Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie
(1932b)[33]
Der Ausgangspunkt der Psychoanalyse war ein therapeutischer: Seelische Störungen wurden erklärt aus der Stauung und der dadurch hervorgerufenen pathologischen Verwendung der Sexualenergie im Symptom, bzw. aus der Abwehr von im Bewusstsein nicht zugelassenen, mit libidinösen Impulsen verknüpften Vorstellungen. Die Reihe: Libido → Abwehr durch verdrängende Instanz → Symptom war der rote Faden der frühen analytischen Untersuchungen. Damit verbunden war die Tatsache, dass Gegenstand der analytischen Untersuchung fast ausschließlich Kranke und in der Mehrzahl solche mit körperlichen Symptomen waren. Im Verlauf der Entwicklung der Psychoanalyse trat neben diese Fragestellung die nach der Genese und Bedeutung bestimmter psychischer Eigenarten, die sich sowohl bei Kranken als auch bei Gesunden finden. Hier handelt es sich zwar, genau wie bei der ursprünglichen Fragestellung, um die Aufdeckung der triebhaften, libidinösen Wurzeln der psychischen Einstellung, aber die Reihe wird nicht in der Richtung: Verdrängung → Symptom, sondern in der Richtung: Sublimierung bzw. Reaktionsbildung → Charakterzug fortgesetzt. Diese Fragestellung musste sich gleich fruchtbar für das Verständnis des kranken wie des gesunden Charakters erweisen und damit in besonderem Maß für die Probleme der Sozialpsychologie wichtig werden.[34]
Die allgemeine Grundlage der psychoanalytischen Charakterologie ist, bestimmte Charakterzüge aufzufassen als Sublimierung bzw. Reaktionsbildung bestimmter sexueller (im erweiterten, von Freud so gebrauchten Sinn) Triebregungen bzw. als Fortsetzung bestimmter in der Kindheit diesen Triebregungen koordinierter Objektbeziehungen. Diese genetische Ableitung der psychischen Erscheinung aus libidinösen Quellen und frühkindlichen Erlebnissen ist das spezifisch analytische Prinzip, das die analytische Charakterologie mit der Neurosenlehre teilt; während aber das neurotische Symptom (wie auch der neurotische Charakter) das Ergebnis einer nicht geglückten Anpassung der Triebe an die gesellschaftliche Realität darstellt, handelt es sich bei dem nichtneurotischen Charakterzug um eine Verarbeitung libidinöser Regungen auf dem Wege der Reaktionsbildung oder Sublimierung in einer relativ stabilen und gesellschaftlich angepassten Weise. Der Unterschied zwischen dem normalen und dem neurotischen Charakter ist allerdings ein ganz fließender und in erster Linie vom Grad der gesellschaftlichen Unangepasstheit her zu bestimmen. [I-060]
Es kann an dieser Stelle das komplizierte Problem der Reaktionsbildung und Sublimierung nur angedeutet werden. Unter Reaktionsbildung ist zu verstehen die Aufrichtung einer dem ursprünglichen Triebziel entgegengesetzten, dieses abwehrenden und niederhaltenden Haltung, die selbst mehr oder weniger den Charakter der Sublimierung tragen kann.[35] Zur Sublimierung sei nur gesagt, dass Freud darunter die Ablenkung sexueller Impulse von ihren ursprünglichen sexuellen Zielen und ihre Hinwendung auf bzw. ihre Ersetzung durch andere, nicht-sexuelle, kulturelle Ziele begreift. Dies ist nicht so zu verstehen, dass aus Sexualität auf eine geheimnisvolle, „alchimistische“ Weise Charakter oder Intellekt entsteht, sondern dass sexuelle Energien auf andere Stellen des seelischen Apparats gelenkt und dort als Triebkraft in einer eigenartigen, noch kaum geklärten Verbindung mit Fähigkeiten des Ichs, psychische und geistige Qualitäten aufbauen helfen. Besonders wichtig ist es, nicht zu vergessen, dass Freud das Problem der Sublimierung am allerwenigsten mit der Sexualität im üblichen Sprachgebrauch, d.h. der genitalen Sexualität in Zusammenhang bringt, sondern vorwiegend mit den „prägenitalen“ Sexualstrebungen, d.h. der oralen und analen Sexualität und dem Sadismus.[36] Der Unterschied zwischen Reaktionsbildung und Sublimierung liegt im wesentlichen darin, dass die Reaktionsbildung immer die Funktion der Abwehr und Niederhaltung eines verdrängten Triebimpulses hat, aus dem sie auch ihre Energie bezieht, während die Sublimierung eine direkte Verarbeitung, eine „Kanalisierung“ der Triebregung darstellt.
Die Theorie der prägenitalen Sexualität, von Freud zum ersten Mal ausführlich in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (S. Freud, 1905d) dargestellt, geht von der Beobachtung aus, dass, noch bevor beim Kind die Genitalien eine entscheidende Rolle spielen, die Mundzone und die Afterzone als „erogene Zonen“ Träger von lustvollen, den genitalen Sensationen analogen Sensationen sind, dass sie im Laufe der Entwicklung teilweise ihre sexuelle Energie an die Genitalien abgeben, zum geringeren Teil diese Energien behalten, teils in ihrer ursprünglichen Form, teils in der Form von Sublimierungen und Reaktionsbildungen im Ich. Aufbauend auf diesen Beobachtungen der prägenitalen Sexualität veröffentlichte Freud 1908 einen kurzen Aufsatz über Charakter und Analerotik (S. Freud, 1908b), der die Grundlage der analytischen Charakterforschung bildet. Freud ging von der Beobachtung aus, dass man häufig in der Analyse einem Typus begegnet, der „durch das Zusammentreffen bestimmter Charaktereigenschaften ausgezeichnet ist, während das Verhalten einer gewissen Körperfunktion und der an ihr beteiligten Organe in der Kindheit dieser Personen die Aufmerksamkeit auf sich zieht“ (S. Freud, 1908b, S. 203). Er findet drei Charakterzüge – Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Eigensinn – bei solchen Individuen, in deren Kindheit die Lust an der Darmentleerung und ihren Produkten eine besonders große Rolle spielt. Besonders betonte er die in der Neurose wie im Mythos, Aberglauben, Traum, Märchen [I-061] anzutreffende Gleichsetzung von Kot und Geld (Geschenk). Auf dieser grundlegenden Arbeit Freuds bauten sich eine Reihe Arbeiten anderer psychoanalytischer Autoren auf, die die Grundzüge einer, freilich noch in vielen Punkten unfertigen und hypothetischen, psychoanalytischen Charakterologie lieferten. (Vgl. O. Fenichel, 1931.)
Bevor wir zur Darstellung der für den Soziologen wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeiten kommen, soll auf einen Gesichtspunkt hingewiesen werden, der in manchen dieser Arbeiten nicht oder zu wenig deutlich hervortritt und dessen Betonung ein besseres Verständnis dieser Untersuchungen ermöglicht: die Unterscheidung zwischen Sexualziel und Sexualobjekt, bzw. zwischen der Organlust und den Objektbeziehungen. Freud bringt die Sexualtriebe in einen engen Zusammenhang mit den „erogenen Zonen“[37] und nimmt an, dass die Sexualtriebe durch Reizung an diesen erogenen Zonen hervorgerufen werden. In der ersten Lebensperiode steht die Mundzone und die mit ihr verknüpften Funktionen – Saugen und Beißen –, dann, nach der Säuglingsperiode, die Afterzone mit ihren Funktionen – Stuhlentleerung bzw. Stuhlzurückhaltung – und vom 3. bis 5. Jahr die Genitalzone im Zentrum der Sexualität. (Diese erste Blüte der genitalen Sexualität hat Freud als „phallische Phase“ bezeichnet, weil er annimmt, dass in dieser Zeit für beide Geschlechter allein der Phallus bzw. die phallisch erlebte Klitoris eine Rolle spielt, mit der Tendenz zum Eindringen und Zerstören. Nach einer „Latenzzeit“, die etwa bis zur Pubertät dauert, kommt es dann im Zusammenhang mit der körperlichen Reifung zur Entwicklung der eigentlichen genitalen Sexualität, der die prägenitalen Sexualstrebungen unter-, bzw. eingeordnet werden, d.h. zur endgültigen Herstellung des „Primats“ der Genitalität). Von dieser Organerotik, d.h. also von der an eine bestimmte Körperzone bzw. eine bestimmte mit dieser Zone verknüpfte Funktion gebundenen Organlust, sind die Objektbeziehungen zu unterscheiden, d.h. die (liebenden oder hassenden) Einstellungen zu den dem Menschen gegenübertretenden Mitmenschen, bzw. der eigenen Person, mit anderen Worten die Gefühlseinstellung und -haltung zur Umwelt überhaupt. Auch die Objektbeziehungen haben einen typischen Verlauf: Nach Freud ist der Säugling vorwiegend narzisstisch eingestellt, nur auf sich und die Befriedigung seiner Bedürfnisse bedacht; in einer zweiten Periode, nach dem Ende der Säuglingszeit etwa, mehren sich sadistische, objektfeindliche Züge, die auch noch in der phallischen Phase eine wichtige Rolle spielen. Erst mit dem Primat der Genitalität in der Pubertät treten objektfreundliche, liebende Züge eindeutig in den Mittelpunkt. Die Objektbeziehungen werden in einen engen Zusammenhang mit den erogenen Zonen gebracht. Dieser Zusammenhang ist verständlich, wenn man bedenkt, dass sich spezifische Objektbeziehungen zuerst in Verbindung mit bestimmten erogenen Zonen entwickeln und dass diese Verbindung durchaus keine zufällige ist. Ohne aber an [I-062] dieser Stelle das Problem diskutieren zu wollen, ob der Zusammenhang ein so enger ist, wie es vielfach in der psychoanalytischen Literatur dargestellt wird, oder ob und inwieweit nicht die für eine erogene Zone typische Objektbeziehung auch unabhängig von den besonderen Schicksalen dieser erogenen Zone sich entwickeln kann, soll Wert darauf gelegt werden, prinzipiell zwischen der Organlust und den Objektbeziehungen zu unterscheiden; in der nun folgenden Darstellung sollen, bevor die analytischen Befunde über die oralen, analen und genitalen Charakterzüge dargestellt werden, die komponierenden Elemente, nämlich die Sublimierungen und Reaktionsbildungen der Organlust und die koordinierten typischen Objektbeziehungen eine getrennte Darstellung finden.[38]
Der in der ersten Lebensperiode zentrale Sexualtrieb ist die Oralerotik. Beim Kind findet sich ein starkes Lust- und Befriedigungsgefühl, das ursprünglich mit dem Saugen...