Merkelmania
Die neue Macht der Kanzlerin
Im achten Jahr der Kanzlerschaft erreichte Angela Merkel den Höhepunkt ihrer Macht. Wieder einmal. Sie steht nun schon zwei Legislaturperioden lang an der Spitze der größten und reichsten Volkswirtschaft des Kontinents. Sie führt ihre Partei unangefochten und nahezu widerspruchsfrei. Sie präsidiert über ein Kabinett weitgehend loyaler und fügsamer Minister. Sie hat ihren zweiten Koalitionspartner domestiziert und so die niederschmetternde Außenwirkung ihrer Regierung zumindest unter Kontrolle bekommen. Die Opposition bestraft sie mit Nichtachtung. In der Öffentlichkeit genießt sie hohes Ansehen – kein Kanzler vor ihr konnte sich im siebten Jahr seiner Regierungszeit auf derart hohe Zustimmungswerte stützen. Dem Land geht es ökonomisch nicht schlecht – legt man die Nachbarstaaten als Maßstab an. Wirklich große innere Probleme plagen Deutschland nicht.
Im achten Jahr ihrer Kanzlerschaft hat es Angela Merkel auch in der Welt zu Macht und Einfluss gebracht. Sie gehört nun einer kleinen Gruppe von Regierungschefs an, die auf eine derart lange Amtszeit zurückschauen können. In der Europäischen Union ist sie die Letzte ihres Jahrgangs – bis auf den ewigen Ministerpräsidenten Luxemburgs und den maltesischen Premierminister regiert keiner länger als sie. Der Präsident der Europäischen Kommission ist ein Jahr vor ihr ins Amt gekommen – aber nur mit ihrer Hilfe. Merkel arbeitet mit dem zweiten amerikanischen Präsidenten ihrer Regierungszeit zusammen. Deren beide Vorgänger hat sie zumindest getroffen. Mit dem russischen Präsidenten liefert sie sich so etwas wie einen Hase-und-Igel-Wettlauf um die längere Amtszeit – keiner der großen Staatsführer auf der Welt begleitete sie intensiver, keiner rivalisiert so hartnäckig mit ihr wie Wladimir Putin. In China erlebte Merkel zum ersten Mal einen Führungswechsel. Sie fieberte dem Treffen mit der neuen Staatsführung entgegen, weil sie die neuen Mächtigen mit den vertrauten Vorgängern vergleichen wollte.
Merkel hat ihren Beitrag zu einem Friedensprozess im Nahen Osten geleistet. Sie pflegt ein intensives und bisweilen gar emotionales Verhältnis zu Israel, was natürlich der deutschen Geschichte geschuldet ist, aber auch einer persönlichen Bindung, die sie sich in ihrem Verhältnis zur Welt sonst nur sehr selten erlaubt. Nun wurde auch sie von der Wucht der Ereignisse in der arabischen Welt überrollt. Mit skeptischer Spannung schaut sie auf den Nahen Osten und die aufgewühlten Gesellschaften, die aufbrechen wollten in die Freiheit und am Ende doch vor den Moschee-Toren stehen blieben. Von Freiheit versteht Merkel einiges – sie hat eine eigene Freiheitsgeschichte zu erzählen. Aber sie geht sparsam damit um, weil sie jedes Pathos verabscheut. Eigentlich ist Freiheit für sie eine sehr individuelle Angelegenheit: die Lust an der ungehinderten Entfaltung, Grenzen testen, neues Terrain entdecken, verstehen, erobern – das zeichnet den ganz persönlichen Freiheitsdrang jener Frau aus, die 35 Jahre lang ihre Ambitionen und ihr Talent verstecken musste. Ihr Hunger scheint noch nicht gestillt.
Und deswegen erreichte Angela Merkel im achten Kanzlerjahr den Zenit der Macht. Wieder einmal – weil ihr dieser Scheitelpunkt der Möglichkeiten schon ein paarmal zugeschrieben worden war: nach der ersten gewonnenen Kanzlerschaft und ein paar ordentlichen Wochen im Amt, nach der Koalition mit der SPD, nach der Finanzkrise 2008. Immer wieder stand sie vermeintlich am Höhepunkt ihrer Karriere. Aber Merkel glaubt nicht an den linearen Aufstieg. Für sie ist Politik ein Nullsummenspiel – eine Ansammlung von Positiva und Negativa, eine stete Aneinanderreihung von Erfolg und Misserfolg.
Und hier beginnt das Problem: Erfolg und Misserfolg messen sich nicht nur an der Stabilität einer Koalition, der Zufriedenheit der Wähler oder der Frequenz internationaler Besuche. Das sind die falschen Kategorien. Die richtigen Kategorien sind: Ereignisse. Auf die Frage eines Journalisten, was denn eine Regierung aus der Bahn werfe, antwortete der britische Premier Harold Macmillan: »Ereignisse, mein Lieber, Ereignisse.« Und so trägt auch Angela Merkel an einer historischen Bürde, einem Ereignis, das einzig und allein über Erfolg oder Misserfolg ihrer Kanzlerschaft bestimmen wird: der Krise.
Sie hat die Krise nicht gesucht, die Krise ist zu ihr gekommen. Die Krise ist so etwas wie eine mythologische Angstfigur, ein bisschen vielköpfige Hydra, ein wenig Höllenhund Zerberus. Sie kam zunächst in Gestalt der Finanzkrise daher, mutierte dann zu einer ausgewachsenen Weltwirtschaftskrise und verwandelte sich schließlich in die Eurokrise. Dahinter verbergen sich gleich mehrere Probleme, die gewaltigen Schaden anrichten können: eine Schuldenkrise, ein Wachstums- und Wettbewerbsproblem und am Ende eine Währungskatastrophe. Die träte ein, wenn der Euro zusammenbräche unter der Last der Probleme, wenn Europa zerfiele in seine alten Währungszonen. Es ist nicht undenkbar, dass Europa volks- und finanzwirtschaftlich kollabiert und damit den Währungsverbund mitsamt seinen Banken, Wirtschaftsbetrieben und Sparern in den Abgrund reist. Die Szenarien sind furchteinflößend: ein Sturm der Sparer auf die Banken, die Zahlungsunfähigkeit, der Zusammenbruch ganzer Wirtschaftszweige, ein Absturz beim Export, hohe Arbeitslosigkeit, soziale Spannungen, der Aufstieg radikaler Parteien – und der politische Zerfall Europas. An diesen Szenarien spürt man das historische Gewicht der Krise. Hier wirken Kräfte, die umfassende Zerstörung anrichten können.
Diese Zerstörungskrise wurde Angela Merkel aufgezwungen – ihre politische Aufgabe ist es, diese Zerstörung abzuwenden. Merkel regiert nicht in einem glücklichen Moment der Geschichte, wie es etwa Helmut Kohl vergönnt war. Der nutzte die Gunst des Augenblicks und die positive Dynamik der europäischen Freiheitsrevolution und führte das Land instinktsicher zur Vereinigung und Europa zu neuer Blüte. Nein, Merkel dirigiert eine Abwehrschlacht, sie kämpft gegen den Niedergang. Sie kann keine blühenden Landschaften versprechen – sie kann nur gegen die Verödung Europas anarbeiten.
Das Thema der Merkel’schen Kanzlerschaft ist also die Krise. Konrad Adenauer verankerte die Bundesrepublik im Westen und setzte ein politisches Modell durch, das für sozialen Ausgleich und Marktwirtschaft sorgt. Willy Brandt tat die ersten Schritte hin zur Entspannung mit dem Osten. Und Helmut Kohl ging als Kanzler der Einheit in die Geschichte ein. Nun hat Merkel ihr historisches Motiv erhalten – das macht sie stark. Man muss sagen: Die Krise ist erst einmal gut für sie. Ohne die Krise wäre ihre Kanzlerschaft von erheblich geringerer Bedeutung. Nun hat sie die Chance, sich in die Riege der großen Staatenlenker einzureihen. Ihre Entscheidungen sind schicksalhaft für Deutschland, aber auch für ganz Europa. Das verleiht ihr Bedeutung und Macht. Gerade deswegen ist Merkel – wieder mal – im Zenit ihres Schaffens angelangt.
Der Machtzuwachs ist weniger in Berlin zu spüren als in der Sphäre der europäischen Politik – in Brüssel, auf den Gipfeln mit dem französischen Präsidenten, beim Besuch in Athen. Angela Merkel ragt heraus in Europa. Sie ist zu einem politischen Solitär geworden. Zu beobachten ist eine Fixierung auf ihre Person. Als ob es einzig an ihr läge, ob der Kontinent seine Probleme bewältigt oder nicht. Dieser Machtzuwachs ist zu beobachten: an der Frequenz der Besucher in Berlin; an der Aufmerksamkeit, die Merkel in Washington oder Peking entgegengebracht wird; an den Verzerrungen und Dämonisierungen, die sie zu erdulden hat.
Merkel ist in vier Krisenjahren zur Titelheldin der politischen Periodika avanciert. »Das Mysterium Angela Merkel«, »die verlorene Anführerin«, »Frau Europa«, »Mutter Mutlos«, »Achtung, it’s Angela« – keine Posen, keine Klischees, die nicht gebraucht worden wären. Manchmal lacht Angela Merkel darüber, etwa über den Titel der britischen Zeitschrift Economist: Da war das Schiff »Weltwirtschaft« zu sehen, wie es weit unter der Wasseroberfläche dem Meeresgrund entgegensinkt. Auf der Brücke fragt eine Stimme flehend: »Bitte, können wir jetzt die Maschinen anwerfen, Frau Merkel?«
Trockener Humor ist aber die Ausnahme. Die Regel ist dies: Merkel mit Hitler-Bärtchen; Merkel mit entblößter Brust – die polnischen Kaczy?ski-Zwillinge säugend; Merkel mit bluttropfenden Schultern; Merkel als sadomasochistische Domina und einem flehenden spanischen Premier unter ihren Stiefeln. Nicht zu unterbieten war das linke britische Debattenmagazin New Statesman, das die Kanzlerin mit Terminator-Gesicht und Roboterauge zeigte und in seiner Geschichte – neben den erwartbaren Hitler-Vergleichen – Merkel zu einer größeren Gefahr für die Stabilität der Welt erklärte als den Nordkoreaner Kim Jong Un oder den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad. Merkel wurde verglichen mit einer Halbstarken oder mit Nero, der das brennende Rom in seinen Untergang fiedelt.
In der konservativen französischen Zeitung Le Figaro wurde die Alternative ausgemacht, entweder gehe Frankreich in den germanisch dominierten Norden, oder es werde »Teil der peripheren Länder, die von den Pangermanisten abschätzig PIGS genannt werden«. Pangermanisten – das waren dann wohl die Deutschen und ihre Vasallen. Der sozialistische Ökonom Daniel Cohen nannte Deutschland »das China Europas«. Und der spanische Schriftsteller Javier Cercas sorgte sich, dass Merkel im Süden Europas zur Schurkin vom Dienst erklärt würde. »Die ökonomischen Bedingungen, die sie uns aufzwingt, sind unerfüllbar und bringen Gefühle des Grolls und der Demütigung hervor,...