierung kämpften. Die Männer wurden bei ihrer Ankunft nacheinander festgenommen, und um die Mittagszeit wurden 30 von ihnen, ohne auch nur den Anschein eines militärgerichtlichen Verfahrens, von Offizieren zur Erschießung ausgewählt. Die Auswahl erfolgte auf Grund ihrer äußeren Erscheinung und der Wertsachen, die sie bei sich trugen. Soldaten trieben die Ausgewählten unter Schlägen auf den Innenhof. Wie Levin später aussagte, ahnte er zunächst nicht, was ihm bevorstand, bis er zu seinem Schrecken sah, wie auf der gegenüberliegenden Seite des Hofareals in aller Eile ein Erschießungskommando zusammengestellt wurde. Er und sein Bruder beteuerten laut schreiend ihre Unschuld, als auch schon die ersten Schüsse fielen. Eine Kugel traf ihn in den Arm, worauf er ohnmächtig nach vorne fiel. Als er wieder zu sich kam, blieb er regungslos liegen und stellte sich tot. Die ersten Stimmen, die er vernahm, gehörten den Soldaten, die auf die Männer gefeuert und seinen Bruder erschossen hatten. Was sie sagten, ließ ihm vollends das Blut in den Adern gefrieren: »Der da lebt noch! Der da. Der zweite dort lebt noch!« Jedes Mal, wenn er diese Worte hörte, »krachte ein Schuss«. Doch auf ihn wurden die Täter nicht aufmerksam. Er wagte nicht, sich zu rühren, und harrte der Dinge – stundenlang, so kam es ihm zumindest vor. Dann hörte er die Stimmen einiger Männer, die darüber redeten, den toten Männern die Stiefel abzunehmen. Anschließend kehrte wieder Stille ein, bis schließlich ein anderer Mann den Innenhof betrat. Es war ein mit einer Pistole bewaffneter Leutnant. Levin, der das Sichtotstellen nicht mehr aushielt, erhob sich, schaute dem Leutnant in die Augen und bat kniend um Gnade. Der Offizier wandte sich ab und lief davon. Später berichtete Levin seine Erlebnisse in einem Prozess vor einem Militärgericht, das das Massaker untersuchte und die dafür verantwortlichen Offiziere freisprach. Hugo Levin war der einzige der 30 Männer, der den Kugelhagel überlebt hatte.1

Das Massaker in der Französischen Straße zeigt eindringlich, dass die Auswüchse mörderischer Gewalt, die die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert prägten, ihren Anfang nicht 1933, 1939 oder 1941 nahmen. Vielmehr schlug ihre Geburtsstunde schon in der Gründungsphase der Weimarer Republik; hier schwenkte Deutschland auf den Kurs ein, der später in die Horror-Exzesse des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs mündete, ohne dass damit behauptet werden soll, diese seien eine zwangsläufige Folge jener frühen Entwicklung gewesen. In den Winter- und Frühjahrsmonaten 1918/19 hielten Formen von Gewalt Einzug, die bis dahin auf dem Boden des Deutschen Reiches niemals vorgekommen waren, und das in einer nie dagewesenen Größenordnung. Dieses Buch will erklären, wie und warum es dazu kam. Es zeigt auf, dass die zunehmende Brutalisierung aus der Interaktion politischer, militärischer und kultureller Faktoren erwuchs, nicht zuletzt auch aus der populären Forderung, der neue Staat müsse hart durchgreifen, um seinen Machtwillen und die Legitimität seiner Macht zu untermauern. Dieses Buch stellt Fragen wie: In welchen Formen trat die tödliche Gewalt im Verlauf der deutschen Revolution von 1918/19 zutage, und wie reagierten die tonangebenden Politiker und Meinungsmacher auf sie? Wie kommunizierten die Täter ihre Taten, und wie rechtfertigten sie die Ermordung von Mitbürgern? Wie kam es, dass Ende Dezember 1918/Anfang Januar 1919 die Einstellung zur Gewalt umschlug und dass so kurz nach einer den Frieden verheißenden Revolution und nach einem Krieg, der so viele Menschen dazu gebracht hatte, der Gewalt abzuschwören (auch und gerade Veteranen des Grabenkrieges), dennoch so viele politische und publizistische Stimmen nach staatlicher Gewaltanwendung riefen? Und weshalb war kaum der politische Wille vorhanden, diejenigen, die Gräueltaten begangen hatten, vor Gericht zu stellen? Warum verabschiedeten sich die politischen Herren des neuen Staates, die führenden Männer der SPD, vom traditionellen Bekenntnis ihrer Partei zur Gewaltlosigkeit, ordneten stattdessen standrechtliche Erschießungen ohne vorherigen Prozess an und verteidigten Soldaten, die Gräueltaten begingen?

Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen wird der Verlauf der Revolution von 1918/19 unter dem speziellen Blickwinkel der Gewalt erkundet. Das Buch liefert die erste eingehende historische Analyse der Rolle blutiger Gewalt in der Novemberrevolution und exponiert das Thema anschließend, indem es eine Serie gewaltvoller Ereignisse unter die Lupe nimmt, die prägend für die deutsche Politik in der Zeit nach dem Waffenstillstand waren. Jeder der untersuchten Vorgänge markierte eine Eskalationsstufe auf dem Weg zu immer brutaleren Gewaltakten. Dazu gehörten das Niedermähen eines Pulks von Demonstranten mitten in Berlin am 6. Dezember 1918; der »Sturmangriff« auf das Berliner Stadtschloss und den Marstall am 24. Dezember; der »Aufstand« in Berlin in der ersten Januarhälfte 1919 und dessen Niederschlagung; die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im gleichen Monat; der »Märzaufstand« in Berlin und die Verhängung des Standrechts, das Regierungstruppen willkürliche Hinrichtungen erlaubte; die wahllose Ermordung von Männern, Frauen und Kindern als Konsequenz aus dieser Entscheidung und die Niederschlagung der Münchner Räterepublik Anfang Mai 1919.

Die Anzahl derer, die Opfer politisch motivierter Gewalt wurden, potenzierte sich während dieses Zeitraums. Den besten verfügbaren Schätzungen zufolge starben nach der Ausrufung des Generalstreiks in Berlin am 3. März innerhalb von 10 Tagen 1200 Personen; das war das Vier- bis Fünffache der geschätzt 200 bis 250 Personen, die in der deutschen Hauptstadt zwischen Anfang November 1918 und Mitte Januar 1919 ums Leben kamen. In München war die Steigerung noch krasser: Im November 1918 hatten revolutionäre Massen die Abdankung des bayerischen Königs erzwungen, ohne dass es dabei zu einem einzigen aktenkundigen Todesfall gekommen war. Sechs Monate später, zwischen dem 29. April und dem 6. Mai 1919, starben in der Stadt und ihren Vororten mehr als 1000 Menschen eines gewaltsamen Todes. Hier wie dort fiel die Zunahme der Verlustzahlen extrem einseitig aus: Die Regierungstruppen hatten Zugriff auf die Kampftaktiken und das Waffenarsenal der Westfront. Sie setzten Flugzeuge ein, Artillerie, Panzerwagen, Flammenwerfer, Mörser, Handgranaten und Maschinengewehre – gegen Revolutionäre, die ihnen in aller Regel zahlenmäßig unterlegen waren und nur über Gewehre und Maschinengewehre verfügten. Viele der Getöteten, wenn nicht die meisten, waren unbeteiligte Zivilisten.2

Innerhalb dieser »Gewaltgeschichte« kommt Gräueltaten und Gräuelgeschichten eine besondere Rolle zu. Meine These lautet, dass diese Gräueltaten einen Ansatz für ein tieferes Verständnis der politischen Kultur Deutschlands in der Gründungsphase der Weimarer Republik liefern. Am Anfang war Gewalt baut darauf, dass wir, wenn wir die Dynamik hinter den Gräueln erkennen, für die es zeitgenössische Darstellungen gibt (wie z. B. das Protokoll der Aussagen Hugo Levins), die Voraussetzungen und Gegebenheiten besser verstehen, die zum Tod Tausender Deutscher führten, von denen viele unter nebulösen, nie aktenkundig gewordenen Umständen zu Tode kamen. Zu den Gräueltaten, die sogar in einigen der bekanntesten Werke zur Geschichte der Weimarer Republik kaum Erwähnung finden, während sie für dieses Buch eine zentrale Rolle spielen, gehören die Ermordung von sieben Unterhändlern nach der Kapitulation der Besetzer des Vorwärts-Gebäudes am 11. Januar 1919, die Abschlachtung zweier »galizischer« Häftlinge im Zellengefängnis Moabit am 10. März 1919 und die brutale Ermordung von 21 für Spartakisten gehaltenen Mitgliedern eines katholischen Vereins am 6. Mai 1919 in München.

Selbst wenn jede dieser Gräueltaten eine andere Vorgeschichte und Dynamik hatte, wiesen sie doch eine Gemeinsamkeit auf: Sie konnten nur geschehen, weil die politischen Führer der Republik bestimmte politische Entscheidungen getroffen hatten mit dem Ziel, ihre Macht und ihren Herrschaftswillen um jeden Preis zu demonstrieren.3 Nachdem die entsprechenden Beschlüsse einmal gefasst waren, unternahm die von Friedrich Ebert und nach ihm von Philipp Scheidemann geführte Regierung nur wenig, um die ihnen unterstellten Soldaten im Zaum...

Blick ins Buch

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