Die Sozialphilosophie der „Willenstherapie“ Otto Ranks
(The Social Philosophy of „Will Therapy“)
(1939a)[8]
Die moderne Psychotherapie[9] hat sich als Zweig der Medizin entwickelt. Es wird allgemein angenommen, die Medizin sei – genau wie die anderen Naturwissenschaften – eine objektive Wissenschaft, das heißt, dass der weltanschauliche, gesellschaftliche oder politische Standpunkt des betreffenden Wissenschaftlers seine Ergebnisse oder seine Methode nicht beeinflusst. Diese – wie so viele – Annahmen stimmen jedoch nicht. Die Ziele und Methoden der Medizin werden teilweise von den besonderen Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft beeinflusst. Dies möge ein einfaches Beispiel erläutern. Die Auffassung der Mediziner bezüglich der körperlichen oder seelischen Schäden, die durch eine Abtreibung hervorgerufen werden, unterscheiden sich wesentlich voneinander. In manchen Ländern herrscht die Meinung vor, dass eine Abtreibung höchst gefährlich sei, während man sie in anderen Ländern zu den einfacheren Operationen zählt. Keiner dieser beiden Standpunkte ist völlig falsch; sie repräsentieren nur beide eine unterschiedliche Einstellung zu dem Problem, und es ist nicht schwer, den Zusammenhang zu sehen, der zwischen verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Systemen und ihrer unterschiedlichen Einstellung zur Abtreibung besteht. Ein anderes Beispiel: Man könnte sich vorstellen, dass in einer Kultur Empfängnisverhütung als ein legitimes Mittel zur Geburtenkontrolle angesehen wird und weit bessere wissenschaftliche Methoden zur Empfängnisverhütung als in unserer Kultur entwickelt werden. Natürlich findet man derart unterschiedliche ärztliche Ansichten nur in Bezug auf außergewöhnliche Probleme. Die Behandlung eines Beinbruchs dürfte überall gleich sein ohne Rücksicht auf den gesellschaftlichen Hintergrund und die politischen Ansichten des Arztes.
Auf dem Gebiet der Psychotherapie dagegen ist es nicht mehr so, dass man der Weltanschauung nur geringe praktische Bedeutung beimessen kann. Auf diesem Gebiet hängen die Grundvorstellungen bezüglich des Zieles und der Methode von den religiösen, weltanschaulichen, politischen und gesellschaftlichen Auffassungen des Psychotherapeuten ab. Die Antworten auf Fragen wie, was ein Neurotiker ist, was das Ziel der psychotherapeutischen Behandlung ist und was überhaupt unter seelischer Gesundheit zu verstehen ist, hängen alle davon ab, was nach Überzeugung des Therapeuten für den Menschen „am besten“ ist. Sagt er einfach nur, der Patient solle [VIII-098] „gesund“ werden, so bedient er sich eines Wortes, das vielerlei bedeuten kann. Gesundheit als Ziel der Psychotherapie kann völlige Anpassung an die Regeln unserer Gesellschaft bedeuten, wie sie im Erfolg, in der Popularität und in der Fähigkeit zum Geldverdienen zum Ausdruck kommt. Oder sie kann bedeuten, dass der Neurotiker seine Spontaneität und seine innere Freiheit zurückgewinnen soll, die er verloren hat, aber um die er sich noch immer bemüht. Das bedeutet aber, dass der „Patient“ lernen sollte, zum Subjekt seiner eigenen Gefühle und Gedanken zu werden, dass er in die Lage versetzt werden sollte, das zu fühlen, was er wirklich fühlt, das zu denken, was er wirklich denkt, und das zu wollen, was er wirklich will, anstatt das zu fühlen, zu denken und zu wollen, wovon er annimmt, dass die anderen es von ihm erwarten. Es ist eine Sache der persönlichen Weltanschauung, ob man glaubt, dass das menschliche Glück im spontanen Ausdruck seiner selbst besteht und von innerer Freiheit und Aktivität untrennbar ist, oder ob man glaubt, Erfolg und Anpassung seien die Lebensziele, welche die Psychotherapie den Menschen wieder zugänglich machen solle, die in Gefahr stehen, sie nicht erreichen zu können. Ich möchte damit keineswegs sagen, dass eine mangelnde Anpassung an und für sich ein Ideal sei oder dass die Fähigkeit, sein wahres Selbst zu leben, die Möglichkeit ausschließe, ein sozial wohlgeordnetes Leben zu führen. In seltenen Fällen könnte es dabei zu einem unlösbaren Konflikt kommen, gewöhnlich aber wird ein Mensch, der er selbst und daher stärker wird, in der Lage sein, mindestens mit der Wirklichkeit fertig zu werden und ein würdiges, wenn auch vielleicht unkonventionelles Leben zu führen. Das folgende Beispiel zeigt einen nicht seltenen Fall, wo ein Konflikt zwischen Anpassung und Selbstverwirklichung besteht.
Wenn Ibsens Nora in ihrem Puppenheim einen Analytiker konsultiert hätte, so hätte dessen Meinung darüber, ob sie ihren Mann verlassen solle oder nicht, dessen Behandlungsweise beeinflusst. Hätte er die herkömmlichen Auffassungen über den Wert der Ehe geteilt, so hätte er die Gründe, weshalb sie ihren Mann verlassen will, als „neurotisch“ angesehen, und er hätte deshalb in erster Linie diese Gründe analysiert. Hätte er dagegen Ibsens Überzeugung geteilt, dass die Integrität und weitere Entwicklung ihrer Persönlichkeit davon abhänge, dass sie ihren tyrannischen und engherzigen Mann verlasse, dann hätte er seine Bemühungen darauf konzentriert, jene Ängste zu analysieren, die sie veranlassen könnten, sich mit einer unerträglichen Situation abzufinden.
Ein weiteres wichtiges Problem ist die Einstellung des Analytikers zu seinem Patienten. Er kann sich ihm gegenüber distanziert, autoritär und überlegen verhalten, oder er kann ihm warm und freundlich gegenübertreten. Diese Einstellung bestimmt seine Technik – die Art, wie der Analytiker den Patienten beeinflusst. Die Einstellung des Analytikers zu seinem Patienten ist eine Funktion seiner Persönlichkeit; sie hängt ab von der Art seines Denkens, von seiner Weltanschauung.
Gewöhnlich sind sich die Menschen nicht bewusst, dass sie eine bestimmte Philosophie haben. Psychoanalytiker nehmen gern an, ihr Verfahren sei „wissenschaftlich“, es handle sich dabei um eine Technik, die sich rein objektiv entwickelt habe und die sie dann unabhängig von persönlichen Meinungen und Werturteilen verfolgten. Man kann zum Beispiel feststellen, dass das, was man in der Freudschen Terminologie als [VIII-099] „böse“ zu bezeichnen pflegte, heute „neurotisch“, „irrational“ oder „infantil“ heißt, oder dass das, was früher einfach „schlecht“ war, jetzt oft als „regressiv“ oder ähnlich bezeichnet wird. Diese veränderte Terminologie wäre an sich nicht von besonderer Bedeutung, wenn sie nicht dem Patienten die analytische Arbeit stark erschwerte; wenn er „schlecht“ genannt wird, weiß er wenigstens, was los ist, und kann sich wehren, während er ziemlich hilflos ist, wenn man ihm mit wissenschaftlichen Begriffen kommt. Er hat dann das Gefühl, sie als etwas hinnehmen zu müssen, was ein Wissenschaftler sich ausgedacht hat, der soviel klüger ist als er.
Wenn auch der Hauptzweck dieser Abhandlung die Diskussion der Sozialphilosophie ist, die Ranks „Willenstherapie“ zugrunde liegt[10], so möchte ich doch zunächst Freuds Sozialphilosophie analysieren, um einerseits die allgemeine Tatsache zu veranschaulichen, dass ein psychologisches System in bestimmten weltanschaulichen Voraussetzungen wurzelt, und um andererseits Ranks Weltanschauung im Gegensatz zu der Freuds klarer herausstellen zu können.
Die wichtigste weltanschauliche Prämisse Freuds ist sein Glaube an die Macht der Vernunft. Seine Methode gründet sich auf die Auffassung, dass man Menschen dadurch heilen kann, dass man sie die Wahrheit über sich selbst erkennen lässt. Er versucht den Patienten über dessen Illusionen aufzuklären, um ihn fähig zu machen zu erkennen, welches in Wahrheit seine Probleme sind. Er tut dies in der Hoffnung, auf diese Weise eine Charakterstruktur ändern und überwinden zu können, die jene Illusionen erforderlich machte.
Der Glaube, dass die Wahrheit eine heilsame Wirkung hat, dass die Wahrheit die Dinge ändert und dass die Wahrheit den Menschen glücklich macht, ist eine alte Überzeugung. Das Prinzip des ursprünglichen Buddhismus lautet, dass Wissen zwar nicht glücklich macht, dass es aber das Leiden auslöscht, was das Höchste ist, was der Mensch nach buddhistischer Überzeugung erreichen kann. Sokrates und andere griechische Philosophen glaubten, wenn man die Wahrheit erkenne, werde man ein guter Mensch, und gut sein bedeute nicht nur tugendhaft, sondern auch glücklich zu sein.
In der Neuzeit waren es besonders die deutschen und französischen Philosophen der Aufklärung, die die Macht der Vernunft in den Mittelpunkt ihrer Lehre stellten. Sie waren der Überzeugung, dass man mit Hilfe der Wahrheit zu einer besseren Welt gelangen könne.
Eine zweite Prämisse dieser fortschrittlichen Philosophie lautet, dass der Mensch durch den Einfluss seiner Umwelt, seines Milieus so geworden sei, wie er ist, und dass äußere Umstände, für die er nicht verantwortlich ist, ihn formen und prägen. Diesen Gedanken haben Helvetius, Herder und viele andere populärere Verkünder einer fortschrittlichen Weltanschauung seit dem Achtzehnten Jahrhundert vertreten. Es gibt politische und gesellschaftliche Bewegungen, die die Meinung vertreten, man könne den Charakter der Menschen dadurch ändern, dass man ihre Lebensbedingungen ändert. [VIII-100]
Es ist leicht nachzuweisen, dass dies auch Freuds Voraussetzung war. Seine gesamte Methode gründet sich auf den Gedanken, dass man die Charakterstruktur eines Menschen erst versteht, wenn man von dessen Erfahrungen im Laufe seines Lebens, insbesondere in seiner frühen Kindheit Kenntnis hat. Freud hat als erster die Bedeutung auch der kleinsten Einzelheiten der persönlichen Erlebnisse seiner Patienten erkannt. Er hat klargemacht, dass nur diese winzigen Einzelheiten zählen, und nicht der...