39II. Collingwood, Dray und von Wright über historische Erklärungen
1. Collingwoods Re-enactment-Theorie
Das Modell intentionaler Erklärung in der Geschichte geht ganz allgemein von der Voraussetzung aus, dass zumindest eine wichtige Aufgabe der Geschichtswissenschaft die Erklärung von menschlichen Handlungen in historischen Situationen ist und dass diese Erklärung auf die Gedanken, Absichten, Überzeugungen oder andere mentale Zustände des Handelnden Bezug nimmt. In dieser allgemeinen Charakterisierung von historischen Erklärungen als einem Teilgebiet von Handlungserklärungen lässt der intentionale Erklärungsansatz also zum einen noch offen, welche mentalen Zustände es sind, auf die sich die Erklärung bezieht, und zum anderen bleibt offen, welche Relation zwischen diesen Zuständen und dem Vollzug der Handlung besteht. Diese Fragen können in unterschiedlichen Modellen intentionaler Erklärungen unterschiedliche Antworten erhalten. Die drei klassischen Vertreter dieses Typs von historischen Erklärungen, nämlich Robin G. Collingwood, William Dray und Georg Henrik von Wright, haben denn auch unterschiedliche Thesen zu diesen Fragen formuliert. Ich möchte in diesem zweiten Kapitel die theoretischen Ansätze der drei Autoren nur kurz und skizzenhaft diskutieren, um vor diesem Hintergrund zu einer systematischeren Formulierung der Ansprüche zu kommen, die an eine intentionale historische Erklärung gestellt werden sollten. Die Argumente dafür, warum das intentionale Erklärungsmodell als ein primäres Modell für historische Erklärungen angesehen werden kann, sollen erst die metaphysischen und sozialphilosophischen Diskussionen im zweiten und dritten Teil der Arbeit liefern.
Die geschichtstheoretischen Thesen des Philosophen und Archäologen Robin G. Collingwood sind nicht nur in historischer, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht der geeignete Einstieg in die Diskussion des intentionalen Erklärungsmodells. Mit Wilhelm Dilthey ist sich Collingwood einig darüber, dass die Methode der Geschichtswissenschaft sich von den Methoden der Naturwissenschaften deutlich abzugrenzen hat und nicht in Analogie zu diesen 40gedacht werden dürfe. Im Unterschied zu Dilthey ist für Collingwood diese Auffassung aber nicht mit der Vorstellung verbunden, dass die Geschichtswissenschaft weniger explikativ (also nicht erklärend, sondern eher verstehend), weniger exakt oder weniger empirisch verfahre als die Naturwissenschaften. Im Gegenteil: Collingwood war der Meinung, dass die Entwicklung der Geschichtsschreibung zu einer wirklichen Wissenschaft eine ähnlich bedeutsame wissenschaftliche Revolution darstelle wie die Entwicklung der Physik in der Zeit Newtons und Lockes. Im Zentrum des neuartigen historischen Denkens, das nicht weniger mit einem Wahrheitsanspruch auftreten sollte wie die Naturwissenschaft, aber nach einer anderen, eben historischen Methode verfahren sollte, steht Collingwoods Re-enactment-Theorie: die These, dass der Historiker in der Lage sein sollte, die Gedanken der historischen Persönlichkeiten – in der wörtlichen Übersetzung – wieder-aufzuführen, um auf diese Weise deren Handeln erklären zu können.
Collingwoods Re-enactment-These wurde viel diskutiert und vor allem auch viel kritisiert und gilt gemeinhin als schwer verständlich und dunkel. Dies liegt nicht nur an der eher dürftigen und unsicheren Textgrundlage;[1] es liegt vor allem daran, dass diese These in ein schwer entwirrbares Geflecht von wissenschaftstheoretischen und metaphysischen Thesen eingebunden ist, die nicht immer ein kohärentes und klares Bild ergeben. Collingwoods Interpreten und Kritiker sind sich schon über die Frage uneins, ob es sich bei der von Collingwood vorgestellten historischen Methode der Wieder-Aufführung von Gedanken überhaupt um die Beschreibung der neuen, eigentümlich historischen Methode handelt oder nicht viel41mehr um die Bestimmung des erkenntnistheoretischen Ziels einer historischen Methode. Diese zuletzt genannte Sichtweise haben die drei kenntnisreichsten und gewichtigsten Interpreten von Collingwood, nämlich Alan Donagan, W. Jan van der Dussen und William Dray, mehr oder weniger übereinstimmend vertreten.[2] Gegen diese Einschätzung sprechen jedoch im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens hat Collingwood selbst den Ausdruck »re-enactment« explizit als Beschreibung einer historischen Methode bezeichnet; und zweitens wirft diese Interpretation natürlich die Frage auf, worin denn dann die von Collingwood so vehement eingeforderte neue historische Methode bestehen sollte, wenn die Wieder-Aufführung von Gedanken nur das Ziel derselben sein soll?
William Dray beantwortet diese letzte Frage ganz im Sinne seines eigenen »Rational-Action-Modells«, was für ihn natürlich naheliegt, denn sein Modell wurde schließlich von Collingwoods Ideen inspiriert. Dray betont zunächst richtigerweise, dass Collingwoods Re-enactment-These nicht im Sinne eines empathischen, den Gedanken der historischen Person passiv nachvollziehenden Denkens verstanden werden dürfe, sondern dass nach Collingwood dieses Wieder-Denken eines Gedankens ein kritisches Denken sein sollte.[3] Dieser Aspekt der Re-enactment-These zeige, so Dray, dass das Wieder-Denken eines Gedankens durch den Historiker die Form eines praktischen Arguments annehme, das heißt, es sei »[…] eine Argumentation darüber, was als Reaktion auf ein erkanntes Problem zu tun ist«.[4] Collingwoods Insistieren auf dem kritischen Aspekt des re-enactment verweise auf eine quasinormative Dimension im historischen Denken: »Eine Handlung in einer wirklich historischen Art und Weise zu verstehen, bedeutet bis zu einem gewissen Grad, sie als eine Handlung zu erkennen, die unter den Umständen, so wie der Handelnde diese gesehen hat, angemessen war.«[5] Ich glaube jedoch, dass es Collingwood mit der Betonung, dass das historische Denken ein kritisches Denken ist, nicht um die 42normative Bewertung von Gedanken oder Handlungen ging, sondern dass diese These vielmehr im Lichte seiner sehr polemischen Kritik an der von ihm so genannten »scissors and paste history« zu sehen ist, also der Kritik an einer Geschichtsschreibung, die einzelne Informationen mehr oder weniger willkürlich zusammenfügt. Darüber hinaus verfährt nach Collingwood das historische Denken nicht nur kritisch, sondern auch konstruktiv und imaginativ. Erst in diesem komplexeren Kontext, in dem sich wissenschaftstheoretische und metaphysische Voraussetzungen treffen, kann die Re-enactment-Theorie, und zwar durchaus als Beschreibung einer historischen Methode, verstanden werden.
Den Ausgangspunkt von Collingwoods Überlegungen bildet die These, dass die Ereignisse der Vergangenheit, die der Historiker untersuche, durch eine Eigentümlichkeit charakterisiert seien, die anhand der Unterscheidung zwischen einer Außen- und Innenseite deutlich werde. Die Tatsache, dass der Historiker – im Unterschied zum Naturwissenschaftler – Ereignisse erklären möchte, die eine Innenseite haben, identifiziert Collingwood explizit als das spezifische Problem, für das die historische Methode die Lösung sein soll, und beschreibt die Unterscheidung dann folgendermaßen: »Unter der Außenseite des Ereignisses verstehe ich all das an ihm, was mit Ausdrücken beschrieben werden kann, die Körper oder ihre Bewegungen bezeichnen. Unter der Innenseite des Ereignisses verstehe ich dasjenige an ihm, was nur mit Ausdrücken beschrieben werden kann, die Gedanken bezeichnen.«[6] Der Historiker ist nach Collingwood niemals ausschließlich entweder an der Außen- oder der Innenseite eines Ereignisses interessiert, sondern immer an ihrer Einheit, denn: »Er untersucht nicht bloße Ereignisse (wobei ich unter einem bloßen Ereignis ein solches verstehe, das nur eine Außenseite und keine Innenseite hat), sondern Handlungen und eine Handlung ist die Einheit von Außenseite und Innenseite eines Ereignisses.«[7] Während also der Naturwissenschaftler bloße Ereignisse untersucht, die ihm durch direkte Beobachtung gegeben sind und die er erklärt, indem er ihre Relationen zu anderen Ereignissen beobachtet und sie daraufhin unter ein allgemeines Naturgesetz subsumiert, besteht die Hauptaufgabe des Historikers darin, den Gedanken des Handelnden, dessen Handlung er erklären möchte, 43zu erkennen. Da diese Gedanken einer direkten Beobachtung nicht zugänglich sind, stellt Collingwood die naheliegende Frage: »Aber wie erkennt der Historiker die Gedanken, die er zu entdecken versucht? Es gibt nur eine Möglichkeit, wie dies bewerkstelligt werden kann: indem er sie in seinem eigenen Verstand wieder-denkt [by re-thinking them in his own mind].« Alle Geschichte sei die Geschichte von Gedanken und: »Die Geschichte von Gedanken und daher Geschichte überhaupt ist die Wieder-Aufführung von vergangenen Gedanken im Verstand des Historikers.«[8]
Obwohl die spezifische Aufgabe, vor die Collingwood den Historiker gestellt sieht, unter der Überschrift »Problem des Fremdpsychischen« in der Philosophie wohlbekannt ist, ist die methodische Lösung, die er vorschlägt, nicht nur überraschend, sie scheint auch einen offensichtlichen Zirkel zu implizieren. Denn wie kann die Historikerin die Gedanken einer anderen Person wieder-denken, wenn sie diese nicht bereits kennt? Wie soll es also möglich sein, dass dieses Wieder-Denken ihr als Methode allererst den Gedanken zur Kenntnis bringt? Auch der schon erwähnte Hinweis darauf, dass nach Collingwood die Methode des Re-enactment kein passives Nachvollziehen, sondern ein kritisches Denken sein soll, scheint das Ganze nur noch komplizierter zu machen – tatsächlich aber bietet dieser Hinweis dann einen ersten Schritt zur...