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Anständig geblieben

Nationalsozialistische Moral

AutorRaphael Gross
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783104008479
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Ehre, Treue, Schande und Kameradschaft: Raphael Gross stellt in diesem Buch erstmals eine moralhistorische Perspektive auf die NS-Geschichte vor. Er zeigt, dass erst ein System von gegenseitig eingeforderten moralischen Gefühlen und Tugenden die Begeisterung der deutschen Bevölkerung für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ermöglicht hat. Politische Reden, Schulbücher und ebenso der scheinbar apolitische Unterhaltungsbetrieb waren von dieser Moral geprägt. Raphael Gross zeigt in seiner wegweisenden Darstellung, dass diese von vielen getragene, verbrecherische NS-Moral nach der militärischen Niederlage 1945 nicht plötzlich verschwunden ist.

Prof. Dr. Raphael Gross ist seit 2017 Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum in Berlin. Davor leitete er als Direktor das Leo Baeck Institute in London (2001-2015), das Jüdische Museum in Frankfurt am Main (2006-2015), das Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main (2007-2015) sowie das Simon-Dubnow-Institut für jüdische Kultur und Geschichte in Leipzig, wo er gleichzeitig den Lehrstuhl für jüdische Geschichte an der Universität Leipzig innehatte (2015-2017).

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Leseprobe

Kapitel 1 Schuld und Schande: Jud Süß


Veit Harlans Jud Süß gehört neben Die Rothschilds und Der ewige Jude zu den bekanntesten antisemitischen NS-Propagandafilmen.[22] Barbara Gerber bezeichnet ihn in ihrer umfangreichen Studie über die historische Figur Jud Süß als »das Werk regimehöriger Geschichtsfälscher, die, nicht ohne technische Raffinesse, ein lukratives Geschäft mit der Rassenhetze betrieben«.[23] Der von Goebbels geförderte Film wurde anlässlich der deutsch-italienischen Filmwoche in Venedig am 5. September 1940 uraufgeführt – die Premiere war nach den Berichten der deutschen Korrespondenten ein »gewaltiger Erfolg«.[24] Harlan hatte die Hauptrolle des Jud Süß mit Ferdinand Marian überaus populär besetzt. Allein zwischen 1940 und 1943, so die NS-Statistiken, sahen 20,3 Millionen Menschen den Film.[25] Nicht weniger bedeutsam war sein Einsatz jenseits der Reichsgrenzen, über den Joseph Wulf in seinem Dokumentationsband Theater und Film im Dritten Reich berichtet: »Den Aussagen von vielen Überlebenden in den Ostgebieten zufolge wurde der Film Jud Süß, wie auch der Herausgeber selbst feststellen konnte, im Osten immer dann, wenn eine ›Aussiedlung‹ oder Liquidation im Ghetto bevorstand, der ›arischen‹ Bevölkerung gezeigt. Wahrscheinlich erachtete man es für ein gutes Mittel, jeder Hilfe seitens der nichtjüdischen Bevölkerung vorzubeugen.«[26]

Harlans antisemitisches Pamphlet hatte ein juristisches Nachspiel: Als einziger Regisseur des Nazifilms musste er sich nach 1945 mehrfach vor deutschen Gerichten verantworten.[27] Zweimal, 1949 und 1950, wurde er angeklagt, mit seinem Film an »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« beteiligt gewesen zu sein – und beide Male freigesprochen. Am Rande der Prozesse kam es zu antisemitischen Solidaritätskundgebungen, aber auch zu Boykottaufrufen gegen den Regisseur und seine späteren Filme.[28]

Harlans Jud Süß schildert in grotesker antisemitischer Verzerrung Aufstieg und Fall des Hofjuden Joseph Süß Oppenheimer (geb. 1698 in Heidelberg, gest. 1738 in Stuttgart) – ein Stoff, den zuvor schon Wilhelm Hauff in einer Novelle (1827) und Lion Feuchtwanger in einem Roman (1925) bearbeitet hatten und der 1934 von Lothar Mendes in Großbritannien verfilmt wurde, mit dem dorthin emigrierten Conrad Veidt in der Titelrolle. Der Fokus auf Joseph Süß Oppenheimer in verschiedenen historischen Epochen ist insofern interessant, als er, wie Selma Stern in ihrer Geschichte des Hofjuden feststellt, der »erste und bis auf Lassalle praktisch einzige Jude« war, der, »wenn auch in begrenztem Bereich, in den Gang der deutschen Geschichte« eingegriffen hat. Süß, führt Stern weiter aus, sei »das erste Beispiel eines deutschen Juden in der Politik, der erste jüdische Repräsentant des neuen, aufgeklärten europäischen Geistes. Als erster Jude stieg er in der Gunst eines Fürsten vom Händler und Bankier zum Wirtschaftspolitiker und vom Staatswirtschaftler zum weithin bekannten Staatsmann auf. Als erster Jude unternahm er es, nicht nur die Wirtschaft eines Staates, sondern dessen gesamte politische Struktur zu transformieren.«[29] Wie vor ihr schon die Jewish Encyclopedia von 1916, so bezeichnet auch Selma Stern seine Verurteilung und Hinrichtung nach dem plötzlichen Tod Herzog Karl Alexanders von Württemberg als »Justizmord«.[30]

»Die im Film geschilderten Ereignisse beruhen auf geschichtlichen Tatsachen«, teilt ein Zwischentitel den Zuschauern zu Beginn von Jud Süß mit. (Nach Kriegsende beharrte Harlan, etwa in einem offenen Brief an Lion Feuchtwanger, zur eigenen Verteidigung darauf, dass er sich an die historischen Fakten gehalten habe.)[31] Die Handlung des Films ist folgende: Joseph Süß Oppenheimer erhält als erster Jude die Erlaubnis, nach Stuttgart zu reisen, indem er dem Herzog von Württemberg verspricht, Schmuck zu besorgen. Er versteht es, sich als dessen Finanzminister eine Machtstellung aufzubauen. Seine jüdische Tracht gibt er dafür auf und kleidet sich wie ein besonders gepflegter Höfling. Süß Oppenheimer macht sich systematisch alle Schwächen des Herzogs zunutze, um Juden in der Residenz anzusiedeln, seinen Herrn mehr und mehr mit seinem Land zu entzweien und ihn an sich und die Juden in der Stadt zu binden. Um die Schulden des Herzogs bei ihm zu tilgen, erfindet er Weg- und Brückenzölle; gleichzeitig führt er Karl Alexander schamlos die jungen Frauen der Stadt zu. Beides bringt den Herzog mehr und mehr in Konflikt mit den Landständen, der politischen Vertretung der Bürger Württembergs. In dieser Situation schlägt Süß ihm vor, die bisher gültige Landständische Verfassung außer Kraft zu setzen, und nutzt den dadurch entstehenden Aufruhr, um seine Macht und die der Juden in der Residenz zu befestigen. Mit anderen Worten: Der Jude Süß ist Motor des bösen Geschehens – er wird für eine ungerechtfertigte Hinrichtung verantwortlich gemacht, vor allem aber vergewaltigt er Dorothea, die Tochter des Landschaftskonsulenten Sturm,[32] nachdem sie seine Avancen zurückgewiesen hat –, der Herzog dagegen, schwach und verführbar, folgt widerwillig den Einflüsterungen seines Ratgebers. Am Ende des Filmes, nach dem plötzlichen Tod des Herzogs, wird Süß hingerichtet.

 

Harlans Jud Süß will bei den Zuschauern vor allem starke Gefühle moralischer Empörung erzeugen. Bereits seine Körperhaltung und Gestik sollen die Unaufrichtigkeit des Juden verraten. Süß’ Boshaftigkeit wird vielleicht am anschaulichsten in einer Nebenhandlung dargestellt: seiner Rache an einem Schmied, der sich seinen finanziellen Erpressungen nicht beugen will. Zuerst lässt er dessen Haus wie eine Puppenstube halbieren. Dann überzeugt er den Herzog in einer günstigen Stunde, den Schmied zu bestrafen – mit dem Tod durch den Strang.

Doch Harlan beschränkt sich nicht darauf, Süß als Betrüger, Erpresser und spitzfindigen Bösewicht darzustellen. Die dramatische Spannung des Films wird erzeugt durch die Art und Weise, in der Süß sein erotisches Interesse an Dorothea Sturm auslebt. Er versucht sie sich erst durch Charme, dann mit Geld und schließlich durch Erpressung gefügig zu machen. Nach einer besonders grausamen Erpressungsszene – Süß will Dorothea zum Beischlaf zwingen, indem er ihren geliebten Mann foltern lässt und sie seinen Schreien aussetzt – vergewaltigt er sie und treibt sie damit, der Logik des Films zufolge, in den Selbstmord.

Diese Szene ist der Höhepunkt einer Reihe von Untaten, die Süß schließlich eine Anklage wegen »Erpressung, Wucher, Ämterhandel, Unzucht, Kuppelei und Hochverrat«[33] einbringen. Der Gerichtsvorsitzende verliest sie zunächst mit milder Stimme, die er deutlich hebt, als er hinzufügt: »Aber weit größer scheint mir die Schuld des Juden, wenn man sie an der Schande, dem Schaden, dem Leid ermisst, die unser Volk durch ihn an Leib und Seele erlitten hat. Und darum meine ich, jetzt sollte der sprechen, der am tiefsten gekränkt und beleidigt worden ist.«[34]

Es folgt eine Szene, die explizit Moral thematisiert. Der Vater von Dorothea, Landschaftskonsulent Sturm, ergreift das Wort und wendet sich leise an das Gericht: »Ihr Herren, nicht Vergeltung, sondern nur, was rechtens ist!« »Sprecht nur frei, Sturm«, erwidert der Vorsitzende, »Ihr habt das größte Leid erfahren und füglich das größte Recht zu richten.« Darauf Sturm pathetisch: »Leid spricht nicht Recht! Auge um Auge, Zahn um Zahn – das ist nicht unsre Art. Fragt nur das alte Reichskriminalgesetz, da steht’s für alle Ewigkeit: ›So aber ein Jude mit einer Christin –‹« An dieser Stelle reicht Sturm das Gesetzbuch dem Vorsitzenden, der den entscheidenden Passus vorliest: »So aber ein Jude mit einer Christin sich fleischlich vermenget, soll er durch den Strang vom Leben zum Tode gebracht werden.« Die Worte des Gerichtsvorsitzenden leiten über zur Stimme des Henkers, der auf dem Marktplatz vor versammeltem Volk das Urteil verkündet: »So aber ein Jude mit einer Christin sich fleischlich vermenget, soll er mit dem Strang vom Leben zum Tode gebracht werden, ihm zur wohlverdienten Strafe, jedermann aber zum abschreckenden Exempel.«

Am Rande sei erwähnt, dass diese Begründung im tatsächlichen Urteil aus dem Jahre 1738 nicht auftaucht. Hier werden nur sehr allgemein »die an Herrn und Land verübten verdammlichen Misshandlungen« angeführt.[35] Lion Feuchtwanger beschreibt die Urteilsverkündung in seinem historischen Roman lapidar wie folgt: »Süß hört in monotonem Wechsel Landschaden, Plünderung, Beraubung, Hochverrat, Majestätsverbrechen, Staatsverbrechen und den Schluß, daß er mit dem Strang vom Leben zum Tod solle hingerichtet werden.«[36]

In der Wiener Library findet sich ein Programmheft zur Aufführung des Films im Hamburger UFA-Palast, das die Moral der Geschichte kurz und prägnant zusammenfasst: »Der Jude hatte – was er zu allen Zeiten vergaß – nicht mit dem gesunden Volkskern gerechnet. Als er, der, um ins Land hereinzukommen, den Judenbann [ein Einwanderungsverbot für Juden] umgangen hatte, seine...

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