EINFÜHRUNG
Für wie selbstsüchtig man den Menschen auch halten mag, es gibt nachweislich einige Grundlagen seines Wesens, die dazu führen, dass er sich für das Schicksal anderer interessiert, obwohl er nichts davon hat außer dem Vergnügen, es zu sehen.1
Adam Smith
Das Schweigen der Mäuse
Wie dieses Buch entstand und was es sagen will
Die erste Ohrfeige, die ich erhielt, hat einen tiefen Eindruck hinterlassen. Denn sie kam tatsächlich aus heiterem Himmel und schlug in eine ebenso heitere Umgebung ein. Ich war etwa sechs Jahre alt und muss irgendwie schon sehr selbstständig gewesen sein. Jedenfalls aber noch vollkommen ungeplagt von Skrupeln des Gehorsams. Der Hauptschauplatz meiner kindlichen Abenteuer war ein großer Garten, der unserem Haus angeschlossen war und den mein Großvater hingebungsvoll pflegte. Ich selbst tummelte mich bevorzugt in den Hecken und Baumkronen, die Amseln und Meisen waren meine dicken Freunde und die kleinen Asphaltwege waren meine Rennbahnen, auf denen ich stundenlang den Niki Lauda in mir herausbrummte, auf einem Dreirad sitzend.
Dieser Art lustvoll dürfte das Leben auch gewesen sein, als ich meinen Großvater an einem Sommertag eifrig Gartenschläuche in die Erde stecken sah. Als ich ihn fragte, was er denn da tue, murmelte er bloß, die Wühlmäuse müssten weg. Tatsächlich gab es einige davon im Garten. Ich wusste aber nicht, was er mit »müssen weg« meinte, bis er das Wasser in die Mauslöcher leitete. In meiner Sandkiste hatte ich ein altes Serviertablett liegen, das eigentlich als Parkplatz für Spielzeugautos diente. An diesem Tag aber wurden die Fahrzeugminiaturen achtlos in den Sand gekippt. Mit dem Tablett bewaffnet, streifte ich über die Wiese und sammelte, bald hier, bald da, die kleinen Mäuse ein, die vor dem Wasser an die Erdoberfläche geflohen waren. Die Mäuse wurden auf das Tablett gesetzt. Ein alter Kartondeckel hinderte sie am Entkommen. Dann schlich ich mich damit an Großvater vorbei in Richtung Haus. Das Manöver gelang, ich stieß mit meinem Schatz bis in die Küche vor, wo eine meiner Tanten mit einem Ribiselkuchen beschäftigt war. Ich glaubte mich und meine Mäuse in Sicherheit und war stolz auf mein Werk: »Schau mal!« Da gab es einen spitzen Schrei, meine Tante stand plötzlich auf einem Schemel und gestikulierte aufgebracht mit einem Tortenheber. Ich sah meine Mäuse an, der nächste Blick fiel auf meinen Großvater, der zur Tür hereinstürzte, dann hob er seine Hand und ich spürte ein brennendes Stechen hinter dem rechten Ohr.
Die Mäuse konnte ich retten, weil mein Großvater über seine Tat wohl ebenso bestürzt war wie ich selbst, und wir beide in Schockstarre verfielen. Ich fing mich schneller und rannte, das Tablett umklammernd, in den Garten, wo ich die Mäuse freiließ und mich versteckte, bis mich die Erwachsenen mit Süßigkeiten hervorlockten und sich unter Umarmungen entschuldigten.
Ich erzähle diese Geschichte, weil ich vor ein paar Monaten unfreiwillig an die Szene erinnert wurde. Ich bin nun Besitzer eines Bauernhofs mit Garten – und Wühlmäusen. Sie sind eine echte Plage, und um mir das Leben zu erleichtern, mir dabei aber nicht selbst die Hände schmutzig zu machen, rief ich einen Entwesungsdienst. Der tut genau das – »Ent-Wesen«. Und während ich also mit dem Schädlingsbekämpfer telefonierte und das Drama meiner Wiese schilderte und die Tötung der Nager bestellen wollte, da – man glaubt es kaum – stach es mich hinter dem rechten Ohr.
Das ist mein kleines »Schweigen-der-Lämmer-Erlebnis«. Ich habe übrigens daraufhin das mit den Wühlmäusen sein lassen. Sie treiben also noch immer ihr Wesen in meiner Wiese. Aber mich haben die Erinnerungen zur Frage getrieben, was mit mir zwischen dem Alter von sechs und dem Alter von 50 Jahren geschehen ist? Dass ich nämlich Tiere, die ich mit sechs Jahren geliebt habe, nun hasse. Was hat also ihren Wert umgedreht, sie von schön in schädlich verwandelt oder ökonomisch verkürzt ihren Grenznutzen von eins auf minus eins gewendet? Irgendetwas ist passiert und ich glaube, dass es mit dem zu tun hat, was wir Erziehung, Erfahrung und Kultur nennen und welch geringen Stellenwert das Lebendige in der Natur darin hat.
Wertungen statt Werte
Es geht in diesem Buch um den Prozess dieser Herabstufung. Um das Fließen von Überzeugungen und Einstellungen, die unerklärt bleiben und unsere Existenz gleichsam mit einer hauchdünnen Schicht umhüllen, die sich langsam verfestigt, und über die immer weitere Schichten aufgetragen werden, bis wir am Ende, nach Jahren und Jahrzehnten, ganz anders denken und handeln als zu Beginn. Dieses Buch möchte diese Schichten aufbrechen oder zumindest ankratzen – zum Beweis, dass darunter noch etwas existiert. Ich möchte zeigen, dass die an Gefahren reichste Macht im Leben nicht das Böse, das Unglück, die Krise ist, sondern die Macht der Gewohnheit. Sie gibt vor, uns zu helfen, indem sie durch Wiederholung zur Routine führt und so zur Bewältigung des Alltags beizutragen verspricht.
Der Wert der Objekte beruht also nicht so sehr auf Fakten und Materie, sondern zunehmend auf subjektiven Einschätzungen.
Gewohnheit führt aber auch dazu, Empfindungen und Gefühle einzuebnen. Das funktioniert durch ein unbewusst operierendes System der Ab- und Aufwertung. So wie man in der Ökonomie durch Auf- und Abwertung die Verhältnisse von Geldeinheiten zueinander ändert, so ändert der Mensch auch ständig sein Verhältnis zu den Dingen. Wir geben Objekten unbewusst beständig Wert und Preis. Die Gewohnheit macht uns die Dinge aber zumeist gewöhnlich, sie nimmt ihnen den Wert. Denken wir uns jemanden, der sich das Auto seiner Träume kauft. Er wird es lieben und pflegen, es behutsam fahren und gerne ansehen. Aber nach wenigen Wochen wird es beim täglichen Gebrauch nicht mehr das gleiche Gefühl auslösen und nach einer gewissen Zeit gar keines mehr. Es ist dieser Prozess der »Beziehungs-Abkühlung«, der letztlich in der Löschung des Objekts gipfelt. Er hat mit dem eigentlichen Nutzen des Objekts wenig zu tun – viele Dinge, die wieder verkauft oder weggeworfen werden, haben ihren Nutzen per se nicht verloren. Sie haben aber ihren »Beziehungs-Wert« eingebüßt. In diesem Sinn wird die moderne Gesellschaft nicht vom Nutzen der Dinge gesteuert, wie Ökonomen nicht müde werden zu behaupten. Sie ist vielmehr »Wertungs-fixiert«. Sie nutzt und verkauft die Dinge auf Basis ihres Stellenwerts. Der Wert der Objekte beruht also nicht so sehr auf Fakten und Materie, sondern zunehmend auf subjektiven Einschätzungen. Und so sehr sich der alte, realwirtschaftliche Materialismus auch mit seiner »Preis-Wert-Theorie« und seinen realwirtschaftlichen Simulationen zur Wehr setzen mag, er ist der Macht der subjektiven Schätzung unterlegen und als ihr »Sub-jekt« unterworfen. Es handelt sich um einen ähnlichen Prozess, wie er sich schon beim Geld in den 1970er-Jahren vollzogen hat: Bis 1972 galt die Bindung nationaler Währungen an den Dollar und des Dollars an Goldreserven. Jeder Dollar hatte damals seine Entsprechung in Edelmetall. Seit das Finanzsystem aus diesem Sicherheitskorsett entlassen wurde, hat sich sein Volumen verhundertfacht. Und so wie dies in der Geldwirtschaft passierte, geschieht es nun auch in der Konsum-Architektur unserer Gesellschaft. Der »Hebel« des wirklichen Nutzens hat keine Kraft verglichen mit jenem der virtuellen Virtuosin – der Fantasie.
Wunsch-Beziehungen
Während das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem seinen Kunden immer neue Möglichkeiten suggeriert, sich an immer neue Waren zu binden, drängt es die negativen Konsequenzen bis an die Peripherie der Wahrnehmung.
Dieser Wechsel der Paradigmen hat schwerwiegende Folgen. Denn die Materie, die den Wünschen gehorchen soll, steht unter ständigem Transformationsdruck. Sie muss sich permanent, der Fantasie der Kunden entsprechend, neu zusammensetzen. Ihre Funktion ist daher großteils dem Design untergeordnet und ihre Lebensdauer gekoppelt an Lust und Unlust, Appetit und Übersättigung der Käuferschaft. William James’ Erkenntnis, der Mensch lebe durch die Gewohnheit, aber für seine Aufregungen und Sensationen, erhält eine erstaunlich aktuelle Schärfe. Die Signaturen dieser Lebensart sind die immer kürzer werdende Generationenabfolge von Smartphones und die wachsenden Müllhalden für Elektroschrott und Plastikabfall. Während das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem seinen Kunden immer neue Möglichkeiten suggeriert, sich an immer neue Waren zu binden, drängt es die negativen Konsequenzen bis an die Peripherie der Wahrnehmung. Es fehlt auch die Zeit, Beziehungen aufzubauen, etwa durch das Sparen »auf etwas hin«. Die Diagnose, die sich daraus ergibt: Diese Gesellschaft leidet unter einer massiven Störung der Objektbeziehung. Diese Beziehungsstörung, die viele Erscheinungsformen des Narzissmus beinhaltet, betrifft unser Verhältnis zu Gegenständen, Pflanzen, Tieren und natürlich auch zu anderen Menschen. Um diese verlorene Beziehungsfähigkeit geht es im ersten Teil des Buches. Denn aus diesem gestörten Verhältnis zur Welt entspringen letztlich unsere großen Probleme: das Schema blinden Wachstums, die Ausbeutung von Ressourcen, die Reichtums-Disparität, die Zerstörung von Lebensräumen und das Massensterben der Arten. War das alles von der Politik oder der Ökonomie so geplant? Von den neoliberalen Kräften oder der Verschwörung von Großinvestoren und Hedgefonds? Vermutlich nicht. Der Narzissmus erkennt sich selbst nicht. Er ist einsam in sich vertieft. Gerade jene, die als große Ökonomen gepriesen...