Erinnerung
an Angelika Schrobsdorff
von Rengha Rodewill
»Der letzte Koffer für Berlin«
Es muss kurz nach ihrer Ankunft in Berlin gewesen sein. Sie trug eine weiße Hose, dazu ein schwarzes Oberteil, als ich ihr das erste Mal in der neu bezogenen Berliner Altbauwohnung begegnete. Eine Parterrewohnung mit dezenten Stuckdecken und frisch geweißten Wänden. Halensee und Grunewald nah, Johannaplatz nicht weit. Eine Wohnung, mit Blick auf eine Autobahnauffahrt; keine glitzernde, in sonnengelb getauchte Kuppel des Felsendoms, kein unverschämt blauer Himmel, wie sie ihn liebte.
In einer Ecke standen nicht ausgepackte Umzugskartons und ein alter Koffer. Der Wohnung haftete der Ausdruck eines Neubeginns in Berlin an. Nachträglich könnte man sagen, dass ein Anfang und auch ein Ende zu spüren waren. Zwei ihrer Katzen mit Namen Vicky und Puschkin, die sie aus ihrem arabischen Haus in Abu Tor nach Berlin mitgebracht hatte, beäugten mich skeptisch, missachteten mich aber mit feliner Arroganz. An einem langen, stämmigen Eichentisch, der fast das ganze Zimmer in Beschlag nahm, saß Angelika Schrobsdorff – rauchend. Auf dem Tisch Zigaretten und Ascher, eine Karaffe, Gläser, Zettelnotizen und die berühmte Schreibmaschine.
2006 sickerte es wie ein Lauffeuer durch die einschlägigen Berliner Literatur- und Fan-Kreise, dass DIE Schrobsdorff aus ihrem so geliebten Jerusalem nach Berlin zurückgekehrt ist – aus politischen Gründen wie es hieß, aber hauptsächlich um in Berlin, um irgendwann in der deutschen Sprache zu sterben. Bewusst betonte sie dies immer wieder in Interviews. Auch Marlene Dietrich ließ sich 1992 in Berliner Erde begraben. Auch sie wollte ihre letzte Ruhe nicht in einer fremden Stadt, in Paris, auf einem der berühmten Friedhöfe der Seine-Metropole finden. Da die Dietrich immer diesen Einen Koffer in Berlin hatte, vermutete ich, dass tief in ihrem Herzen auch Angelika Schrobsdoff einen kleinen Koffer in Berlin zurückgelassen hatte. Nicht umsonst heißt Irmgard von zur Mühlens Dokumentarfilm über die Schrobsdorff Ein Leben lang Koffer. Darin beschreibt die Schriftstellerin ihre Verbindung zu den Koffern in ihrem Leben, die sie immer begleitet haben.
Koffer erzählen Geschichten von Menschen. Sie erzählen auch die Schreckensgeschichten des Holocausts: Verfolgung, Vernichtung, Emigration, Exil. Menschen, die zur Deportation aus ihren Wohnungen und Häusern getrieben wurden, nahmen oft nur ein kleines Köfferchen mit: Bestückt mit dem, was Ihnen am wichtigsten war, gingen sie los – zurück kamen sie nicht mehr. Doch Koffer können auch schöne und heitere Geschichten erzählen. Geschichten von fernen Reisen, wunderbaren Ländern, Abenteuern und Sehnsüchten.
Mein Anliegen als Künstlerin an die Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff an diesem Tag des Jahres 2006 war die Ausrichtung einer Kunstausstellung über sie und mit ihr im Haus der Wannsee-Konferenz. Es sollte eine »Kofferinstallation« in narrativer Darstellung sein, mit alten Koffern und Bezügen aus ihrem kosmopolitischen Leben.
Die Verhandlungen mit den Historikern der Gedenkstätte kamen gut voran, die Idee wurde sehr positiv aufgenommen. »Man könnte es sich gut vorstellen«, hieß es, »die Installation im großen Saal der Gedenkstätte aufzubauen.« In Erinnerung bleibt mir bis heute Angelika Schrobsdorffs erstauntes Gesicht, ihr durchdringender Blick aus den dunklen, melancholischen Augen, die rauchig-klangvolle Altstimme, ihre charismatische Ausstrahlung. Alles deutete darauf hin, dass ihr das Konzept noch nicht eingängig war.
Wir trennten uns und vereinbarten, dass ich mich telefonisch wieder melden würde. Leider bekamen die Historiker vom Haus der Wannsee-Konferenz letztendlich Platz- und Sicherheitsbedenken, eine so große Installation im Hause aufzubauen. So musste ich die Realisation meines Projekts – und damit die Verbindung zu Angelika Schrobsdorff – vorerst begraben.
Um ein Buchprojekt zu realisieren, benötigt man viel Zeit, mitunter Jahre, Geduld, Leidenschaft und Enthusiasmus. Mein Interesse an der Person Angelika Schrobsdorff war immer vorhanden; sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Und so entstand die Idee für diesen Band – wenn schon keine alten Koffer, dann eben ein Buch! Auf den Spuren der Schrobsdorff wollte ich mit meiner Kamera wandern, ob in Berlin, Pätz, Bulgarien oder anderen Orten der Vergangenheit. Von diesem Moment an lagen ihre Bücher von Du bist nicht so wie andre Mütter, über Die Herren, bis zu Grandhotel Bulgaria oder Die Reise nach Sofia stapelweise an meinem Bett, auf dem Tisch … überall. Warum mich gerade dieses Grandhotel Bulgaria und Die Reise nach Sofia so interessierten, kann ich nicht sagen. Vielleicht war es meine Reise in ihr Exil ab 1939. Als Kind hatte sie Berlin verlassen müssen, war aus einem behüteten Leben in Liebe und Wohlstand herausgerissen und dann in ein Land verfrachtet worden, das jenseits aller Vorstellungen war.
Aber es dauerte wiederum eine ganze Weile, bis ich den Entschluss fasste, sie nochmals aufzusuchen. In Insider-Kreisen war bekannt, dass sie krank geworden sei. Genaues wusste ich nicht. Durch die wunderbare Unterstützung von Suzana Strajnic war es möglich, Angelika Schrobsdorff in ihrer Wohnung noch einmal aufzusuchen. Wir erörterten das Buchprojekt, das sich in meinen Kopf eingefressen hatte. So wurden für mich immer mehr Umrisse der Spuren, die ich verfolgen wollte, klarer. Ab diesem Moment gab es für mich kein Zurück mehr.
Am 11. Oktober 2014, dem Tag meines Geburtstages, lief ich bei schönstem Sonnenschein und noch warmen Temperaturen vergnügt durch Sofia. Die beeindruckende Alexander-Newski-Kathedrale erhellte mein Gemüt mit funkelnden, goldenen Kuppeln. Auf dem Blvd.Tsar Osvoboditel mit seinem gelben Straßenpflaster, an dem das Grandhotel Bulgaria liegt, wurde ich von einer großen Inspirationswelle getragen, als sogar aus dem Saal des Hotels dezente Tanzmusik zu mir herüberschwebte. In der Ul. Oborishte, der Straße, wo sich das Haus befindet, in dem Angelika, Bettina und Mutter Else gewohnt hatten, erwachten die Beschreibungen aus den Büchern der Schrobsdorff zum Leben.
Am nächsten Tag stand das Taxi pünktlich vor dem Sense Hotel Sofia. Dem Fahrer erzählte ich, dass ich nach Buhovo müsste, da ich auf fotografischer Spurensuche der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff sei, die dort im Zweiten Weltkrieg im Exil gelebt habe. Der Name Schrobsdorff war ihm nicht bekannt, aber er wusste, wie er nach Buhovo zu fahren hatte. Der Ort liegt ca. 45 Autominuten westlich von Sofia. Die Fahrt verlief kurzweilig über holprige Straßen, vorbei an Gebäuden, die bessere Zeiten gesehen hatten. Am Horizont war das monströse Stahlwerk »Kremikovtzi« sichtbar, wo zu Zeiten des Kommunismus Tausende von Menschen Arbeit gefunden hatten. Jetzt war es marode und dem Verfall überlassen.
Am Ortseingang von Buhovo stand ein grauer, großer Stein, auf dem mit kyrillischen Buchstaben der Ortsname aufgemalt war. Der Ort sah trostlos aus. Entlang der Hauptstraße standen unzählige verwahrloste Häuser. Satellitenschüsseln an einem großen, farblosen Neubau, der schon längst frische Farbe gebraucht hätte. Auf den Straßen wenige Menschen mit blassen, faden Gesichtern, denen die Fröhlichkeit verloren gegangen zu sein schien. »Das ist also Buhovo«, dachte ich, »hier fand sie ihre Zuflucht; hier fand sie für längere Zeit Unterschlupf vor dem Schrecken des Krieges und der Verfolgung.« Mit ihrer Mutter Else kam sie bei einer armen Bauernfamilie unter. Wie sie immer wieder betonte und auch in ihren Büchern beschrieb, hat sie dort die schönste Zeit ihres Lebens erlebt. Bedrückt nahm ich nun die graue Gegenwart an diesem Ort der Vergangenheit und der Hoffnung wahr.
Mit meinen bulgarischen Fotos flog ich zurück nach Berlin und begann, mich intensiv mit den Spuren in Berlin und Pätz zu beschäftigen. Zwischenzeitlich fing ich an, Angelika Schrobsdorff des Öfteren zu besuchen. Sie war sehr interessiert, einiges von Sofia und Buhovo zu erfahren. Suzana Strajnic erzählte ihr, dass es ein Buch über sie geben wird. »Ein Buch über mich?«, fragte sie immer und immer wieder! Ich zeigte ihr die Bilder aus Sofia, aus dem Grandhotel Bulgaria, das Restaurant mit dem »Saal Desislava«, die obere Galerie mit der Bar, den »Roten Salon«. Auch die Gedächtniskathedrale »Heiliger Alexander Newski« mit den orthodoxen Opferkerzenständern, die Frauen die ihre bulgarischen Handarbeiten und Blumen an der Kathedrale verkauften, sowie Bilder aus Buhovo, Pätz und Berlin.
Das Buchprojekt entwickelte sich auch durch den Zugang zu persönlichen Fotos und Briefen und die freundliche Unterstützung von Angelikas Sohn Peter Schrobsdorff, der bis heute Fragen aus der Vergangenheit seiner Mutter klären kann. Sehr froh und dankbar bin ich, dass ich Beatrix Brockman gewinnen konnte, die im fernen Tennessee in das unruhige Leben der Schriftstellerin eingetaucht ist. Sie charakterisiert, reflektiert die Lebensstationen von Angelika Schrobsdorff von der Kindheit bis ins hohe Alter, zeigt, wie der Kreis sich für die Schriftstellerin schließt – von Berlin/Bulgarien, München/Jerusalem, Paris/Jerusalem, zurück nach Berlin.
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