Im März 2000 formulierten die Regierungschefs der Europäischen Union auf dem Gipfel in Lissabon ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt. Das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. In diesem Zusammenhang wurde dazu aufgerufen, die Liberalisierung in den Bereichen Gas, Strom, Postdiensten und Beförderung zu beschleunigen. Angestrebt wurde die Verwirklichung eines voll funktionsfähigen EU-Binnenmarktes.[1]
Der Elektrizitätsmarkt gehört zu den Netzindustrien. Diese Industrien zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Produkte auf Netzinfrastrukturen beruhen. Netzindustrien erfordern meist einen hohen Einsatz von Kapital, der zum Aufbau des Netzes nötig ist. Dieses Kapital wird in der Form versunkener Kosten („Sunk costs“) gebunden und führt dazu, dass die Konsumenten nach Aufbau des Netzes über einen Verhandlungsvorteil verfügen.[2] In solchen Infrastrukturen, wie etwa dem Stromnetz, bestehen monopolistische Engpässe (auch „Bottlenecks“ genannt), wenn es einerseits nicht möglich ist, parallele Infrastrukturen aufzubauen bzw. dies mit zu hohen Kosten verbunden wäre, und andererseits jedes Unternehmen, welches in der Branche tätig sein möchte, auf die Nutzung der Engpass-Struktur angewiesen ist. Man spricht in diesem Fall von einer „Essential facility“.[3] Der Zugang Dritter zum monopolistischen Bottleneck wird in der Regulierungstheorie als „Third Party Access“ (TPA) bezeichnet. Bei Stromhändlern, die Zugang zu den Übertragungs- und Verteilungsnetzen brauchen, liegt dieser Fall vor. Stromerzeugung und -lieferung hingegen werden in der Regel als wettbewerbsfähige Bereiche angesehen.[4] Monopolistische Bottlenecks rufen einen Regulierungsbedarf hervor, der zum Ziel hat, den Wettbewerb auf den vor- bzw. nachgelagerten Märkten zu ermöglichen.[5] Dafür müssen einerseits Unternehmen auf diesen Märkten diskriminierungsfreien Zugang zur Infrastruktur bekommen, und andererseits die Zugangsgebühren reguliert werden, um Monopolpreise und allokative Ineffizienz zu vermeiden.[6]
In Deutschland begann der Prozess der Liberalisierung des Strommarktes mit dem 1998 erlassenen Energiewirtschaftsgesetz. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern entschied sich Deutschland damals, keine Regulierungsbehörde für den Elektrizitätsmarkt einzurichten. Die deutsche Regierung vertraute darauf, dass die Marktkräfte in der Lage seien, sich selbst zu regulieren. Eine Kontrolle der Netzzugangsbedingungen fand z.B. nur in vermeintlichen Missbrauchsfällen ex post auf Grundlage des geltenden Kartellrechts statt.[7] Erst seit dem Jahr 2006 gibt es mit der Bundesnetzagentur (ehemals Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post) eine nationale Regulierungsbehörde, welche die Aufsicht über die Energiewirtschaft übernommen hat.
Aus juristischer Sicht ist der Strommarkt in Deutschland vollständig geöffnet. So können sowohl Industrie- als auch Haushaltskunden ihren Stromanbieter frei wählen. Die praktische Umsetzung dieser Liberalisierung hat sich jedoch als schwierig erwiesen. Unternehmen, die zur Stromlieferung die bestehenden Netze nutzen, zahlen Netznutzungsentgelte an die Netzbetreiber. Diese Netznutzungsentgelte stellen mehr als ein Drittel des Endstrompreises dar.[8] Häufig sind die Netzbetreiber ehemalige Monopolisten, marktmächtige Altunternehmen (sogenannte „Incumbents“). Die Ermittlung der Höhe der Netznutzungsentgelte erfolgte bisher ausschließlich auf Basis der Kosten des Netzbetriebs. Eine Kontrolle der Angemessenheit der ausgewiesenen Kosten ist jedoch schwierig, da die Netzbetreiber häufig vertikal integrierte Unternehmen sind, die nicht nur in der Stromübertragung und -verteilung, sondern auch selbst in der Stromerzeugung und Lieferung an die Endverbraucher aktiv sind. In der Vergangenheit existierte oft keine getrennte Buchhaltung für diese verschiedenen Bereiche. Ein noch schwerwiegenderer Nachteil dieser rein kostenbasierten Entgeltermittlung sind fehlende Anreize für Produktivitätssteigerungen.[9] Aufgrund der Erstattung aller Kosten des Netzbetriebs durch die Netznutzungsentgelte ergeben sich für die Netzbetreiber keine Vorteile aus Kostenreduktionen, wie sie z.B. durch eine höhere Effizienz erzielt werden können. Im Gegenteil, der Netzbetreiber hat Anreize zuviel zu investieren und eine von der Minimalkostenkombination abweichende Kostenstruktur zu wählen (sogenannter Averch-Johnson-Effekt).[10] Das Konzept der Anreizregulierung versucht, diese Missstände zu beheben. Die Netzbetreiber sollen so reguliert werden, dass sie, in größtmöglicher Analogie zum vollkommenen Wettbewerb, Anreize zu möglichst großer Effizienz und geringen Kosten haben und die Gewinne aus diesen Effizienzsteigerungen außerdem, zumindest teilweise, an die Endkunden weitergereicht werden. Während in einzelnen Ländern der Europäischen Union die Anreizregulierung bereits seit langem genutzt wird (der Strommarkt in Großbritannien unterliegt beispielsweise seit 1990 einer Anreizregulierung), könnte ihre Einführung auf dem Elektrizitätsmarkt in Deutschland frühestens im Jahr 2008 beginnen.
Diese Arbeit stellt, nach einem kurzen historischen Abriss der Liberalisierung des deutschen Strommarktes und einer Darstellung der Charakteristika des deutschen Strommarktes, die verschiedenen Konzepte der Anreizregulierung, ihre Anwendung auf den Strommarkt und die mit ihnen verbundenen Anreizstrukturen vor. Davon ausgehend wird das Konzept der Bundesnetzagentur für die Einführung einer Anreizregulierung auf dem deutschen Elektrizitätsmarkt dargestellt und analysiert.[11] Es wird auf die Reaktionen der Wissenschaft und der verschiedenen Marktakteure auf dieses Konzept eingegangen und abschließend eine Bewertung vor dem Hintergrund der europaweit geforderten Liberalisierungsbeschleunigung und Errichtung eines EU-Binnenmarktes vorgenommen.
Die Versorgung mit elektrischer Energie ist eine Branche, die traditionell zahlreichen staatlichen Interventionen unterworfen ist. Dies wird häufig dadurch begründet, dass der sicheren Energieversorgung eine so große Bedeutung zugeschrieben wird, dass sie nicht den „Marktrisiken des freien Wettbewerbs“ unterworfen werden soll.[12] Außerdem werden staatliche Eingriffe in den Energiesektor durch Besonderheiten der leitungsgebundenen Energieversorgung (natürliche Monopole) und durch externe Effekte erklärt.[13] In Deutschland galt bis 1998 das „Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft“, welches aus dem Jahre 1935 stammte.
Während in früheren Jahren die Energieversorgungssicherheit oberste Priorität hatte, führte die zunehmende Globalisierung der Produktmärkte bis in die 80er Jahre dazu, dass zunehmend Effizienzüberlegungen im Mittelpunkt standen.[14] Im Februar 1997 trat die EU-Binnenmarktrichtlinie für Elektrizität 96/92/EG in Kraft und war bis zum 19. Februar 1999 in nationales Recht umzusetzen.[15] Ihr Ziel war die Errichtung von wettbewerbsorientierten Elektrizitätsmärkten in den einzelnen Mitgliedsstaaten und die Schaffung eines EU-Binnenmarktes für Elektrizität, wobei sie sich primär auf den Wettbewerb auf Erzeugungsebene konzentrierte.[16] Diese Richtlinie gab in Deutschland den Anstoß für die formalrechtliche Öffnung des Strommarktes. Im April 1998 trat das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) in Kraft, welches Energieversorgungsunternehmen verpflichtete, anderen Unternehmen einen diskriminierungsfreien Netzzugang zu gewährleisten.[17] Eine Entflechtung der vertikal integrierten Stromunternehmen („Unbundling“) wurde 1998 im EnWG nicht verlangt, nur eine getrennt ausgewiesene Buchhaltung für die verschiedenen Bereiche der Produktionskette (Stromerzeugung, -übertragung, -verteilung und -lieferung).[18] Obwohl die EU-Richtlinie eine schrittweise Öffnung des Strommarktes zuließ, entschied sich die deutsche Regierung für eine sofortige und vollständige Liberalisierung. Wie bereits erwähnt, wurde jedoch keine nationale Regulierungsbehörde eingerichtet, sondern auf die Selbstregulierung der Marktkräfte und eine bloße ex post Missbrauchskontrolle vertraut (verhandelter Netzzugang). Deutschland war das einzige EU-Mitgliedsland, welches diesen Ansatz wählte.
Die Bedingungen für den Netzzugang wurden von den Marktakteuren in mehreren sogenannten Verbändevereinbarungen festgeschrieben.[19] Obwohl diese Vereinbarungen keine rechtliche Verbindlichkeit besitzen, waren sie für die Bedingungen der Netznutzung und die Höhe der Netznutzungsentgelte von erheblicher Bedeutung.[20] Die erste Verbändevereinbarung aus dem Jahre 1998 beruhte auf einem transaktionsbezogenen Netznutzungskonzept, d.h. dass Unternehmen, welche das Stromnetz nutzen wollten, ihre Einspeisungen und Entnahmen im Voraus detailliert angeben mussten. Das Durchleitungsentgelt wurde als entfernungsabhängiges Entgelt festgelegt, welches auf einem fiktiven Strompfad ohne jeglichen Bezug zum tatsächlichen physikalischen Leitungsweg beruhte. Die Vereinbarung...