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E-Book

Ansteckendes Lernen

Rückblick auf unbeschulte Jahre

AutorMary Griffith
Verlagtologo Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl150 Seiten
ISBN9783940596574
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Jetzt, da das aktive Homeschooling für unsere Familie zuende geht, habe ich festgestellt, dass ich über die Langzeitwirkungen nachdenke. Wie unterscheide ich mich von der Person, die ich gewesen wäre, wäre ich keine Homeschool-Mutter gewesen? Wie haben sich meine Interessen und Werte verändert, weil unsere Kinder zuhause gelernt haben? Wie unterscheiden sich meine Kinder von ihren gleichaltrigen Freunden?' In Ansteckendes Lernen hält Mary Griffith Rückschau auf das Lernen ihrer Kinder. Leicht und Humorvoll macht sie sich Gedanken über Lesen und Schreiben, kleine und große Sorgen und über Ausbildung und Karriere.

Mary Griffith schreibt seit 20 Jahren Bücher zum Lernen ohne Schule. Ihr erstes Buch, The Homeschooling Handbook : From Preschool to High School, wird seit 1997 immer wieder neu aufgelegt.

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Leseprobe

Lernen von meiner Bildungsgeschichte


Szenen aus einem Leben in Schulen


Vor 10 oder 12 Jahren sagte eine Freundin im Alter meiner Mutter, die ein paar Ausgaben des Homeschooling-Newsletters lesen wollte, den ich damals mit her­ausgab: »All diese Leute scheinen ihre Entschei­dungen auf der Grundlage dessen zu treffen, was sie als Kinder erlebt haben«. Sie hielt das für merkwürdig, für ein Zeichen einer weit verbrei­teten Neu­rose unter Homeschooling-Eltern, aber ich dachte immer, das sei eine Tatsache, die so offensichtlich sei, dass ihre bloße Erwähnung einer Doppelaussage glich. Natürlich sind wir Produkte unserer Ver­gangenheit. Und natürlich treffen wir Entscheidungen für unsere Kin­der basie­rend auf unseren eigenen Erfahrungen. Wie könnten wir nicht?

Meine eigene Ausbildung legte zweifelsohne den Grundstein dafür, dass ich eine Homeschooling-Mutter wurde. Nach den meisten gängi­gen Maßstäben war ich der Ausbund eines erfolgreichen Schülers: Durchschnittsnoten immer eine glatte 4.01 (in dieser längst vergange­nen Zeit, ehe Fortgeschrittenen- und Leistungskurse einen Noten­durchschnitt von 4.0+2 allgegenwärtig machten), in der Endrunde bei National Merit3, 99% der Punkte im Studienzulassungstest erreicht, ein akademisches Stipendium für die Universität – alles, was das Herz eines stolzen Schulbeamten erfreute und die Tugenden des örtlichen öffent­lichen Schulsystems aufzeigte.

Ich lernte eine Menge aus meiner Schulzeit. Aber was ich lernte war nicht so sehr das, was unterrichtet werden sollte. Es waren die offen­sichtlichen Nachteile des schulischen Lernens, die die meisten von uns schon früh in unserer Schülerlaufbahn kennenlernten – die Zerstücke­lung von Wissen in abstrakte kleine Pakete »altersgerechten« Materials über das hinaus wir nicht vor dem nächsten Jahr oder der Mittelstufe oder irgendwann anders als jetzt lernen durften, die sozialen Auswir­kungen dessen, dass wir so viel Zeit mit so vielen Gleichaltrigen und so wenigen Erwachsenen verbringen, die Kultivierung von Gehorsam und Konformität.

Aber es gab auch subtilere Lektionen über das Lernen und darüber, was Ler­nen war und was nicht, darüber, was die Gesellschaft an Indivi­duen schätzt und was wir an uns selbst schätzen.

Es dauerte Jahre, bis ich das meiste, was ich in der Schule gelernt hatte, wieder verlernt hatte.

Stellen Sie sich mein sechs Jahre altes Ich vor – sehr schüchtern, aber aufge­regt und erwartungsvoll, in die Schule zu kommen. Nun muss man be­denken, dass in den späten 1950ern und den frühen 1960ern die Kultur sich noch nicht auf ihren heutigen Stand entwickelt hatte. Kin­dergartenkinder lernten noch die Farben und machten Mittagsschläf­chen und spielten mit Bauklötzchen und kletterten auf Klettergerüste. Die aufre­gende Sache an der ersten Klasse war, dass wir wirklich anfan­gen wür­den, wichtige Dinge wie Buchstaben und Zahlen zu lernen. Ei­nes Frei­tags, nach ein paar Monaten des Lernens, wie wir mit den di­cken grü­nen Bleistiften auf unserem linierten, rauen Papier unsere Buchstaben sauber schrieben, sagte uns Mrs. Olsen, dass am nächsten Montag »der Tag« wäre – am Montag würden wir lernen, wie man liest und schreibt.

Ich ertrug das Wochenende ungeduldig. Ich konnte es nicht erwar­ten, das Geheimnis zu erkunden, das die Tür zu so vielen Mysterien der Erwachsenenwelt öffnen würde.

Endlich kam der Montag und ich war bereit für die große Enthül­lung.

Mrs. Olsen ging zur Tafel – wir alle waren bereit mit unserem rauen Papier und den klobigen Stiften – und sagte, dass wir Lesen und Schrei­ben ler­nen würden, wenn wir sorg­fältig alle Schritte richtig aus­führten.

Der erste Schritt war, eine vertikale Linie zu zeichnen. Dann muss­ten wir eine kürzere, horizontale Linie an ihren Boden malen. Als nächstes kamen zwei Kreise, an deren unterem Ende zwei Bögen hinzu­gefügt wurden und der entstandene Leerraum ausgefüllt. Dann kam eine weitere senkrechte Linie, mit zwei weiteren kleinen Linien, die aus ihrer Mitte heraus einen Winkel bildeten.

»Da!«, sagte Mrs. Olsen stolz »ihr habt euer erstes Wort geschrieben: ihr könnt jetzt lesen und schreiben.«

Ja, tatsächlich, da war es: ein »LOOK« in Großbuchstaben mit klei­nen Augen in die Os gemalt – ein süßes aber dämliches visuelles Wort­spiel, mit dem unsere eigentliche akademische Karriere beginnen sollte.

Definitiv ein Wort. Und ich folgte ganz bestimmt all den Anweisun­gen, die mir gegeben worden waren, um es selbst aufzuschreiben. Aber wie ergab sich daraus nun Lesen und Schreiben? Ich war empört! Alles was ich getan hatte, war ein paar Linien zu malen, genau wie mir gesagt wurde. Und sie sagte mir, dass ich dadurch lesen könne? Wen wollte sie auf den Arm nehmen? Ich konnte den ganzen Schwin­del nicht glauben. Ich verstand nicht mehr als ich verstanden hatte, ehe ich diese Linien so sorgfältig gemalt hatte. Wo war die große Offenba­rung, auf die ich ge­wartet hatte?

Bis zum tatsächlichen Lesen dauerte es natürlich noch Monate und Lesenlernen war der allmähliche Vorgang, der es für jeden ist.

In der vierten Klasse hatten wir eine Referendarin. Sie war jung und enthusiastisch und jeder wollte neben ihr sitzen in der Lesegruppe oder ihr mit ihren vielen Pinwandaushängen helfen, die sie erstellte. Einer dieser Aushänge, der für die letzten paar Wochen des Schuljahres aus­hing, war ein »wachsender« Blumengarten. Sie machte Blumen aus Tonpapier, für jeden von uns in der Klasse in einer einzigartigen Farb­kombination, die am unteren Ende der Pinwand zusammengedrängt waren. Die Stiele der Blüten waren aus grünem Zwirn gemacht und wurden für jeden Test, jede Stegreifaufgabe und jede Hausaufgabe, die wir zu 100% richtig hatten, um zwei Zoll4 verlängert.

Alle paar Tage aktualisierte sie die Blumen. Viele wuchsen ansehnli­che zwei bis vier Zoll5 pro Woche. Diejenigen unter uns, die gute Buch­stabierer waren, die alle Tests und Vokabel-Aufgaben und die abschlie­ßenden Buchstabiertests jede Woche mit links schafften und die keinen Ärger hatten mit den häufigen Rechentests, hatten Blumen, die einen Fuß6 oder mehr pro Woche in die Höhe schossen. Und dann gab es da das Häufchen Blumen, die am Boden sitzen blieben, immer noch am Anfang feststeckten, unbeweglich für das gesamte Leben des Papiergar­tens.

Während sie die Stiele verlängerte und die Blumen bewegte, ermun­terte uns die Referendarin, Mutmaßungen anzustellen, welche Blume welchem Schüler gehörte. Interessanterweise waren einige der Schüler, die nie überdurchschnittliche Noten bekamen, davon überzeugt, dass einige der größten Blumen ihre waren. Einige Auseinandersetzungen darüber, welche Blume wessen war, entwickelten sich sehr hitzig, sogar unter denjenigen, die nicht mehr als ein oder zwei ausgezeichnete No­ten in diesem Monat hatten. Irgendwie ging die Tatsache verloren, dass es eine Beziehung gab zwischen den aktuellen Noten und der Höhe je­der Blume.

Endlich kam der Tag der Enthüllung. Die Referendarin nannte die Farbkombination und gab den Namen des Schülers bekannt, zu dem sie gehörte, angefangen mit der verkümmerten Reihe am unteren Ende. Je­der Schüler musste dann zu der Pinnwand gehen und seine Blume ho­len. Viele waren überrascht, wie groß – oder wie klein – ihre Blumen waren. Ich war es nicht. Meine war die Blume, die über den oberen Rand der Pinnwand hinausgewachsen war, die Wand hinauf und auf die Schall­schutzplatten an der Decke. Das war ungefähr die Zeit, als ich an­fing zu glauben, dass meine Noten bedeuteten, ich sei schlauer als die anderen in meiner Klasse, was mich zu einem besseren Menschen als je­den an­deren in meiner Klasse machte. Natürlich bedeutete das auch, dass es sehr wichtig wurde, meine Noten beizubehalten – wenn mein Selbst­wert durch meine »Schlauheit« begründet wurde und Schlausein abhän­gig war von meinen Noten, war letzten Endes jedes A7 entschei­dend.

Das war auch die Zeit, in der ich anfing, die Person, die ich in der Schule war, nicht besonders zu mögen.

Schauen wir weiter in die fünfte Klasse. Für dieses Ereignis zeichnet meine Mutter verantwortlich, die die sonderbare Idee hatte, sie müsse uns sagen, was unsere Lehrer in den Elterngesprächen über uns erzähl­ten. Ich, das älteste Kind meiner Familie, war damals ein typischer Stre­ber, eines dieser unausstehlichen Kinder, die sich bei jeder Gelegenheit melden und lauter Einser bekommen und die Lernkurve aller anderen verdarben. Mein Bruder, anderthalb Jahre jünger, war klüger aber fau­ler – er hatte bessere Dinge zu tun als sicherzustellen, dass all seine Schularbeiten perfekt waren. Mama kam nach Hause von den Gesprä­chen und verkündete unsere letzten erreichten Testergebnisse: Eric war eindeutig intelligenter als seine Arbeit zeigte und brachte nicht seine volle Leistung. Ich hingegen war so was wie eine Ausnahmeerschei­nung. Meine Testergebnisse sagten, dass meine Schulaufgaben besser waren, als ich sie zu erfüllen vermochte – die Tests zeigten, dass ich »mein Potential übertraf«. Vernünftigerweise hielt meine Mutter dies für »unbezahlbar«, auch wenn ich diesen Wortwitz damals nicht...

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