4 Depressionen
Viele Senioren mit Angststörungen leiden auch unter Depressionen. Eine Depression geht häufiger mit einer Selbstmordneigung einher. Weil Angststörungen ein Risiko für die Entwicklung von Depressionen darstellen, müssen diese unbedingt erfasst und behandelt werden.
Depressionen sind Störungen der Gemütslage, die mit Traurigkeit, Freudlosigkeit, Interessenverlust, Energie- und Antriebslosigkeit einhergehen. Depressive Menschen neigen zu negativen Grundüberzeugungen, Pessimismus und gelernter Hilflosigkeit. Im Alter nehmen Depressionen zu. Altersspezifische kritische Lebensereignisse können sie auslösen: Mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben wurde ein Teil der persönlichen Identität aufgegeben, Freunde und Angehörige erkranken und sterben, körperliche Abbauerscheinungen und chronische Erkrankungen nehmen zu, sodass der Bewegungsspielraum und das Kontaktverhalten eingeschränkt werden.
Zustände mit Traurigkeit, Antriebsproblemen und Selbstzweifeln kennt jeder. Halten sie aber länger an als ein bis zwei Wochen und schränken die Person in ihrem Handlungsspielraum spürbar ein, handelt es sich wahrscheinlich um eine depressive Störung, es sei denn, die Symptome folgen auf eine schwere körperliche Erkrankung oder sind eine Nebenwirkung einer Medikamenteneinnahme (z. B. von Beta-Blockern oder Parkinsonmitteln).
Unterschieden wird bei jungen und alten Menschen gleichermaßen zwischen unipolarer und bipolarer Störung: Bei einer bipolaren Störung treten depressive Episoden im Wechsel mit manischen Phasen auf. Manien sind Zustände mit gehobener Stimmung, motorischer Ruhelosigkeit, starker körperlicher und psychischer Aktivität, oftmals verbunden mit Gereiztheit, Größenwahn und Risikofreude. Bipolare Störungen gehören in die Hand eines Psychiaters. Sie müssen medikamentös behandelt werden, denn durch Psychotherapie sind sie kaum beeinflussbar. Aus diesem Grund werden sie hier auch nicht ausführlicher dargestellt.
Bei einer unipolaren Störung kommt es zu depressiven Episoden, für die folgende Symptome kennzeichnend sind:
1. Depressive Stimmung nahezu täglich über den Großteil des Tages, mindestens über zwei Wochen.
2. Verlust an Interessen oder Freude.
3. Verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit.
4. Verlust des Selbstvertrauens oder des Selbstwertgefühls.
5. Unbegründete Selbstvorwürfe oder unangemessene Schuldgefühle.
6. Wiederkehrende Gedanken an den Tod oder an Selbstmordhandlungen.
7. Vermindertes Konzentrationsvermögen, Unentschlossenheit.
8. Psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung (subjektiv oder objektiv).
9. Schlafstörungen.
10. Appetitverlust oder gesteigerter Appetit mit Gewichtsveränderung.
Bezeichnend für depressives Erleben und Schwermut ist auch die Unfähigkeit, gefühlsmäßig auf Ereignisse oder Aktivitäten so zu reagieren, wie das im depressionsfreien Zustand möglich ist. Depressive grübeln viel. Am Morgen kann es zu Früherwachen kommen, oft zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit, gefolgt von einem Morgentief. Häufig kommt es zu einem Libidoverlust. Bei einer schweren depressiven Episode tritt in seltenen Fällen wahnhaftes Erleben auf, bei dem Wahnideen (unwirkliche Vorstellungen) oder Halluzinationen (Sinnestäuschungen) vorkommen. Sie sind aber nicht so bizarr und außergewöhnlich wie bei Schizophrenie.
Je nach Intensität der Symptomatik werden Depressionen in leichte (4 bis 5 der oben aufgeführten Symptome), mittelgradige (6 bis 7 der Symptome) und schwere depressive Episoden (9 bis 10 der Symptome) eingeteilt. Depressive Episoden halten meistens einige Monate an. Kommt es dann nach einigen Jahren erneut zu einer depressiven Episode, spricht man von einer rezidivierenden (in Abständen wiederkehrenden) depressiven Episode (leicht, mittelgradig oder schwer). Bleibt die Depression länger als zwei Jahre bestehen, gilt sie als chronifiziert und wird nun als Dysthymie diagnostiziert. Dysthymie ist eine scheinbar leichte Depression, die aber schwerer zu behandeln ist als eine depressive Episode.
Weil Depressionen ebenso wie Angststörungen oft unerkannt und unbehandelt bleiben, laufen sie Gefahr, zu chronifizieren. Depressionen haben oft eine lange Vorgeschichte, denn überwiegend sind sie schon in jüngeren Jahren aufgetreten, meist aber wieder zum Stillstand gekommen. Verwitwete und alleinlebende alte Menschen trifft es häufiger, am meisten jedoch Hochbetagte, die in Altenheimen leben. Während in mittleren Jahren Frauen deutlich mehr Depressionen entwickeln als Männer, ist der Geschlechtsunterschied im Alter nicht mehr so groß. Auch nehmen schwere Formen von Depression bei älteren Menschen etwas ab, während leichtere Ausprägungen zunehmen. Bei beiden Geschlechtern stellen sich Depressionen öfters als Folge von Angststörungen ein. In Deutschland sind einige Depressionen hochbetagter Personen noch Nachwirkungen vom zweiten Weltkrieg, dies gilt insbesondere für Männer.
Bei 40 bis 60 % der älteren Personen mit Depressionen kommt es bei einer Behandlung oder von ganz allein zu einem dauerhaften Stillstand der Depression. 15 bis 20 % erleben wieder einen Rückfall nach einem vorübergehenden Rückgang der Depression (rezidivierende Depression). Bei 30 bis 40 % der Fälle entsteht eine Dysthymie. 1 bis 5 % der älteren Menschen leiden unter einer schweren Depression.
Bei älteren Personen gehen depressive und körperliche Erkrankungen, vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, häufig Hand in Hand. Infolge des negativen Denkens von Depressiven werden vermehrt Stresshormone freigesetzt (vor allem Cortisol) und ein Alarmzustand länger aufrechterhalten. Vorsichtshalber sollte deshalb das Herzinfarktrisiko bei chronisch Depressiven regelmäßig mit Blutdruckmessung und Blutzuckerchecks überprüft werden. Gegebenenfalls ist eine Infarktprävention erforderlich, denn ältere depressive Menschen haben ein doppelt so hohes Infarktrisiko als nicht depressive Gleichaltrige.
Jüngere Personen machen häufiger Selbstmordversuche, ältere mehr vollendete Selbstmordhandlungen. Die Selbstmordrate verdoppelt sich bei älteren Menschen zwischen 65 und 75 Jahren. Das gilt auch für Frauen: Fast jeder zweite vollendete Selbstmord bei über 60-Jährigen ist mittlerweile der einer Frau. Die Dunkelziffer bei Selbstmord ist hoch; nicht wenige scheiden zudem durch absichtlich herbeigeführte Unfälle, langsames Verhungern, Verdursten oder durch das Verweigern von Medikamenten aus dem Leben. Beweggründe sind oft Einsamkeit nach dem Ableben des Partners, extreme körperliche Schwäche oder das Bekanntwerden einer schweren Erkrankung, wie Krebs oder Demenz. Erst bei den über 90-Jährigen sinkt die Selbstmordrate wieder.
Merke:
Wesentliche Merkmale einer depressiven Episode sind depressive Verstimmung, Freudlosigkeit und verminderter Antrieb über einen Zeitraum von mindestens 14 Tagen und länger. Anders als in jüngeren Jahren tritt im Alter aber auch das Phänomen einer wiederkehrenden (rezidivierenden) kurzen depressiven Störung auf. Diese depressiven Phasen treten häufiger innerhalb von einigen Monaten auf, halten nur 3 bis 4 Tage an und zeigen vergleichbare Symptome wie bei einer depressiven Episode.
Beispiel:
Hanna, 75 Jahre, wurde kürzlich nach einem (ersten) Selbstmordversuch mit Tabletten (Beruhigungsmittel) auf eine gerontopsychiatrische Abteilung eingewiesen. „Mein Mann ist genauso agil wie vor Jahrzehnten und ich kann wegen meiner Atemnot nicht mithalten“, war ihre Begründung. Körperliche Anstrengung, sogar längeres Reden, löst bei ihr Atemnot aus. Indirekt setzt er sie unter Druck mit dem, was er noch alles vorhat: Viele Fernreisen und Unternehmungen vor Ort. Ihre Atemprobleme fingen nach einer Costa-Rica-Reise vor acht Jahren an. Eine organische Grundlage wurde nicht gefunden. Auf einer Nilfahrt vor vier Jahren nahmen sie über Hand: Sie schaffte es kaum, die Ufertreppen vom Schiff hinaufzusteigen. Entkräftung und Atemproblematik hielten an und sie litt unter „fehlender Antriebskraft“, schwindendem Selbstvertrauen und der Angst, die gewohnte Lebensführung nicht mehr zu schaffen. Sie geht nicht einmal mehr gerne spazieren. Ihre Beschwerden sind immer wieder über einige Tage besonders unangenehm.
„Ich empfand es als normal, dass ich gehe und Platz mache“. Dem Selbstmordversuch vorausgegangen war der langsame Krebstod einer Nachbarin: „Das Schicksal anderer Menschen greift mich an“. Sie denkt auch oft daran, wie ihre blinde Mutter jahrelang im Altenheim wohnte und in den letzten drei Jahren ihres Lebens schweigen musste, weil sie nichts mehr hörte, denn sie konnte ihr Hörgerät nicht bedienen. Erst mit 94 Jahren wurde sie „erlöst“.
Hanna hat eine Dysthymie und verschiedene phobische Ängste (Höhen, Fliegen, Wasser). Sie hat im Vergleich zu früher an Vitalität verloren und ist weniger leistungsstark, obwohl sie körperlich weitgehend gesund ist. Sie hat einen vermeidenden Bewältigungsstil entwickelt und weicht unangenehmen Dingen aus, gegenwärtig vor allem körperlicher Anstrengung. Über ihre Kriegserlebnisse möchte sie nicht sprechen: Als sie 10 Jahre alt war, verlor die Familie ihre Wohnung im Bombenhagel: „Das ist für mich abgeschlossen; ich habe es zugeschüttet“. Während sie das sagt, wird die Atmung wieder...