Der gegenwärtige Zustand des Menschen
(The Present Human Condition)
(1955c)[25]
Als die mittelalterliche Welt zerstört war, schien der westliche Mensch der endgültigen Erfüllung seiner kühnsten Träume und Visionen entgegenzugehen. Er befreite sich von der Autorität einer totalitären Kirche, von der Last des traditionellen Denkens, von den geographischen Begrenzungen unseres erst zur Hälfte entdeckten Erdballs. Er schuf eine neue Wissenschaft, die schließlich bisher ungeahnte Produktivkräfte entfaltete und die materielle Welt völlig verwandelte. Er schuf politische Systeme, die Gewähr für eine freie und schöpferische Entwicklung des Individuums zu bieten schienen; er verkürzte die Arbeitszeit in solchem Ausmaß, dass der westliche Mensch so viele Mußestunden genießen kann, wie es seine Vorfahren sich kaum erträumt hatten.
Wo aber stehen wir heute?[26] Die Gefahr eines alles zerstörenden Krieges lastet auf der Menschheit, eine Bedrohung, der die Regierungen mit ihren zögernden Versuchen, ihr zu entgehen, keineswegs entgegenwirken. Aber selbst wenn die Politiker nüchtern genug sein sollten, einen Krieg zu verhindern, so sind wir doch weit entfernt davon, die Hoffnungen des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts erfüllt zu sehen.
Der Charakter des Menschen ist von den Erfordernissen der Welt geformt worden, die er mit seinen eigenen Händen schuf. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert hatte der Gesellschafts-Charakter der Mittelklasse stark ausbeuterische und hortende Züge. Dieser Charakter war bestimmt durch das Bestreben, andere auszubeuten und die Gewinne zu sparen, um weiteren Profit daraus zu ziehen. Im zwanzigsten Jahrhundert zeigen die Charakterzüge des Menschen eine beträchtliche Passivität und eine Identifikation mit Werten, die sich am Markt orientieren. Der Mensch unserer Tage verhält sich den größten Teil seiner Freizeit hindurch passiv. Er ist ein ewiger Konsument; er „nimmt“ alkoholische Getränke, Speisen, Zigaretten, Vorträge, Ansichten, Bücher, Filme „zu sich“; alles wird konsumiert, alles geschluckt. Die Welt ist ein großes Objekt für seinen Appetit: eine große Flasche, ein großer Apfel, eine große Brust. Der Mensch ist zum Säugling geworden, ewig voller Erwartung – und ewig enttäuscht.
Soweit der moderne Mensch nicht Konsument ist, ist er Käufer und Verkäufer. Den [V-268] Mittelpunkt unseres Wirtschaftssystems bildet der Markt, der den Wert aller Waren bestimmt und den Anteil jedes Einzelnen am Sozialprodukt reguliert. Weder Gewalt noch Tradition, wie in früheren Geschichtsperioden, noch Betrug oder Täuschung beherrschen die wirtschaftlichen Prozesse. Der Mensch ist frei zu produzieren und zu verkaufen; der Markttag ist der Gerichtstag über den Erfolg seiner Bemühungen. Nicht nur Waren werden auf dem Markt angeboten und verkauft; die Arbeit ist zur Ware geworden, die auf dem Arbeitsmarkt unter den gleichen Bedingungen des Wettbewerbs verkauft wird. Aber das Marktsystem reicht über den wirtschaftlichen Bereich von Waren und Arbeit hinaus. Der Mensch hat sich selbst in eine Ware verwandelt und fasst sein Leben als Kapital auf, das gewinnbringend investiert werden muss; wenn ihm das gelingt, ist er „erfolgreich“, und sein Leben hat Sinn; wenn nicht, ist er ein „Versager“. Sein „Wert“ liegt in seiner Verkäuflichkeit, nicht in den menschlichen Fähigkeiten der Liebe, der Vernunft oder der künstlerischen Kreativität. So hängt sein Selbstwertgefühl von äußeren Faktoren ab – von seinem Erfolg, von dem Urteil der anderen. Daher ist er von diesen abhängig und sucht Sicherheit in der Konformität – niemals mehr als zwei Schritt von der Herde entfernt.
Doch der Charakter des modernen Menschen wird nicht allein vom Markt bestimmt. Ein anderer Faktor, der eng mit dem Markt zusammenhängt, ist die Art und Weise der industriellen Produktion. Die Unternehmen werden immer größer; die Zahl der in ihnen beschäftigten Arbeiter und Angestellten wächst beständig; Eigentum und Management sind getrennt. Die Industrieriesen werden von einer Berufsbürokratie gelenkt, der es hauptsächlich um das reibungslose Funktionieren und die Ausdehnung ihres Unternehmens geht, weniger um persönliche Profitgier an sich.
Welchen Menschen braucht unsere Gesellschaft zum reibungslosen Funktionieren? Sie braucht Menschen, die in großen Gruppen zusammenarbeiten, die mehr und mehr konsumieren wollen, deren Geschmack genormt, leicht zu beeinflussen und vorherzusagen ist. Sie braucht Menschen, die sich frei und unabhängig fühlen und glauben, keiner Autorität, keinem Prinzip und keinem Gewissen unterworfen zu sein – die aber dennoch bereit sind, Befehle auszuführen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die gesellschaftliche Maschinerie einfügen. Sie braucht Menschen, die ohne Gewalt gelenkt, ohne Führer geführt, ohne Ziele angetrieben werden können, mit der einen Ausnahme: nie untätig zu sein, immer zu funktionieren und weiterzustreben. Die moderne Industrialisierung hat diesen Menschen geschaffen – den Automaten, den entfremdeten Menschen. Er ist entfremdet in dem Sinn, dass ihm sein Handeln und seine eigenen Kräfte fremd geworden sind; sie stehen über ihm und gegen ihn und beherrschen ihn, statt dass er sie beherrscht. Seine Lebenskräfte haben sich in Dinge und Institutionen verwandelt und sind zu Götzen geworden. Er erlebt sie nicht mehr als Ergebnis seiner eigenen Anstrengungen, sondern als etwas von ihm Getrenntes, das er anbetet und dem er sich unterwirft. Der entfremdete Mensch kniet nieder vor dem Werk seiner eigenen Hände. Seine Götzen verkörpern seine eigenen Lebenskräfte in einer entfremdeten Form. Der Mensch erfährt sich nicht mehr als den tätigen Schöpfer seiner eigenen Kräfte und Reichtümer, sondern als ein verarmtes „Ding“, abhängig von anderen Dingen außerhalb seiner, auf die er seine Lebenssubstanz projiziert hat. [V-269]
Seine sozialen Strebungen hat er auf den Staat übertragen. Als Staatsbürger ist er sogar bereit, sein Leben für den Mitmenschen zu opfern; als privates Individuum ist er beherrscht von selbstsüchtiger Sorge um sich selbst. Weil er den Staat zur Verkörperung seiner sozialen Strebungen gemacht hat, betet er ihn und seine Symbole an. Er überträgt sein Machtgefühl, seine Klugheit und seinen Mut auf Führer und betet diese Führer als Idole an. Als Arbeiter, Angestellter oder Manager ist der moderne Mensch seiner Arbeit entfremdet. Der Arbeiter ist zum Rad im Wirtschaftsgetriebe geworden, das sich nach den Anweisungen von Automaten und Managern dreht. Er hat keinen Anteil an der Planung des Arbeitsvorganges, keinen Anteil an seinem Ergebnis, selten sieht er das fertige Produkt. Der Manager hingegen beschäftigt sich mit dem fertigen Produkt, doch ist er ihm als etwas Konkretem, Nützlichem, entfremdet. Sein Ziel ist, das Kapital, das andere investiert haben, gewinnbringend anzuwenden; die Ware verkörpert lediglich das Kapital, als konkreter Gebrauchswert bedeutet sie ihm nichts. Der Manager ist zum Bürokraten geworden, der Dinge, Zahlen und menschliche Wesen nur als Objekte seiner Tätigkeit handhabt. Die Manipulation von Menschen wird als human relations bezeichnet, während der Manager es doch mit allerunmenschlichsten Beziehungen zu tun hat, nämlich solchen zwischen Automaten, die zu Abstraktionen geworden sind.
Unser Konsum ist ebenfalls entfremdet. Er wird weit mehr durch Werbeslogans als durch unsere wirklichen Bedürfnisse, unseren Gaumen, unsere Augen oder Ohren bestimmt.
Die Sinnlosigkeit und Entfremdung der Arbeit führen zur Sehnsucht nach vollkommener Untätigkeit. Der Mensch hasst sein Arbeitsleben, weil er sich in ihm gefangen und betrogen fühlt. Sein Ideal wird die absolute Untätigkeit, in der er keine Bewegung machen muss und alles nach dem Kodak-Slogan abläuft: „Sie drücken auf den Knopf, wir besorgen den Rest.“ Diese Tendenz wird durch den Konsum verstärkt, der zur Ausweitung des Marktes nötig ist, und das führt zu einem Prinzip, das Huxley sehr eindrucksvoll in seiner Brave New World (1946) geschildert hat. Einer der Slogans, von dem jeder von Kindheit an beeinflusst worden ist, lautet: „Verschiebe ein Vergnügen nie auf morgen, wenn du es heute haben kannst.“ Wenn ich die Befriedigung meines Wunsches nicht aufschiebe (und man hat mir beigebracht, nur zu wünschen, was ich bekommen kann), habe ich keine Konflikte, keine Zweifel; keine Entscheidung muss getroffen werden, nie bin ich mit mir allein, weil ich immer beschäftigt bin – entweder mit Arbeit oder mit dem Vergnügen. Ich habe kein Bedürfnis, mir meiner selbst bewusst zu werden, denn ich bin ständig mit Konsumieren beschäftigt. Ich bin ein System von Begierden und Befriedigungen; ich muss arbeiten, um meine Wünsche erfüllen zu können – und diese Wünsche werden von der Wirtschaftsmaschinerie immerzu wach gehalten und gelenkt.
Wir nehmen für uns in Anspruch, die Ziele der jüdisch-christlichen Tradition ernst zu nehmen: die Liebe zu Gott und unserem Nächsten. Man sagt uns sogar, dass wir in einer verheißungsvollen Zeit religiöser Renaissance leben. Nichts liegt der Wahrheit ferner. Wir bedienen uns der Symbole, die einer echten religiösen Tradition angehören, und verwandeln sie in Formeln, die den Zwecken des entfremdeten Menschen dienen. Die Religion ist zur leeren Hülle geworden; sie hat sich in eine [V-270] Selbsthilfevorrichtung zur Steigerung des Erfolgs verwandelt. Gott wird zum Geschäftspartner. Pfarrer Peales The Power of Positive Thinking (1952) löst Dale Carnegies Bestseller How to Make Friends and Influence People (1936) ab.
Liebe zum Menschen ist ebenfalls...