II. Der cherubinische Wandersmann
(Textauswahl)
Das erste Buch
1. Was fein ist, das besteht
Rein wie das feinste Gold, steif wie ein Felsenstein,
Ganz lauter wie Kristall soll dein Gemüte sein.
2. Die ewige Ruhestätt
Es mag ein andrer sich um sein Begräbnis kränken
Und seinen Madensack15 mit stolzem Bau bedenken,
Ich sorge nicht dafür: Mein Grab, mein Fels und Schrein,
In dem ich ewig ruh, solls Herze Jesu sein.
3. Gott kann allein vergnügen
Weg, weg ihr Serafim, ihr könnt mich nicht erquicken,
Weg, weg, ihr Heiligen und was an euch tut blicken.
Ich will nun eurer nicht, ich werfe mich allein
Ins ungeschaffne Meer der bloßen Gottheit ein.
4. Man muss ganz göttlich sein
Herr, es genügt mir nicht, dass ich dir englisch16 diene
Und in Vollkommenheit der Götter vor dir grüne.
Es ist mir viel zu schlecht und meinem Geist zu klein;
Wer dir recht dienen will, muss mehr als göttlich sein.
5. Man weiß nicht, was man ist
Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß;
Ein Ding und nicht ein Ding, ein Tüpfchen und ein Kreis.
6. Du musst, was Gott ist, sein
Soll ich mein letztes End und ersten Anfang finden,
So muss ich mich in Gott und Gott in mir ergründen.
Und werden das, was er: Ich muss ein Schein im Schein,
Ich muss ein Wort im Wort, ein Gott in Gotte sein.
7. Man muss noch über Gott
Wo ist mein Aufenthalt? Wo ich und du nicht stehen.
Wo ist mein letztes End, in welches ich soll gehen?
Da, wo man keines findt. Wo soll ich denn nun hin?
Ich muss noch über Gott in eine Wüste ziehn.
8. Gott lebt nicht ohne mich
Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu17 kann leben:
Werd ich zunicht, er muss von Not den Geist aufgeben.
9. Ich habs von Gott und Gott von mir
Dass Gott so selig ist und lebet ohn Verlangen,
Hat er sowohl von mir als ich von ihm empfangen.
10. Ich bin wie Gott und Gott wie ich
Ich bin so groß wie Gott, er ist als ich so klein;
Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.
11. Gott ist in mir und ich in ihm
Gott ist in mir das Feur und ich in ihm der Schein;
Sind wir einander nicht ganz inniglich gemein?
12. Man muss sich überschwenken
Mensch, wo du deinen Geist schwingst über Ort und Zeit,
So kannst du jeden Blick sein in der Ewigkeit.
13. Der Mensch ist Ewigkeit
Ich selbst bin Ewigkeit, wenn ich die Zeit verlasse
Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.
14. Ein Christ so reich als Gott
Ich bin so reich als Gott, es kann kein Stäublein sein,
Das ich – Mensch glaube mir – mit ihm nicht hab gemein.
15. Die Über-Gottheit
Was man von Gott gesagt, das gnüget mir noch nicht,
Die Über-Gottheit ist mein Leben und mein Licht.
16. Die Liebe zwingt Gott
Wo Gott mich über Gott nicht sollte wollen bringen,
So will ich ihn dazu mit bloßer Liebe zwingen.
17. Ein Christ ist Gottes Sohn
Ich auch bin Gottes Sohn, ich sitz an seiner Hand:
Sein Geist, sein Fleisch und Blut ist ihm an mir bekannt.
18. Ich tue es Gott gleich
Gott liebt mich über sich, lieb ich ihn über mich,
So geb ich ihm so viel, als er mir gibt aus sich.
19. Das selige Stillschweigen
Wie selig ist der Mensch, der weder will noch weiß,
Der Gott, versteht mich recht, nicht gibet Lob noch Preis.
20. Die Seligkeit steht bei dir
Mensch, deine Seligkeit kannst du dir selber nehmen,
So du dich nur dazu willst schicken und bequemen.
21. Gott löst sich, wie man will
Gott gibet niemand nichts, er stehet allen frei,
Dass er, wo du nur ihn so willst, ganz deine sei.
22. Die Gelassenheit
So viel du Gott gelässt, so viel mag er dir werden,
Nicht minder und nicht mehr hilft er dir aus Beschwerden.
23. Die geistliche Maria
Ich muss Maria sein und Gott aus mir gebären,
Soll er mir ewiglich die Seligkeit gewähren.
24. Du musst nichts sein, nichts wollen
Mensch, wo du noch was bist, was weißt, was liebst, was hast,
So bist du, glaube mir, nicht ledig deiner Last.
25. Gott ergreift man nicht
Gott ist (ja) lauter Nichts, ihn rüht kein Nun noch Hier:
Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir.
26. Der geheime Tod
Tod ist ein selig Ding: Je kräftiger er ist,
Je herrlicher daraus das Leben wird erkiest18.
27. Das Sterben macht Leben
Indem der weise Mann zu tausendmalen stirbet,
Er durch die Wahrheit selbst um tausend Leben wirbet.
28. Der allerseligste Tod
Kein Tod ist seliger als in dem Herren sterben
Und um das ewge Gut mit Leib und Seel verderben.
29. Der ewige Tod
Der Tod, aus welchem nicht ein neues Leben blühet,
Der ist’s, den meine Seel aus allen Toden fliehet.
30. Es ist kein Tod
Ich glaube keinen Tod, sterb ich gleich alle Stunden,
So hab ich jedes Mal ein besser Leben funden.
31. Das immerwährende Sterben
Ich sterb und lebe Gott: Will ich ihm ewig leben,
So muss ich ewig auch für ihn den Geist aufgeben.
32. Gott stirbt und lebt in uns
Ich sterb und leb auch nicht: Gott selber stirbt in mir,
Und was ich leben soll, lebt er auch für und für.
33. Nichts lebet ohne Sterben
Gott selber, wenn er dir will leben, muss er sterben;
Wie, denkst du, ohne Tod sein Leben zu ererben?
34. Der Tod vergottet dich
Wenn du gestorben bist und Gott dein Leben worden,
So trittst du erst recht ein in der hohen Götter Orden.
35. Der Tod ist das beste Ding
Ich sage, weil allein der Tod mich machet frei,
Dass er das beste Ding aus allen Dingen sei.
36. Kein Tod ist ohne ein Leben
Ich sag, es stirbet nichts; nur dass ein ander Leben,
Auch selbst das peinliche, wird durch den Tod gegeben.
37. Die Unruh kommt von dir
Nichts ist, das dich bewegt, du selber bist das Rad,
Das aus sich selber läuft und keine Ruhe hat.
38. Gleichschätzung macht Ruh
Wenn du die Dinge nimmst ohn allen Unterscheid,
So bleibst du still und gleich in Lieb und auch in Leid.
39. Die unvollkommne Gelassenheit
Wer in der Hölle nicht kann ohne Hölle leben,
Der hat sich noch nicht ganz dem Höchsten übergeben.
40. Gott ist das, was er will
Gott ist ein Wunderding: Er ist das, was er will,
Und will das, was er ist, ohn alle Maß und Ziel.
41. Gott weiß sich selbst kein Ende
Gott ist unendlich hoch, Mensch, glaube das behende.
Er selbst findt ewiglich nicht seiner Gottheit Ende.
42. Wie gründet sich Gott?
Gott gründt sich ohne Grund und misst sich ohne Maß;
Bist du ein Geist mit ihm, Mensch, so verstehst du das.
43. Man liebt auch ohne Erkennen
Ich lieb ein einzig Ding und weiß nicht, was es ist,
Und weil ich es nicht weiß, drum hab ich es erkiest19.
44. Das Etwas muss man lassen
Mensch, so du etwas liebst, so liebst du nichts fürwahr,
Gott ist nicht dies und das, drum lass das Etwas gar.
45. Das vermögende Unvermögen
Wer nichts begehrt, nichts hat, nichts weiß, nichts liebt, nichts will,
Der hat, der weiß, begehrt und liebt noch immer viel.
46. Das selige Unding
Ich bin ein seligs Ding, mag ich ein Unding sein,
Das allem, was da ist, nicht kund wird noch gemein.
47. Die Zeit ist Ewigkeit
Die Zeit ist Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit,
So du nur selber nicht machst einen Unterscheid.
48. Gottes Tempel und Altar
Gott opfert sich ihm selbst: Ich bin in jedem Nu
Sein Tempel, sein Altar, sein Betstuhl, so ich ruh.
49. Die Ruh ists höchste Gut
Ruh ist das höchste Gut: Und wäre Gott nicht Ruh,
Ich schlösse vor ihm selbst mein Augen beide zu
50. Der Thron Gottes
Fragst du, mein Christ, wo Gott gesetzt hat seinen Thron?
Da, wo er dich in dir gebieret, seinen Sohn.
51. Die Gleichheit Gottes
Wer unbeweglich bleibt in Freud, in Leid, in Pein,
Der kann nunmehr nicht weit von Gottes Gleichheit20 sein
52. Das geistliche Senfkorn
Ein Senfkorn21 ist mein Geist: Durchscheint ihn seine Sonne,
So wächst er Gotte gleich mit freudenreicher Wonne.
53. Die Tugend sitzt in Ruh
Mensch, wo du Tugend wirkst mit Arbeit und mit Müh,
So hast du sie...