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Anders sehen

Die verblüffende Wissenschaft der Wahrnehmung - Mit zahlreichen Selbsttests

AutorBeau Lotto
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783641170011
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Du siehst was, was du nicht siehst
Was wir sehen, hören, fühlen, entspricht nicht der Realität. Wahrnehmung ist die Grundlage aller menschlicher Erfahrung, und sie trügt, wo sie nur kann. Darum will der weltbekannte Neurowissenschaftler Beau Lotto nichts Geringeres, als uns eine neue Art des Wahrnehmens zu ermöglichen, denn dies ist der Schlüssel zu Glück und Erfolg. Wir sollen nicht nur verstehen, sondern wirklich erleben, wie unser Gehirn die Informationen der Sinne beschneidet. Dazu kombiniert der Autor spannende Geschichten, eigene Experimente und optische Täuschungen zum Selbsttest. Auf seine originelle, humorvolle und anschauliche Weise lässt uns Beau Lotto am eigenen Leib unsere Wahrnehmung wahrnehmen und somit auf die nächste Stufe heben.



Dr. Beau Lotto ist ein weltbekannter Neurowissenschaftler, der sich auf die Physiologie und Psychologie der Wahrnehmung spezialisiert hat. Er ist Professor am University College London und gründete 2001 sein Lab of Misfits. Dort forscht er interdisziplinär zum Thema Wahrnehmung und interessiert auch Nicht-Wissenschaftler und Kinder durch spannende Experimente für seine Studien.

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Leseprobe

KAPITEL 1

Leben in Farbe

Als Sie heute Morgen beim Aufwachen die Augen aufschlugen, haben Sie die Welt da richtig gesehen, so, wie sie wirklich ist? Nein? Dann lassen Sie mich die Frage noch einmal anders stellen: Glauben Sie an Illusionen? Die meisten von uns tun das. Und wenn auch Sie es tun, dann glauben Sie per Definition, dass die evolutionäre Entwicklung des Gehirns darauf abzielt, die Welt akkurat zu sehen, zumindest die meiste Zeit – vorausgesetzt, die Definition von Illusion ist ein Eindruck von der Welt, der von dem, wie sie wirklich ist, abweicht. Und dennoch sehen wir die Welt nicht so, wie sie ist. Warum? Was geschieht in unserem komplexen Gehirn (oder um genauer zu sein, im Austausch zwischen unserem Gehirn und der Welt)? Um das zu beantworten, müssen wir dem menschlichen Bedürfnis, »es mit eigenen Augen zu sehen«, Genüge tun und uns zunächst einer drängenden empirischen Frage zuwenden. Was beweist, dass wir die Realität nicht sehen? Woran sehen wir, dass wir sie nicht sehen? Die Antwort darauf finden wir, wenn wir unsere vorgefassten Überzeugungen zur Wahrnehmung Stück für Stück auseinandernehmen.

Im Februar 2014 verbreitete sich ein auf Tumblr gepostetes Foto rasend schnell auf der ganzen Welt und lenkte dabei ganz beiläufig das Interesse auf die Frage nach der Subjektivität der Wahrnehmung. Die Reaktion auf das Foto war immens, und die entscheidende Frage, was darauf zu sehen ist, zog auf Twitter und in anderen sozialen Medien, im Fernsehen und in den Köpfen unzähliger Menschen, die ihre Verblüffung für sich behielten, Tausende weitere Fragen nach sich. Vielleicht ist Ihnen das Foto nie begegnet, aber wenn Sie es gesehen haben, werden Sie sich daran erinnern, dass dieses Bild einem ganzen Phänomen seinen Namen gab – The Dress (Das Kleid).

Alles begann mit einer Hochzeit in Schottland. Die Mutter der Braut schickte ihrer Tochter ein Foto des Kleids, das sie zur Trauung tragen wollte: ein einfaches blaues Cocktailkleid mit Querstreifen aus schwarzer Spitze. Für die Sinneswahrnehmung von Braut und Bräutigam war dieses Foto allerdings alles andere als einfach, denn sie konnten sich nicht darüber einig werden, ob das Kleid nun weiß mit goldenen Streifen oder blau mit schwarzen Streifen war. Irritiert über ihre Unstimmigkeiten schickten sie das Foto an diverse Bekannte weiter. Unter ihnen war auch Caitlin McNeill, eine Musikerin, die auf der Hochzeit spielen sollte und dann auf dem Fest um ein Haar ihren Auftritt verpasst hätte, weil sie und ihre Bandkollegen (die das Kleid, genau wie das Brautpaar, nicht alle gleich sahen) heftig über das Foto diskutierten.1 Nach der Hochzeit postete Caitlin McNeill das Foto auf ihrer Tumblr-Seite mit der Überschrift »Bitte helft mir: Ist dieses Kleid weiß-gold oder blau-schwarz? Meine Freunde und ich können uns nicht einig werden und drehen fast durch.« Nicht lange nachdem sie diesen kurzen Kommentar veröffentlicht hatte, erreichte der Beitrag eine viral kritische Anzahl von Klicks und ließ angeblich sogar »das Internet zusammenbrechen«.

In der darauffolgenden Woche zog The Dress wie die meisten viralen Phänomene immer weitere Kreise, und sowohl die Geschichte als auch deren Gegenstand – in diesem Fall das einfache Foto eines Kleidungsstücks – verbreiteten sich ebenso unerwartet wie explosionsartig auf der ganzen Welt. Prominente twitterten und stritten darüber, über Reddit verbreiteten sich Drohungen, und selbst diverse Nachrichtenagenturen widmeten sich der Sache. Plötzlich konnten sich diejenigen unter uns, die zum Thema Farben forschten, kaum noch retten vor Interviewnachfragen. Offenbar wollte jeder wissen, warum die Farben unterschiedlich gesehen wurden. Selbst die normalerweise so nüchterne Washington Post titelte sensationslüstern: »Die Insider-Geschichte des Weißes-Kleid-Blaues-Kleid-Dramas, das den Planeten spaltet«.2 Aber neben all der Aufregung und den überhitzten Debatten wurden auch wichtige Gespräche über Wissenschaft geführt – über Wahrnehmungsneurowissenschaft, um genau zu sein.

Ich fand The Dress in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, vor allem aber, weil dieses Phänomen ein weiterer Hinweis darauf war, dass Bedeutung, genau wie das physische Netzwerk unseres Gehirns, welches wir durch Wahrnehmungen beständig formen und umformen, veränderlich ist. Das zu begreifen ist, wie Sie in den folgenden Kapiteln sehen werden, der Schlüssel zur »Rekonstruktion« Ihrer wahrgenommenen Vergangenheit, welche in Ihren Gehirnzellen ungeahnte neue Gedanken und Ideen freisetzen kann. The Dress ist ein perfektes Beispiel dafür, wie Bedeutung Bedeutung stiftet, und auch das ist eine wesentliche Eigenheit der Wahrnehmung. (Nachrichtenagenturen auf der ganzen Welt berichteten in erster Linie deshalb über die Geschichte, weil an anderer Stelle darüber berichtet wurde, und so verlieh die Tatsache, dass angenommen wurde, die Geschichte sei von Bedeutung, ihr tatsächlich Bedeutung.) Was mich ebenfalls erstaunte war, dass nicht die Illusion an sich so viel Aufmerksamkeit erregte. Offenbar sind Illusionen (die in der Regel auf einem einfachen »Trick« beruhen) für uns nichts Neues. Nein, am meisten faszinierte die Menschen die Tatsache, dass sie die Illusion unterschiedlich wahrnahmen. Dabei sind wir es eigentlich gewohnt, die Dinge konzeptuell unterschiedlich zu sehen. Warum also war das hier anders? Letzten Endes nur deshalb, weil es um Farben ging.

Wir haben kein Problem damit, wenn andere Personen eine andere Sprache sprechen. Wenn aber Freunde, Familienmitglieder oder andere Menschen, deren Begriff von Realität wir vertrauen, die Realität in einem so entscheidenden Bereich wie Farbe plötzlich anders wahrnehmen als wir selbst, stellt sich uns – für einen viel zu kurzen, aber wunderbaren Moment – die existenzielle, wenn auch weitgehend unterbewusste Frage, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Es rührt an etwas im innersten Kern dessen, wie Menschen sich selbst, ihr Bewusstsein und ihre Existenz begreifen. Die Schauspielerin und Autorin Mindy Kaling twitterte inmitten der Aufregung um #TheDress am 25. Februar (und das war nur einer ihrer vielen leidenschaftlichen Tweets zu diesem Thema): »Ich glaube, dieses Kleid macht mich deshalb so verrückt, weil es meinen Begriff von objektiver Wahrheit angreift.«

The Dress hat uns auf die Krux mit der Wahrnehmung und dem Selbst aufmerksam gemacht: Es gibt sie zwar, die »objektive Wahrheit« oder auch Realität, aber unser Gehirn gewährt uns keinen Zugang zu ihr. Das Foto des Kleids hat uns einen schockierenden »Blick« auf die Risse in unserer extrem subjektiven Realität eröffnet – und genau das hat uns erschüttert oder zumindest ein wenig durcheinandergebracht. Der Schlüssel, um zu begreifen, wie wir durch ein besseres Verständnis der Wahrnehmung unsere Kreativität steigern können, ist – wie Sie bald sehen werden – eben dieser kleine Schritt in eine existenzielle Unsicherheit, welcher die Leute so aufgewühlt hat. The Dress hat sie fast wahnsinnig gemacht, war aber auch unglaublich spannend.

Für mich persönlich war das Ganze interessant, weil ich in Echtzeit beobachten konnte, wie Millionen von Menschen einen Riesenschritt in Richtung einer wichtigen Erkenntnis gemacht haben. Manche schrieben über The Dress aber auch: »Okay, dieses eine Mal hat meine Wahrnehmung die Realität vielleicht nicht gesehen, normalerweise tut sie das aber.« Als ich das las, hätte ich dem Verfasser am liebsten laut ins Gesicht geschrien: »Nein! Du siehst die Realität nicht! Niemals!« Leider wurde dieser wichtige Punkt aber nie zum zentralen »Thema« von The Dress, auch wenn ein paar Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft die Gelegenheit beim Schopf packten, um ein breiteres Publikum für etwas zu interessieren, das zu jedem anderen Zeitpunkt in der kulturellen Diskussion eher abstrus und unwichtig erschienen wäre. So veröffentlichte Current Biology im Mai 2015 gleich drei Studien zu The Dress, von denen eine erklärte, die Streuung der Farben des Kleids entspräche der von »natürlichem Tageslicht«, weshalb dem Gehirn die Unterscheidung zwischen den Lichtquellen und den Oberflächen, die das Licht reflektierten, schwerfalle (mehr dazu im nächsten Kapitel). Eine andere Studie entdeckte etwas Neues dazu, wie das Gehirn die Farbe Blau verarbeitet, und zeigte, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Gegenstände dem menschlichen Auge weiß oder grau erscheinen, höher ist, »wenn sie im bläulichen Bereich variieren«. Die dritte Studie, an der 1401 Menschen teilnahmen, ergab, dass 57 Prozent der Befragten das Kleid blau-schwarz sahen und ältere Menschen und Frauen es überwiegend weiß-gold wahrnahmen. Dazu kam, dass die Wahrnehmung bei einer zweiten Betrachtung manchmal von weiß-gold zu blau-schwarz wechselte und umgekehrt. Kurz, das virale Foto erwies sich als ideales Objekt für weitere Studien zur visuellen Wahrnehmung.3

Nichts von alledem beantwortet jedoch, warum zum Teufel die Leute dieses Kleid unterschiedlich sehen.

The Dress wirft nicht nur die Frage auf, wie Wahrnehmung funktioniert, sondern auch, weshalb sie für uns von so großer Bedeutung ist. Es illustriert die äußerst widersinnige Natur unseres Gehirns, denn wenn wir die Welt so sehen würden, wie sie tatsächlich ist, dann sollte, was gleich ist, auch gleich aussehen. Und was verschieden ist, sollte verschieden aussehen – immer und für jeden. Das scheint vernünftig und richtig, eine...

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