Der Staat als Erzieher.
Zur Psychologie der Strafjustiz
(1930b)[5]
Es ist in letzter Zeit ein gesteigertes Interesse für das Problem der Psychologie des Verbrechers, des Richters, der Strafrechtsprechung und des Strafvollzugs festzustellen.[6] Das mag wesentlich drei Gründe haben. Einmal den der wachsenden Ausbreitung psychoanalytischer Einsichten und speziell des Erscheinens der das Problem der Psychologie des Verbrechers und Richters behandelnden Publikationen von F. Wittels (1928) und Alexander-Staub (1928). Zum anderen wird das gesteigerte Interesse wohl in der Tatsache liegen, dass sich eine Reihe von großen Kriminalprozessen aneinanderreihten (es sei nur an die Fälle Friedländer, Halsmann[7], Husmann erinnert), in denen die psychopathologischen Grundlagen des Verbrechens so offenkundig waren, dass sie zum Nachdenken über das theoretische Problem der Kriminalpsychologie reizen. Zu diesen mehr an der Oberfläche liegenden Gründen kommt als weiterer hinzu, dass die gesamte gesellschaftliche, politische und geistige Entwicklung es notwendigerweise mit sich bringt, dass altehrwürdige, autoritätsgetragene Institutionen, wie die Justiz, von den fortschrittlich gerichteten Teilen der Gesellschaft in ihrer Problematik durchschaut werden und dass man um eine theoretische Bewältigung der Probleme bemüht ist. Man hat vielfach geglaubt, dass den theoretischen Einsichten über die unbewussten Hintergründe des Verbrechens und den unbewussten Sinn der Strafe und Strafwirkung auch eine große praktische Bedeutung zukommen könne. Man hat geglaubt, dass, wenn es gelänge, dem Gericht nur deutlich genug zu machen, dass ein Verbrecher aus unbewussten, triebhaften Motiven handelt, es auch gelingen müsste nachzuweisen, dass eine Bestrafung auf diesen triebhaften Verbrecher eine bessernde Wirkung gar nicht haben könne, weil ja die Motive seines Handelns ihm selbst nicht bewusst und infolgedessen auch von seinem Willen nicht beherrschbar seien.
Man erwartete, dass ein einsichtiges Gericht aus diesen Erkenntnissen die entsprechenden Konsequenzen ziehen würde und als Maßnahme gegen den psychopathischen Verbrecher die allein zweckmäßige eines Heilungsversuches und nicht die unsinnige einer Bestrafung ergreifen würde. Es liegen mit solchen Versuchen, durch das psychoanalytische Verständnis des Verbrechers eine andere und zweckmäßigere Prozedur als die bisherige zu veranlassen, noch wenig Erfahrungen vor, so dass man aus der Praxis noch zu keinem Urteil über die Chancen dieser [I-008] Bemühungen kommen kann. Aber es gibt einige theoretische Erwägungen, die geeignet sind, innerhalb der heutigen Gesellschaft recht skeptische Gedanken über die Aussichten solcher Bemühungen aufkommen zu lassen. Da sie sich in mancher Weise mit pädagogischen Problemen berühren, dürften sie vielleicht das Interesse gerade der Leser dieser Zeitschrift beanspruchen.
Die moderne Strafjustiz fasst sich ja selbst als eine Art Pädagogik auf. Sie verzichtet offiziell auf den Gedanken der Rache und behauptet, dass ihre Absicht sei, den Verbrecher zu bessern und dass ihre Methode im Großen und Ganzen das zweckmäßige Mittel zur Besserung des Täters sei. Die Besserung wird auf eine doppelte Weise zu erreichen versucht: auf eine negative, indem man glaubt, den Täter durch die Strafe so einzuschüchtern und abzuschrecken, dass er in Zukunft ein ruhiger, gesitteter Bürger würde und auf eine positive, indem man sich bemüht, durch ein System von fein abgestuften Belohnungen für gutes Verhalten, durch Arbeitszwang, erbaulichen Zuspruch eines Geistlichen und manches andere mehr, den Verbrecher zu einem sozial brauchbaren Menschen zu erziehen. Die Erfahrung zeigt, dass diese Methoden, die ja nichts anderes sind als die üblichen Methoden der Erziehung (Strafandrohung, Versprechen von Belohnung und Zwang zur Arbeit) wenig Erfolg haben. Die theoretische Einsicht beweist, dass diese Methoden auch wenig Erfolg haben können. Insoweit Menschen gegen die Gesetze der Gesellschaft verstoßen, weil die Not von Hunger, Durst und anderen elementaren Bedürfnissen sie dazu drängt, kann nicht die Strafe das zweckmäßige Mittel sein, sie davon abzuhalten. In diesen Fällen gibt es nur eine Besserung, nämlich die, die wirtschaftliche Existenz des „Verbrechers“ so sicherzustellen, dass es eines Verbrechens zur Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse nicht bedarf. Insofern es sich aber nicht um „Notverbrecher“, sondern um „Triebverbrecher“ handelt, kann der heutige Strafvollzug im allgemeinen ebenso wenig als zweckmäßig angesehen werden. Die analytische Erfahrung hat ja zur Genüge gezeigt, wie wenig Handlungen, die in Wirklichkeit durch unbewusste Impulse bedingt sind, durch Beeinflussung des bewussten Teils der Persönlichkeit zu verhindern sind, und die Erfahrung zeigt, dass dies beim verbrecherischen Neurotiker ebenso wenig der Fall ist, wie beim nichtkriminellen.
Wenn die Dinge aber so liegen, dass die heutige Strafjustiz und selbst der moderne Strafvollzug unzweckmäßig sind und die von ihnen selbst gesetzten Ziele nicht erreichen können, so muss es wohl noch andere Gründe geben, die die Gesellschaft an diesen unzweckmäßigen Maßnahmen mit solcher Entschiedenheit festhalten lassen.
Eine Einsicht in diese Motive gewinnt man aber erst, wenn man berücksichtigt, dass die Strafjustiz gar nicht nur den Verbrecher zum Objekt hat, auch nicht nur den Unbescholtenen (bei dem aber zu befürchten steht, dass er ohne das abschreckende Beispiel kriminell würde), also den potenziellen Verbrecher, sondern, dass eine seiner wesentlichen Funktionen seine Bedeutung für die große Masse der Nichtverbrecher ist.
Was heißt das?
Die Festigkeit des Gefüges der gesellschaftlichen Struktur hängt keineswegs nur von der Stärke der äußeren Machtmittel ab, die für den Bestand der Gesellschaft sorgen sollen. Polizei und Militär sind zwar wichtige Stützen der Gesellschaft, aber sie [I-009] können – wie die Geschichte der Revolutionen zeigt – doch ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn noch ein anderer Faktor hinzukommt. Dieser andere Faktor ist die psychische Bereitschaft der großen Mehrheit, sich in die bestehende Gesellschaft einzufügen und sich den in ihr herrschenden Mächten unterzuordnen. Welche psychischen und speziell libidinösen Tendenzen und Impulse diese gesellschaftliche Gefügigkeit hervorrufen, und welches die Mittel sind, durch welche eben diese Tendenzen provoziert werden, soll hier in der ganzen Ausgedehntheit und Kompliziertheit, die dieses Problem hat, nicht erörtert werden. (Vgl. die instruktive Behandlung dieses Problems bei S. Bernfeld, 1928[8])
Es soll hier nur insoweit das Problem berührt werden, als es mit der Strafjustiz zusammenhängt.
Die heutige, wie alle bisherige Gesellschaft, ist aufgebaut auf schweren Triebverzichten von Seiten der großen Masse, auf Unterordnung der Masse unter die herrschende Schicht, und, von der psychologischen Seite her gesehen, auf dem Glauben an die Notwendigkeit der bestehenden Verhältnisse bzw. an die überlegene Einsicht und Weisheit der Herrschenden. Diese psychische Einstellung hat ihr Vorbild und ihre Quelle in der Einstellung des Kindes zum Vater. Die reale Situation, in der sich das Kind dem Vater gegenüber befindet, macht es nötig, seine physische Überlegenheit zu fürchten, seine geistige Überlegenheit zu bewundern und zu verehren, und häufig wird das Kind am besten mit seiner Situation fertig, wenn es ihm gelingt, seine Abneigung gegen den verbietenden und Triebverzicht fordernden Vater in bewundernde Verehrung zu verwandeln.
Diese seelische Einstellung des Kindes gegenüber dem Vater ist diejenige, die dem Staat bei der großen Masse seiner Bürger erwünscht und notwendig ist. Er muss sich aller Mittel bedienen, um sich der Masse als Vaterimago darzubieten und es auf diese Weise zu bewerkstelligen, dass der Einzelne die Einstellung, die er einst zum Vater hatte, auf die Herrschenden überträgt. Die Mittel und Methoden, mit denen sich die Vertreter des Staates im Unbewussten der Masse als Vaterimago darzubieten versuchen, sind sehr mannigfaltige (in der Monarchie gipfeln sie auf eine sehr primitive und einfache Weise in der Verehrung der Person des Kaisers). Eine dieser Methoden ist die Strafjustiz. Was ist denn für das Kind eine der wesentlichen Qualitäten des Vaters, die ihm solche Angst, aber auch solche Ehrfurcht einflößen? Es ist die Tatsache, dass der Vater strafen kann, dass es ihm infolge seiner körperlichen Überlegenheit wehrlos ausgeliefert ist; es ist, kurz gesagt, die Kastrationsdrohung des Vaters und seine unbezweifelbare Potenz, sie auch zu realisieren, wenn er nur wollte. Dabei ist es im Prinzip für das Kind ebenso wenig von entscheidender Wichtigkeit, dass die Strafandrohungen auch realisiert werden, wie das für die große Masse mit Bezug auf die staatliche Autorität der Fall ist. Entscheidend ist die Fähigkeit zu drohen und zu strafen. Sie erst macht für das Kind den Vater zum Vater in dem speziellen psychologischen Sinn, von dem hier die Rede ist, und den Staat bzw. die in ihm und durch ihn herrschende Klasse zum Abbild des Vaters.
Es ist also klar, warum es, ganz unabhängig von dem Problem der Einwirkung auf die Verbrecher, eine Strafjustiz geben muss. Sie ist eine Institution, durch die sich der Staat dem Unbewussten der Masse als Vaterimago aufzwingt, indem sie eine wichtige [I-010] Funktion des Vaters, seine Straf- und Drohpotenz wiederholt. Am deutlichsten ist das bei der Todesstrafe. Die Fähigkeit zu kastrieren, d.h. schwerwiegende körperliche Verletzungen hervorzurufen, ist der Kernpunkt der väterlichen Strafpotenz. Es ist kein Zufall, dass dem Kaiser oder Präsidenten das Recht zusteht, die zum Tode...