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E-Book

Anne Lister

Eine erotische Biographie

AutorAngela Steidele
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl327 Seiten
ISBN9783957574992
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Wäre sie ein Mann gewesen, müsste man sie Frauenheld nennen, Schwerenöter oder Heiratsschwindler, Lüstling, Wüstling oder einfach nur Schuft: Frauen pflasterten ihren Weg. Anne Lister (1791-1840) betete sie an, begehrte, belog und betrog sie, ging ihnen an die Wäsche und ans Geld. Noch unerhörter als ihr Liebesleben sind ihre Tagebücher: In pornografischer Deutlichkeit schildert die englische Landadlige ihre zahllosen Abenteuer, mal liebeskrank, mal zynisch, so fesselnd wie obszön, so verstörend wie amüsant. Anhand dieser einmaligen Quellen zeichnet Angela Steidele erstmalig das faszinierende Porträt einer schillernden Persönlichkeit, die allen Vorstellungen vom keuschen präviktorianischen Zeitalter widerspricht. Staunenswert, kurios, entwaffnend und hocherotisch.

Angela Steidele, 1968 geboren in Bruchsal, erforscht und erzählt historische Liebesgeschichten. Sie veröffentlichte u. a. In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel, 2004, sowie Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens, 2010. Für ihr literarisches Debüt Rosenstengel erhielt sie 2015 den Bayerischen Buchpreis. Ihre Trilogie zu biographischem Schreiben schließt Angela Steidele nach Anne Lister. Eine erotische Biografie, 2017, und Zeitreisen. Vier Frauen. Zwei Jahrhunderte. Ein Weg mit der Poetik der Biographie ab. Angela Steidele lebt in Köln.

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Leseprobe

Nach den gemeinsamen Sommerferien kehrte nur Eliza nach York in die Manor School zurück. Anne Lister soll der Schule verwiesen worden sein, was allerdings nicht belegt ist. Oder konnte sich Tante Anne das Schuldgeld für ihre Nichte nicht mehr leisten? Bis zum Wiedersehen verabredeten die Mädchen, einander regelmäßig zu schreiben. Um sicherzugehen, dass jeder Brief auch ankam und nicht in fremde Hände fiel, protokollierte Anne ihre Korrespondenz. Diese Liste ist der Beginn ihres Tagebuchs.

Am Montag, den 11. August reiste Eliza ab. Am Mittwochmorgen bekam ich einen Brief von ihr via Mr Ratcliffe vom 13. d. M.

Ich schrieb ihr am Donnerstag, den 14. via Mr. Lund.

Schrieb ihr abermals am Sonntag, den 17., am darauffolgenden Montag in Leeds auf die Post gegeben – an eben dem Abend des 18. bekam ich ein Päckchen von ihr – mit Noten, einem Brief & Lavendel.23

Ohne Eliza tröstete sich Anne mit ihrem Lieblingsbruder Samuel über die täglichen Unannehmlichkeiten, die unsere unglückliche Familie auf ewig heimsuchen.24 Am liebsten maß Anne sich mit dem zwei Jahre jüngeren Sam in »männlichen« Künsten: Schach, Fechten mit Holzschwertern oder Übersetzungen aus dem Lateinischen. Sie gewann immer. Doch schließlich kehrten auch der dreizehnjährige Samuel und der elfjährige John in ihr Internat in Bradford zurück. Da einer von ihnen eines Tages Shibden Hall erben würde, ließ Onkel James sie gut ausbilden und bezahlte ihr Schulgeld.

Da Anne als Mädchen eine formale Bildung versagt war, belegte sie im Herbst 1806 in Halifax bei dem Theologen Samuel Knight Tutorien in Algebra, Rhetorik und alten Sprachen – allesamt Fächer, die einem angehenden Gentleman gut anstanden, nicht jedoch einem jungen Mädchen. Während Anne das griechische Alphabet übte, schrieb sie auf der Liste mit den Briefen von und an Eliza die Daten und Zeitangaben gelegentlich in griechischen Buchstaben, also etwa »Συνδαι Νοον« für »Sunday Noon«, »Sonntag Mittag«.25 Im Oktober schrieb sie eine erste Notiz auf Englisch in griechischen Buchstaben: über ihre Korrespondenz mit Eliza, ihre Studien bei Mr Knight und ihre Menstruation.

Anne lernte mit dem Neuen Testament Griechisch, doch schon 1807 beschäftigte sie sich mit Demosthenes und noch ein Jahr später mit Homer, Xenophon und Sophokles; außerdem las sie die lateinischen Oden von Horaz. Das Studium der klassischen Antike reizte sie nicht nur, weil sie zum Bildungsprogramm junger Männer gehörte; Anne merkte bald, dass die antike Literatur Erotik und Begehren in allen seinen Erscheinungen verherrlichte (und verlachte), ohne christliche Moral. Da zeitgenössische Übersetzungen Obszönes zensierten, blieb Anne gar nichts anderes übrig, als sich die antike Dichtung im Original anzueignen. Während ihrer Lektüren erstellte sie eine Liste26 mit Worterklärungen zu Klitoris, Päderasten, Eunuchen, Hermaphroditen und Tribaden. In Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1695–1697, englisch 1738) stieß sie auf den Lexikoneintrag von Sappho; man muß wissen, daß sich ihre verliebte Leidenschaft, auch auf das Frauenzimmer erstrecket hat. Laut Lukian seien die Frauen auf der Insel Lesbos … dieser Leidenschaft sehr unterworfen gewesen und Sappho sei für eine berühmte Unzüchtige, mit ihrem eigenen Geschlechte gehalten worden.27 Anne fand Bayles umfangreichen Artikel äußerst interessant28 und ging systematisch seinen Literaturhinweisen bei Horaz, Juvenal und Martial nach.

Von Letzterem stammen zwei berüchtigte Epigramme über Frauen begehrende Frauen, etwa über eine gewisse Bassa, die in der Öffentlichkeit keusch und unnahbar tue, heimlich aber Frauen ficke; ein anderes Verb würde dem Original nicht gerecht, in dem Bassa andere Frauen mit ihrer prodigiosa Venus29 penetriert, also ihrer ungeheuerlichen Klitoris. Anne verstand darunter einen Dildo, den sie ebenfalls in antiken Schriften kennengelernt hatte.30 Ein zweites Epigramm Martials handelt von einer Philaenis,

wilder noch in ihrer Geilheit als ein Ehemann,

besorgt sie’s elf Mädchen an einem Tag.

Auch mit dem Fangball spielt sie aufgeschürzt,

wird staubig-gelb vom Sand und schwingt mit leichtem Arm

Hanteln herum, die schwer für Muskelprotze sind,

und, dreckbeschmiert vom staubigen Ringplatz,

läßt sie sich von ihrem öltriefenden Trainer durchwalken;

sie diniert nicht, liegt nicht zu Tische, bevor sie

sieben Becher puren Wein wieder ausgekotzt hat;

denen glaubt sie sich dann wieder zuwenden zu dürfen,

wenn sie sechzehn Lendenstücke vertilgt hat.

Wenn sie nach all dem die Lust packt,

leckt sie nicht – das wär’ ihr nicht männlich genug –

sondern frißt völlig in der Mitte auf – die Mädchen.

Mögen die Götter dir deinen Teil an Verstand geben, Philaenis,

wenn du meinst, die Möse zu lecken sei männlich.31

Nirgendwo sonst bekam ein anständiges englisches Mädchen im frühen 19. Jahrhundert so etwas zu lesen. Von der impliziten Frauenfeindlichkeit der Antike ließ sich Anne Lister dabei nicht irritieren. Für sie beglaubigten »Bassa« und »Philaenis« die Existenz von Frauen, die Frauen begehren, und bestätigten somit ihre eigenen Gefühle. Tatsächlich verstand sie Martials erotische Dichtung genau so, wie sie verstanden werden will: Sie las die Bücher »mit einer Hand«, um es mit Rousseau zu sagen: An den Rand mehrerer Tagebucheinträge, die von ihren klassischen Lektüren handeln, machte sie ein »X« für Selbstbefriedigung.32 Ein Kreuz auf mich geladen (»incurred a cross«),33 nannte sie das selbst.

Solcherart euphorisiert forderte Anne Eliza auf, ebenfalls Latein und Griechisch zu lernen. Sie knittelte ihr ein holprig lustiges Gedicht zusammen (Heil dir! Du lieblich reizend Schöne) und sang als dezidiert männlicher Dichter Eliza ein amazonenhaftes Loblied: Wie die männerlosen Kriegerinnen der Antike solle auch Eliza Nadel und Spinnrocken fallen lassen, außerdem

Puddings und Tortenschlachten,

ja den heißgeliebten Käsekuchen samt Quark verachten und stattdessen Grammatik und Vokabeln büffeln, um sich bei Anakreon, Vergil und Horaz erotisch weiterzubilden: Mit solchen Kenntnissen wirst du dir Geliebte gewinnen.34

Eliza hatte andere Sorgen. Ihre Schwester Jane glaubte, in einem gewissen Henry Boulton den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Er war schon in Kalkutta gewesen, schwärmte wie Jane für Indien und wollte bald wieder dahin auf brechen. Boulton war der vierte Sohn seines Vaters, konnte daher wie Jeremy Lister auf kein Erbe hoffen und musste sein Glück beim Militär suchen. Trotz der eindringlichen Warnungen ihres Ziehvaters William Duffin heiratete Jane Henry Boulton im Mai 1808 und segelte mit ihm nach Indien. Gegenüber Anne ließ Eliza ihrem Zorn über die Schlechtigkeit der Männer freien Lauf. Anne antwortete mit einer Anekdote von Mme Théroigne de Méricourt; die »Amazone der Französischen Revolution« hatte für die Bewaffnung von Frauen gekämpft und selbst Gebrauch davon gemacht. Sie war ein verschworenes Mädchen, das eine der ausgezeichnetsten Frauen Frankreichs gewesen wäre, hätte sie die sanftere Anmut und gewinnenden Reize, die ihr gänzlich eigen waren, nicht vollständig verachtet. Als nämlich ein junger Mann, ihr in Liebe zugetan, sie um ihre Hand bat, hielt sie ihm eine Pistole vor die Brust und drohte abzudrücken, sollte er je wieder darauf zurückkommen.35

In diesem Jahr kam Eliza Ende Juli nach Halifax und half den Listers beim Umzug. Die Familie konnte sich das bisherige Haus nicht länger leisten und musste in ein kleineres am nördlichen Stadtrand ziehen. Samuel verlachte das winzige Zimmer seiner Schwester Anne dort als Hundehütte.36 Eliza zog mit in die enge Kammer, in der die beiden Siebzehnjährigen sehr glücklich wurden, und zwar zu allen Stunden des Tages: felix um 8 Uhr oder Felix am Nachmittag,37 notierte Anne. Inspiriert von ihrem Studium der klassischen Sprachen erfand sie eine erste Chiffre.

Anne musste davon ausgehen, dass die losen Blätter, die sie beschrieb, Neugierde weckten. Selbst in einer abschließbaren Schublade wären sie vor den anderen nicht sicher gewesen. Wollte sie...

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