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Ameisengesellschaften

Eine Faszinationsgeschichte

AutorNiels Werber
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783104013787
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Seit der Antike dienen Ameisen und ihre Formen des Zusammenlebens als Modell und Vergleich für den Menschen und seine soziale Organisation. Dabei ist das Bild der Ameisengesellschaft, in denen wir unsere Ordnungen spiegeln, äußerst flexibel und kann als Vorlage sowohl für republikanische wie monarchistische, libertäre oder totalitäre Vorstellungen einer Gemeinschaft verwendet werden. In seiner wissenshistorischen Studie verfolgt Niels Werber die wechselhafte Faszinationsgeschichte dieses Vergleichs und untersucht die Evidenzen und blinden Flecken, die er produziert. Was an Ameisen beobachtet wird, so der Befund, gibt Antworten auf soziologische oder anthropologische Probleme - und stellt jenseits aller Disziplinen die Frage, was der Mensch ist und was die Gesellschaft, in der er lebt.

Niels Werber, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Siegen. Er studierte Germanistik und Philosophie und lehrte an zahlreichen in- und ausländischen Universitäten. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Soziale Insekten, Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft, Literatur und ihre Medien sowie Geopolitik der Literatur.

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Leseprobe

Laster der Bienen und Menschen. Von Mandeville bis von Hayek


Bienen arbeiten fleißig am gemeinsamen Werk, vom Morgen bis zum Abend, berichtet Vergil in der Georgica (IV, 174184). Alle arbeiten zusammen und ruhen gemeinsam nach verrichtetem Werk: »Omnibus una quies operum, labor omnibus unum.« (184) Aber nicht alle Bienen sind emsig. Die Drohnen lümmeln faul im Bienenstock herum und leben völlig skrupellos von der Arbeit anderer, »untätig an fremdem Mahl sich mästend« (244).[52] Verwehren nicht die Torwachen der Bienen ohnehin den trägen Drohnen den Zugang zum Stock (165ff), dann werden sie verjagt, wie Columella im neunten seiner Zwölf Bücher von der Landwirtschaft beobachtet (XV, 1), oder getötet, wie Plinius im elften Buch seiner Naturgeschichte (XI, 1) berichtet. Müßiggang ist nicht etwa aller Laster Anfang, sondern ein tödliches Risiko. Auch Bernard de Mandevilles berühmte Fable of the Bees von 1714 zitiert den Topos der fleißigen Bienen und faulen Drohnen. Er tut es jedoch nicht, wie bislang jeder gelehrte Kommentator der loci classici, um die Müßiggänger mit einem Hinweis auf die allfällige Drohnenschlacht zur Räson zu bringen. Vielmehr rechtfertigt er die Faulenzer mit der selbst zum Lehrspruch reüssierten Paradoxie: Private Vices, Publick Benefits.[53] Mandevilles Traktat, dessen Dialoge das spöttische Gedicht The Grumbling Hive (Der unzufriedene Bienenstock) aus dem Jahre 1705 kommentieren und fortschreiben, bestätigt mithin, siehe Bouvard und Pécuchet, keineswegs die Monarchie, sondern rechtfertigt einen ganzen Katalog von Lastern, ohne die eine große und mächtige, zivilisierte und prosperierende Gesellschaft nicht denkbar sei.[54] Drohnen im übertragenen Sinn zählen zu den Möglichkeitsbedingungen der Zivilisation, so wie es ohne Bienenmännchen auch keinen Bienenstaat geben kann. Legitimation durch Vergleich. Die Anthropologie und politische Theorie seiner Zeit stellt Mandeville mit der Behauptung in Frage, eine »gute Natur« des Menschen sei für eine gut eingerichtete Ordnung der Gesellschaft keineswegs nötig.[55] Ohne die reichen, bequemen, müßiggehenden Drohnen und ihren luxuriösen Aufwand gäbe es überhaupt keine Industrie, auf deren Erzeugnissen letztlich der Wohlstand aller beruhe. Daher reimt Mandeville: »Trotz all dem sündlichen Gewimmel / War’s doch im ganzen wie im Himmel.«[56] Um conspicuous consumption zu betreiben, den Thorstein Veblen in seiner Theorie der leisure class untersucht hat, brauche es keine Massen, feine Leute reichten vollkommen aus.[57] Nicht einmal ein Monarch werde unbedingt benötigt. Der zur Sentenz gewordene Untertitel der Abhandlung Mandevilles: Private Vices, Publick Benefits weist dem egoistischen Streben nach Vorteilen in der liberalen Ökonomie positive Effekte auf die Produktivität, den Erfindungsreichtum und den Wohlstand der gesamten Gesellschaft nach. Wie in einer Theodizee werden die Sünden des Einzelnen durch die allerdings durch und durch diesseitigen wohltätigen gesamtgesellschaftlichen Wirkungen gerechtfertigt. Anders als bei Adam Smith und dessen Theorem der unsichtbaren Hand geht Mandeville aber nicht von der Natürlichkeit oder Göttlichkeit dieser Einrichtung der Gesellschaft aus, sondern weist immer wieder darauf hin, dass sie von Menschen gemacht und daher nicht notwendig und unabänderlich, sondern kontingent sei. Mandevilles Bienenfabel richtet eine Passage zwischen Menschen und Insekten ein, die einmal nicht eine bestehende Ordnung durch Analogien mit einer natürlichen Ordnung legitimiert;[58] sie stellt vielmehr, umgekehrt, die vorgeblich alternativlose, notwendige Ordnung der Natur bzw. der Schöpfung in Frage.[59] »Das Leben dieser Bienen glich / Genau dem unsern, denn was sich / Bei Menschen findet, das war auch / En miniature bei ihnen Brauch«,[60] heißt es in Der unzufriedene Bienenstock oder Die ehrlich gewordenen Schurken. Doch folgert Mandeville daraus, dass dann doch wohl auch der Bienenstaat von unnützen Spielern und Schmarotzern, Betrügern und Verschwendern, Heuchlern und Müßiggängern nur so strotzen müsse.[61] Das Verhalten dieser »Knaves« (Schurken, Gauner)[62] hält Mandeville nun aber keineswegs für angeboren, sondern einen habit, eine »Gewohnheit«. Da dieser Habitus von Mandeville als eine Folge von Sozialisation und Erziehung betrachtet wird, erscheint er in einer Kontingenz, für die die Gesellschaft jedoch normalerweise blind ist, weil die Naturalisierung der Semantik die soziale Konstruktion der Verhaltensweisen verdeckt. Daher ist ihre Kraft so groß.[63] Es sei wiederum die Macht der Gewohnheit, die habitualisiertes Verhalten anthropologisiert und das Geläufige der Natur des Menschen zuschlägt.

Was Menschen und Bienen laut Mandeville tatsächlich gemeinsam haben und worauf sie ihre Gesellschaften errichten, ist das Verlangen nach Tauschwerten; honey reimt sich eben auf money. Wenn es ums Geld geht, wird der große Relativist schließlich doch noch substantiell. Jede Ordnung, diesseits aller historischen, kulturellen und sogar biologischen Rahmenbedingungen, baue auf dem Begehren ihrer Elemente auf,[64] den immer wieder angeführten »appetites«.[65] Mandeville folgert daraus, dass in einer »wohlgeordneten Stadt« auch Bordelle ihren guten Sinn haben,[66] aber man muss ihm hier nicht unbedingt folgen, denn auch diese Einrichtung ließe sich ja mit seinem eigenen Argument auf Kultur und Sozialisation zurückführen und so relativieren. Auch andere Einrichtungen würden ja diesem Begehren gerecht. Auch wenn man von Private Vices ausgeht, bleibt noch die Frage offen, wie die Gesellschaft so eingerichtet wird, dass Publick Benefits denkbar sind. Ob die Transsubstantiation der privaten Laster in allgemeinen Nutzen gelingt, hängt nämlich vom »management of a skilful politician«[67] ab, kann also auch missglücken, sonst wären spezifische skills ja überflüssig. Wenn es in einer Gesellschaft schlecht oder auch gut läuft, läge das folglich nicht an einer wie immer gearteten Natur des Menschen, die üblicherweise als politische Anthropologie den Staatsverfassungen zugrunde gelegt wird.[68] Vielmehr wäre es vom Gouvernement der Gesellschaft zu erwarten, die Elemente zu einem Ganzen zu verbinden. Hier freilich ließe sich auf die Wohlfahrt des Bienenstaates verweisen, um so ein Vorbild für ein für alle vorteilhaftes Management egoistischer Interessen zu finden, womit sich der Kreis schließt, insofern die politische Theorie wieder in der Natur eine »Bestätigung« für ihre Modelle findet.

Der in der Geschichte der sozialen Insekten als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft epistemologisch wie politisch entscheidende Schritt von der Führung zur Selbstorganisation wird von Mandeville noch nicht getan, aber immerhin vorbereitet. Es ist kein Zufall, dass ein abtrünniger Sozialist und desto überzeugterer Marktwirtschaftler und Gegner staatlicher Steuerungsversuche wie Friedrich von Hayek Bernard de Mandeville gewürdigt hat als einen Ökonomen, der es als einer der Ersten verstanden habe, die Fehlbarkeit und Irrationalität des Menschen zu erkennen und die Leistung sozialer Ordnung gerade darin zu sehen, diese Eigentümlichkeiten produktiv zu wenden.[69] Während der gute Freund und große Antipode seiner Londoner Zeit, John Maynard Keynes, sich das »totalitäre« Gegenbild zu seinem Wunschbild einer Gesellschaft unabhängiger Individuen als Ameisenstaat vor Augen stellt,[70] ist von Hayek davon überzeugt, in den »Gesellschaften von Insekten, wie Bienen, Ameisen und Termiten« ein »lehrreiches« Beispiel zu finden für jene »abstrakten und komplexen Ordnungen, die auf die Arbeitsteilung zurückgehen«. Lehrreich deswegen, weil gerade an den Insektengesellschaften zu beobachten sei, dass die Tätigkeiten oder Tätigkeitsänderungen der einzelnen Ameisen oder Bienen nicht »einem zentralen Befehl zuzuschreiben« seien, noch »einer ›Einsicht‹ von Seiten des einzelnen Mitgliedes in das zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Gesamtheit her gesehen Notwendige«. Weder ist ein reibungsloser Befehlsfluss von oben nach unten notwendig, der zu jeder Zeit genau vorschriebe, was zu tun und zu lassen sei, noch ein vollständiges Wissen des Individuums darüber, was, wie und warum es da eigentlich etwas so und nicht anders tut. Denn es sind die »Regeln des individuellen Verhaltens«, die zu einer »Gesamtordnung« führen, nicht aber umgekehrt die Gesamtordnung, aus der sich die Regeln für das Verhalten des Einzelnen ableiten lassen.[71] Mandevilles kritisch-skeptischer Blick auf die Kontingenz menschlicher Institutionen entgeht zwar von Hayeks Aufmerksamkeit; doch kann er sich, anders als Mandeville, Ordnungen vorstellen, die auch ohne »skilfull management« funktionieren, wenn man die Teile des Ganzen nur sich selbst überlässt. Die sozialen Insekten werden hier nämlich, im Gegensatz zu der Assoziation von Keynes, aber auch zur älteren Naturkunde, zu einem Exempel der Selbstorganisation, das gleich zwei Überzeugungen der liberalen Schule zu bestätigen vermag:

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