3 Wissenschaftliche und therapietheoretische Grundlagen
3.1 Grundsätzliches
Die Grundlagen des analytisch-psychologischen Denkens und Arbeitens wurzeln tief in der abendländischen (v. a. der griechischen Antike und der Romantik) und z. T. auch ostasiatischen (v. a. dem Daoismus) Geistesgeschichte. Die wissenschaftliche Tätigkeit innerhalb der Analytischen Psychologie befasst sich teilweise sehr akribisch mit diesen unterschiedlichen Geistesströmungen in Jungs Werk und entwickelt die Verbindungen etwa zwischen Philosophie und Tiefenpsychologie und die dort zur Anwendung kommenden Begriffe beständig fort (z. B. Ferrell 2016). Als solche zunächst philosophischen Begriffe, die auch eine grundlegende Sicht auf den Menschen transportieren, beanspruchen sie ihre Gültigkeit und sind v. a. durch kultur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Methoden in konkrete Anwendungsbereiche übertragen worden. Als Kernelemente der Analytischen Psychologie haben zu gelten (Vogel 2016a):
• das Konzept eines dynamischen und geschichteten Unbewussten
• die Psychologie des Selbst
• die psychischen Grundfunktionen
• das Prinzip der Finalität
• die Gegensatzstruktur der Psyche
• die Komplexpsychologie
• die Idee der Individuation
Sie bilden in gut (klinisch-)philosophischer Manier »den Begriffsrahmen (…), mit Hilfe dessen wir uns selbst verstehen und über uns nachdenken können« (Bordt 2015, S. 17). Alle diese Grundlagenkonzepte haben seit ihrer Herleitung und Beschreibung durch C. G. Jung allerdings auch Erweiterungen und Veränderungen erfahren, ohne aber den generellen Boden des durch sie umrissenen (therapeutischen) Menschenbildes zu verlassen. Jung benutzte in diesem Zusammenhang immer wieder den Terminus ›Weltanschauung‹ (Jung 1943, GW16 § 173ff). Wie jede Psychologie, so fußt auch die Analytische Psychologie auf einer solchen, die durch ihre maßgeblichen Kernbegriffe umrissen ist. Modern formuliert versteht man unter einer Weltanschauung »nicht nur das, was jemand über seine Welt denkt, sondern die Gesamtheit des komplexen Bezugs eines Menschen zu seiner Welt, in dem nicht-sprachliche Empfindungen, Grundstimmungen, Emotionen, Erlebnisse und Erfahrungen ebenso enthalten sind wie theoretische Annahmen über die Welt und das Leben« (Bordt 2015, S. 20). Im vorliegenden Band können diese Wurzeln nicht detailliert dargestellt werden. Vielmehr soll in den folgenden Kapiteln die Möglichkeit gegeben werden, sich einen Gesamteindruck über diese Grundlagen zu verschaffen.
Deutlich wird bei obiger Auflistung der Kernelemente aber auch, dass die Analytische Psychologie zwar unbestritten in das weite Feld der Tiefenpsychologie einzuordnen ist, dass aber ihre ausschließliche Zugehörigkeit zur Psychoanalyse, wie sie v. a. in der BRD vertreten wird ( Kap. 1), durchaus angezweifelt werden darf. Viele der Grundkonzepte der Analytischen Psychologie verweisen nämlich in ihren fundamentalen Menschenbildannahmen eher auf humanistische Philosophien und Psychologien. Besonders gilt dies bzgl. des von Jung als fundamental für seine Psychologie vorgestellten und aus der griechischen Philosophie entnommenen Prinzips der ›Entelechie‹, das alle sieben hier aufgezählten Kernkonzepte durchzieht: »Das Therapiekonzept Jungs baut auf die natürliche Entfaltungstendenz eines jeden Lebewesens, auf die Entelechie. Es setzt auf die Fähigkeit zu wachsen, sich zu entwickeln, auf die Fähigkeit zum Überwachsen der Probleme durch eine immer differenziertere Entfaltung der besonderen Gestalt, auf die eine jede und ein jeder von uns angelegt ist« (Riedel und Henzler 2016, S. 15). Die Entelechie ist, wie das am Ende dieses Kapitels dargestellte und mit ihr verwandte Konzept der Finalität ( Kap. 3.5) und das des Gegensatzprinzips der Psyche ( Kap. 3.6), die Klammer, die Jungs Grundvorstellungen umschließt. Es wird aber auch deutlich werden, dass die Kernkonzepte nicht im eigentlichen Sinne in sich geschlossene theoretische Konzepte sind. Vielmehr weisen sie zahlreiche Überschneidungen auf, gehen ineinander über und bedingen einander. Auf die Opazität der jungianischen Begriffswelt wurde im Einleitungskapitel bereits hingewiesen. Sie gilt auch und in erster Linie für die Kernbegrifflichkeiten, die sich sämtlich operationalisierenden Definitionsversuchen entziehen, da diese den Begriffen zwangsläufig immer wesentliche Teile aberkennen würden. Evers (1987) weist auf den eschatologischen Charakter Jung’scher Begriffsbildungen hin, die im eigentlichen Sinne nur in Grenzsituationen erfahrbar seien. So sind die zentralen Konzepte innerhalb der jungianischen Community auch beständig im Fluss, sie unterliegen einer andauernden, lebhaften Diskussion und über die ganze jungianische Fachwelt hinweg sind wahrscheinlich kaum einfache Konsensbildungen über ihre genaue inhaltliche Beschreibung möglich. Diese bisweilen schwierige Tatsache schützt andererseits die jungianischen Kernkonzepte weitgehend vor einer impliziten Normativität, wie sie Begriffen manch anderer Therapierichtungen eigen ist (Schmid 2016).
Zusammen bilden die jungianischen Grundbegriffe eine umfassende Lehre über das Sein des Menschen und seine Stellung in der Welt, die den Vergleich mit anderen großen Welt- und Menschenbildsdarstellungen in der Geistesgeschichte nicht zu scheuen braucht. Dabei hatte Jung, trotz seines bisweilen recht selbstbewussten Auftretens, immer auch die Relativität seiner Psychologie im Blick, als eine Sichtweise, neben der auch andere ihren Wert und ihre Berechtigung behalten, denn: »Die Annahme, es gäbe nur eine Psychologie oder nur ein psychologisches Grundprinzip, ist eine unerträgliche Tyrannei des pseudowissenschaftlichen Vorurteils von Normalmenschen« (Jung 1921, GW6 § 60).
3.2 Das Konzept des dynamischen und geschichteten Unbewussten
3.2.1 Die Struktur des Unbewussten
Die Analytische Psychologie stellt, wie die anderen tiefenpsychologischen Schulrichtungen auch, die Anerkennung mächtiger unbewusster Kräfte im Inneren einer jeden Person ins Zentrum ihres Verständnisses vom Menschen und bewegt sich damit im Kontext der Denkweise v. a. der europäischen Romantik. Alltagspsychologisch und auch psychotherapeutisch ist das Studium unbewusster Vorgänge deshalb so bedeutsam, da ein unzureichender Zugang zum Unbewussten immer die Gefahr von Projektionen mit sich bringt. Darunter versteht die Analytische Psychologie das Hinausverlagern eigener unbewusster und meist auch abgelehnter Selbstanteile nach Außen auf ein Objekt in der Welt, meist einem anderen Menschen, aber durchaus auch ganze Kollektive, Tiere, Institutionen etc. Die Rücknahme von Projektionen und die – nunmehr bewusste – Reintegration projizierter Persönlichkeitsanteile ist somit erklärtes Ziel jungianisch-tiefenpsychologischen Arbeitens. Dabei postuliert die Analytische Psychologie, ebenfalls angelehnt an Vorgängerkonzepte der Romantik, aber auch eng an klinische Erfahrungen sowie durchaus im Einklang mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen (vgl. Panksepp 2004), ein sog. Schichtenmodell der Psyche von einem ›persönlichen‹ Unbewussten hinab in kollektive und ›objektive‹ Bereiche ( Abb. 1).
Es handelt sich hier bei genauerer Betrachtung eigentlich um ein doppeltes Schichtenmodell menschlichen Daseins, das uns in die tiefsten Tiefen unserer Individualität und unserer Allgemeinheit führt. Die eine Schichtenfolge vollzieht sich vom Vergangenen zum Zukünftigen, denn im Unbewussten befinden sich Niederschläge früherer Erfahrungen, augenblicklich nicht bewusst Erfasstes, wie auch »alles Zukünftige, das sich in mir vorbereitet und später erst zum Bewusstsein kommen wird« (Jung 1946a, GW8 § 382). Die zweite Schichtenfolge betrifft die Abfolge »vom konkret-subjektiven zum allgemein-objektiven Gehalt des Unbewussten« (Vogel 2016a, S. 40). Während die
Abb. 1: Das Schichtenmodell des Unbewussten
Schicht des persönlichen Unbewussten sich weitgehend mit dem klassischen psychoanalytischen Konzept des Unbewussten deckt und hier auch der Hauptanteil der dem Menschen zu schaffen machenden Komplexe ( Kap. 3.7) anzusiedeln ist, gehen die weiteren Erkenntnisse Jungs über diese klassische Konzeption hinaus. Die Idee des familiären und des Gruppenunbewussten besagt, dass nicht nur Einzelmenschen, sondern auch ganze menschliche Zusammenschlüsse Abwehrleistungen vollbringen können und quasi in einem unbewussten Konsens dann von keinem Gruppenmitglied mehr eine Spur dieses gemeinsam Abgewehrten bewusst bleibt. Sog. »Familiengeheimnisse«, etwa ein stattgefundener Missbrauch oder eine...